Die Ära Putin: Macht und Ohnmacht
Neue Studien zur russischen Außen- und Innenpolitik
Ein Sammelband beleuchtet Aspekte der Putinschen Außenpolitik.
Andrew Barnes zeigt, dass die innenpolitische Transformation Russlands
nicht unbedingt im Sinne von Demokratie und Marktwirtschaft erfolgt.
Lange Zeit hat die deutsche Öffentlichkeit die Entwicklungen in Russland kaum zur Kenntnis genommen. Doch seit einiger Zeit ist der Nachbar im Osten nun wieder stärker in das Blickfeld gerückt – allerdings unter wenig erfreulichen Umständen. Russland erscheint heute vielen als wiedererstandene Großmacht, als Staat, der vom geraden Weg der Demokratie abgekommen ist, der in den Nachbarländern autoritäre Kräfte unterstützt und seine politischen Interessen mit Energieerpressung durchsetzt. Solche holzschnittartigen Darstellungen, die sich mitunter in der Tagespresse finden, geben den politischen Prozess in Russland aber nur unvollkommen wieder, und man ist gut beraten, auf Studien zurückzugreifen, die die russische Entwicklung differenzierter betrachten. Zwei solcher Arbeiten sollen hier besprochen werden: ein Sammelband, herausgegeben vom Österreichischen Institut für Internationale Politik, der Russlands aktuelle Rolle in der internationalen Politik analysiert, und eine Monographie, in der Andrew Barnes untersucht, wie die heutigen Besitz- und Kräfteverhältnisse durch die Umverteilung gesellschaftlichen Vermögens in den neunziger Jahren vorgeprägt wurden.
Der Sammelband des Österreichischen Instituts für Internationale Politik mit dem programmatischen Titel „Russlands Rückkehr“ will umfassend Auskunft über die Putinsche Außenpolitik geben, ihre Machtressourcen, ihre Handlungsfelder und ihre Optionen ausleuchten. Vier Autoren unternehmen es, diese schwierige Aufgabe zu lösen: Gerhard Mangott wählt einen neorealistischen Ansatz und interpretiert russische Außenpolitik im Kontext der politischen, ökonomischen, demographischen und militärischen Möglichkeiten. Dmitrij Trenin, der stellvertretende Leiter des Moskauer Carnegie-Zentrums, skizziert auf knappem Raum den außen- und sicherheitspolitischen Ansatz der Putinschen Führung mit Blick auf die weitere Entwicklung über das Jahr 2008 hinaus. Die beiden im Ansatz durchaus gegensätzlichen Gesamtentwürfe werden durch zwei Spezialstudien ergänzt: Martin Senn behandelt die US-Initiative zum Aufbau eines Nationalen Raketenabwehrsystems im Kontext der russisch-amerikanischen Beziehungen, und Heinz Timmermann schildert die Entwicklung der Beziehungen zwischen Russland und der EU bis hin zu der Konfrontation anlässlich der „Orangenen Revolution“ in der Ukraine.
Die Beiträge sind heterogen und auch analytisch nicht alle von gleichem Gewicht. Zweifellos verdient die Ausarbeitung Gerhard Mangotts, die fast die Hälfte des Buches ausmacht, besondere Aufmerksamkeit. Mangott trägt im ersten Schritt Informationen über die Machtressourcen zusammen, über die Russland verfügt. Er zeigt die ökonomische Schwäche bei gleichzeitigem Energiereichtum, die erheblichen demographischen Probleme und die Misere des Militärs. Der Autor zeichnet mit grobem Stift und wenigen Strichen ein plastisches Bild russischer Macht und Ohnmacht. Aus der Schwäche der Machtressourcen schließt Mangott mit Recht, dass „die Optionen für die Außenorientierung Russlands äußerst beschränkt sind“. In der Konsequenz sieht er drei mögliche strategische Varianten: die Konzentration der Außenpolitik auf die Reintegration des postsowjetischen Raums, die Bildung „antihegemonialer Allianzen“ und den Aufbau stabiler Kooperationsstrukturen mit dem OECD-Raum. Diese Optionen analysiert Mangott in den folgenden Abschnitten, um herauszuarbeiten, dass die wechselseitige Verflechtung zwischen Russland und den Staaten des OECD-Raums – wohlweislich vermeidet der Autor so unscharfe und ideologisch aufgeladene Begriffe wie westlich oder der Westen – bei aller Interessenkonkurrenz so eng ist, dass eine erfolgreiche Außenpolitik auf beiden Seiten ein hohes Maß an kooperativer Konflikt- und Interessenbearbeitung erfordert.
