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01. Mai 2004

Deutsches (Auslauf)Modell

Das Wirtschaftssystem hat sich schon viel stärker verändert als angenommen

Wenn man das „Deutsche Modell“ mit einem Haus vergleicht, dann sind lediglich die Außenmauern
– der institutionelle Rahmen – an Ort und Stelle geblieben. Der Rest wurde „entkernt“,
d.h. beim Arbeitsrecht und bei den sozialen Leistungen wurden bereits Einschnitte gemacht, die
eher an das angloamerikanische Modell erinnern. So hat sich das deutsche Wirtschaftssystem bereits
grundlegend gewandelt, ohne dass es die meisten gemerkt haben. Ob die bisher erfolgten
und die geplanten Veränderungen ausreichen, lässt sich nicht abschätzen. Eines ist jedoch klar:
Die Behauptung, Deutschland sei im Kern nicht reformierbar, ist bereits widerlegt.

Es dürften kaum Zweifel daran herrschen, dass die
deutsche Wirtschaft ihre ernsten Schwierigkeiten nur mit weit
reichenden strukturellen Reformen überwinden kann. Die
aktuelle Auseinandersetzung über Reformen und Reformstau
schafft jedoch oft mehr Verwirrung als dass sie Lösungen
anbietet.

Einerseits besteht ein breiter Konsens über die
Notwendigkeit von Reformen. Niedrige Wachstumsraten, die hohe
Sockelarbeitslosigkeit, hohe Lohnnebenkosten und die schlechte
Lage der öffentlichen Haushalte sind Grund zur Besorgnis.
Die Reformen der „Agenda 2010“ von Bundeskanzler
Gerhard Schröder, die im Dezember 2003 im
Vermittlungsausschuss beschlossen wurden, sind dabei ein
notwendiger, aber nicht hinreichender Schritt für die
Bewältigung dieser Probleme.

Andererseits zeichnet sich unter Experten und den
wesentlichen politischen Akteuren ein ebenso breiter Konsens
darüber ab, warum diese Probleme überhaupt entstanden
sind, und warum der deutsche Reformprozess so quälend
langsam ist. Faktoren, die einst nach dem Krieg als die
Stärken des „Deutschen Modells“ angesehen
wurden, werden jetzt als Schwächen verstanden, die
Deutschlands Fähigkeit behindern, sich schneller und
leichter an sich ändernde äußere Bedingungen
anzupassen, insbesondere an Zwänge, die von der
Globalisierung sowie von einer alternden Gesellschaft
ausgehen.

Zum Beispiel wird das dichte Unterholz aus Vorschriften und
Regelwerken, das in den goldenen Jahren des
„Wirtschaftswunders“ in den fünfziger und
sechziger Jahren emporgeschossen ist, jetzt als ein Hindernis
für die schnelle Entscheidungsfindung in Unternehmen
angesehen.

In der Politik hat sich ein System von ausgewogenen
Kräften und Gegenkräften etabliert, das Lobbyisten
und den Bundesländern Macht einräumt und dadurch die
Fähigkeit der Bundesregierung begrenzt, eigene radikale
Reformen durchzuführen. Im Hinblick auf die
Eindämmung extremistischer politischer Strömungen
wird dieses System weiter geschätzt, doch zunehmend auch
als ein Hindernis für eine wirkungsvolle politische
Entscheidungsfindung angesehen.

Da es einen Konsens darüber gibt, warum Reformen
erforderlich sind und was geändert werden müsste,
könnte man sich vorstellen, dass die Umsetzung notwendiger
Veränderungen eine recht einfache Angelegenheit sei. In
Wirklichkeit ist aber das Gegenteil der Fall.Bundeskanzler
Schröder musste viel politisches Kapital investieren, um
die (auf den ersten Blick bescheidenen) Änderungen der
Agenda 2010 durchzusetzen. Er musste sich in massiver Weise mit
Interessenverbänden von den Gewerkschaften bis zu
Lobbyisten herumschlagen, die entschlossen waren, die
Interessen ihrer Klientel und Auftraggeber zu verteidigen.

Dabei haben die Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 nur
den gestelzten und mit Scheuklappen behafteten Charakter der
Reformdebatte unterstrichen statt die Ziele und Richtung der
Reformen zu festigen.