Dmitrij Trenin konzentriert sich in seinem Beitrag darauf, den Wandel der Außen- und Sicherheitspolitik unter Putin darzustellen und nach Ursachen für die Neuorientierung nach 2000 zu fragen. Er identifiziert drei Faktoren, die auf das außenpolitische Denken Putins einwirken: die Bürgerkriegserfahrung in Tschetschenien, das Ziel der inneren Modernisierung und die Absicht, Russland wieder zu einer starken Macht zu machen. Putin, so unterstellt Trenin, nimmt Russland als eine Nation im Krieg wahr, die wirtschaftlich, politisch und militärisch stark genug sein soll, um sich gegen die neuen Bedrohungen des Terrorismus und des religiösen Extremismus zur Wehr zu setzen. Diese Auffassung prägt, so Trenin, wesentlich das außenpolitische Denken: Terrorbekämpfung, Energiepolitik und Geopolitik im postsowjetischen Raum sind die wichtigsten Themen des außenpolitischen Diskurses. Doch Trenin unterstreicht gegenüber einer verbreiteten russischen Machtnostalgie, dass Außenpolitik sich an den Erfordernissen der Gegenwart orientieren muss, nicht an den Erinnerungen der Eliten. Daher plädiert er vehement für eine Integration in den Westen – in die moderne Welt.
Während die Beiträge Mangotts und Trenins jeweils einen Gesamtentwurf von Außenpolitik versuchen, konzen-trieren sich Martin Senn und Heinz Timmermann auf Teilaspekte: das sicherheitspolitische Verhältnis zu den USA, wie es sich insbesondere nach Aufkündigung des ABM-Vertrags darstellt, und die Entwicklung der Beziehungen zur Europäischen Union. Beides sind substanzielle Analysen, die durchaus ihren eigenen Wert haben. Die vier Beiträge sind denn auch nicht zu Unrecht in einem Band zusammengefasst. Gewiss sind die einzelnen Aufsätze in Ansatz und Reichweite der Fragestellung recht unterschiedlich, dennoch vermitteln sie in ihrer Heterogenität einen guten Eindruck von den Kräften und Konzepten, die die russische Außenpolitik in den letzten Jahren beeinflusst haben.
Der Kampf ums Eigentum
Behandelt der Sammelband „Russlands Rückkehr“ die internationale Rolle des Putinschen Russlands, geht es Andrew Scott Barnes um die inneren Verhältnisse. Dabei – und das macht seine Studie so interessant – wendet er sich explizit gegen den traditionellen Ansatz der Transformationsforschung, die Einführung demokratischer Strukturen und den Übergang zur Marktordnung als dominante Prozesse der Transformationsphase anzunehmen. Barnes stellt demgegenüber den Prozess der Umverteilung von Besitz mit allen seinen politischen und sozialen Konsequenzen in den Vordergrund. Damit öffnet er den Blick für eine Analyse des politischen Prozesses, die sich nicht mehr auf Kategorisierungen wie demokratisch und undemokratisch beschränkt, sondern nach Triebkräften und Regeln fragt. Auf diese Weise kann er das Wesen der politischen und sozialen Konflikte herausarbeiten, die dem Herrschaftssystem des modernen Russlands seine Gestalt geben.
Die Geschichte Russlands nach 1992 ist für Barnes die Geschichte eines ungeregelten Wettbewerbs um den Erwerb von Produktiveigentum. Ausgehend von einer Darstellung der Eigentumsverhältnisse in der Sowjet-union zeichnet die Arbeit nach, wie bereits in der Phase der Perestrojka im halblegalen Raum Immobilien und Unternehmen in genossenschaftliche und später auch in private Hände übergingen, ohne dass die Gorbatschow-Administration diesen Prozess wirksam kontrollierte. Nach der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 initiierte die Regierung Jelzin/Gajdar mit ihrer Reformpolitik einen Privatisierungsboom, der einen Großteil der russischen Unternehmen in die private Hand überführte – auch wenn dies in vielen Fällen eine Insider-Privatisierung war, in der Belegschaften und ehemalige Manager die Kontrolle über den Betrieb erlangten. Die Jahre von 1994 bis 1997 brachten dann nicht nur Pfandauktionen, in denen die großen Roh- und Brennstoffgiganten der Sowjetzeit in private Hände übergingen, die Phase war auch gekennzeichnet durch einen heftigen Wettbewerb, bei dem viele der frisch privatisierten Unternehmen den Besitzer wechselten. Barnes kann zeigen, wie sich der Wettbewerb um Kapital entwickelte und welche Unternehmensgruppen an diesem Prozess beteiligt waren. Die Finanzkrise 1998 und die Etablierung der Putin-Administration 1999/2000 schufen abermals neue Bedingungen und veränderten die Kräfteverhältnisse in Politik und Finanzwelt ganz erheblich. „Die Erde bewegt sich“ nennt Barnes dieses Kapitel. Das trügerische Gleichgewicht, das sich nach diesem Umbruch etabliert, wird schließlich 2003 durch den Chodorkowski-Prozess und die Zerschlagung des erfolgreichsten Mineralölkonzerns wieder gestört, so dass eine neue Phase des Wettbewerbs beginnt, in der nun verstärkt staatliche Akteure auftreten.
Andrew Barnes zeigt, wie Politik und Unternehmergruppen in den immer neuen Umverteilungsprozessen zusammenwirken, wie Konkurrenz und Eigentumskonflikte bis heute den Charakter des politischen Systems bestimmen. Die Schaffung einer konsolidierten Demokratie und die Etablierung einer Marktordnung, die allen Marktteilnehmern gleichen Zugang gewährt – das sind eben nicht die Ziele, die die politischen Kräftegruppen in Russland verfolgen. Indem Barnes die russische Transformation als fortgesetzte und konfliktreiche Umverteilung von Eigentum interpretiert, stellt er die Konzepte der hergebrachten Transformationsforschung entschieden in Frage. Dies hat in den letzten Jahren schon eine Reihe von Wissenschaftlern getan, die ihre empirischen Befunde nur schwer mit den Annahmen der Transformationstheorie in Übereinstimmung bringen konnten. Andrew Barnes liefert mit seiner spannenden Darstellung weitere Argumente dafür, noch einmal gründlich über den Charakter der Übergangsprozesse in Osteuropa nachzudenken.
Gerhard Mangott, Dmitrij Trenin, Martin Senn, Heinz Timmermann: Russlands Rückkehr. Außenpolitik unter Vladimir Putin. Nomos (= Wiener Schriften zur Internationalen Politik. Band 7), Baden-Baden 2005. 265 Seiten, € 42,00.
Andrew Scott Barnes: Owning Russia: The Struggle over Factories, Farms, And Power. Cornell University Press, Ithaca, New York, London 2006. 273 Seiten, $ 35,00.
Dr. Henning Schröder ist apl. Professor an der Universität Bremen, Herausgeber der „Russlandanalysen“ und Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Russland /GUS der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Internationale Politik 7, Juli 2006, S. 128-130