Das wird deutlich, wenn man sich die ersten Reaktionen auf
die Einführung einiger Maßnahmen der Agenda 2010 zu
Beginn des Jahres 2004 ansieht. Gewerkschaften und
Interessengruppen der Pharmaindustrie werden nicht müde zu
behaupten, dass die Reformen die Grundlagen des hoch
gepriesenen Deutschen Modells unterminiert hätten. Dagegen
legen Ökonomen und Kommentatoren der deutschen und
ausländischen Presse gern einen angloamerikanischen
Maßstab an und kommen zu dem Schluss, dass die
Maßnahmen der Agenda 2010 nur ein kleiner erster Schritt
seien, denen Reformen in viel größerem Umfang folgen
müssten.

Der Konflikt über die Interpretation der Agenda hat in
eine neue Sackgasse bei der Reformauseinandersetzung
geführt, die es der Regierung noch mehr erschwert, neue
Schritte in Erwägung zu ziehen. Um aus dieser Sackgasse
herauszukommen, ist eine neue Perspektive nötig –
eine, die anerkennt, dass das Deutsche Modell sich schon weit
mehr verändert hat und auch noch verändern wird, als
im Allgemeinen erkannt wird.

Eine solche Perspektive unterstreicht, dass
Veränderungen des Deutschen Modells zur Anpassung an sich
ändernde internationale wirtschaftliche und
institutionelle Bedingungen möglich sind, und das Modell
im Gegensatz zu den Befürwortern eines angloamerikanischen
Vorgehens nicht gänzlich verworfen werden muss. Dieser
Zugriff auf die Reformen gibt auch Hinweise darauf, wie
künftig Reformen geschehen könnten, indem politische
und wirtschaftliche Faktoren identifiziert werden, die
Änderungen ermöglicht haben.

Die folgenden drei Beispiele geben einen Vorgeschmack
darauf, was ein solcher Blick zu Tage bringt. Sie zeigen vor
allem, dass das Deutsche Modell sich von innen verändert
und rücken einen Prozess ins Licht, den man mit 
„Entkernung“ treffend bezeichnen könnte.

Wenn man das Deutsche Modell mit einem Haus vergleicht, dann
sind in den letzten Jahren die Außenmauern – der
institutionelle Rahmen – an Ort und Stelle geblieben. Die
grundlegenden Strukturen der Regulierungen wie z.B. die
korporatistischen und selbstverwaltenden Strukturen vieler
Institutionen oder das Instrument der
Flächentarifverträge bleiben weiter erhalten.
Gleichzeitig haben sich jedoch „innerhalb“ des
Hauses die Dinge radikal verändert. Das sieht man jedoch
nur, wenn man die Türen öffnet und in das Modell auch
wirklich hineinschaut.

Unternehmen als Motor des Wandels

In Deutschland besteht „corporate governance“
aus einer sehr spezifischen Mischung aus
Unternehmensstrategien, Eigentümerstrukturen und
politischem Handeln, die man mit dem Begriff der
„Deutschland AG“ bezeichnet hat.

Die Deutschland AG hat einen wichtigen Platz in den
Erklärungen für die Geschäftsstrategien
deutscher Unternehmen eingenommen. Der niedrige
Eigenkapitalanteil von Unternehmen, der gegenseitige
Aktienbesitz zwischen Unternehmen und die personelle
Verflechtung von Managern haben über die Jahre hinweg ein
eng verflochtenes Netzwerk zwischen Unternehmen etabliert. Im
Zentrum derartiger Netze standen starke Finanzunternehmen wie
die Deutsche Bank und die Allianz Versicherung, die große
Anteile an den Industrieunternehmen in verschiedenen Formen
hielten.

Allerdings haben Deutschlands führende Unternehmen
schon vor mindestens zehn Jahren die Notwendigkeit erkannt, das
Deutsche Modell zwar nicht abzuschaffen, es aber doch so
anzupassen, damit die Verwendung angloamerikanischer
Geschäftspraktiken neben den traditionellen deutschen
ermöglicht werden konnten. Die Unternehmen handelten
aufgrund einer veränderten wirtschaftlichen Umwelt –
eine Anerkennung dessen, dass manche deutsche
Geschäftspraktiken, die zwar vielleicht für eine
geschützte Binnenwirtschaft angemessen waren, nicht mehr
für die Herausforderungen der wirtschaftlichen
Internationalisierung insbesondere der Kapitalmärkte
geeignet waren.

In den neunziger Jahren verlagerten Finanzunternehmen ihre
Geschäftsstrategien zunehmend in die Richtung von
Investmentbanking und spezialisierten Finanzdienstleistungen
und ließen somit ihre traditionelle Rolle der
Finanzierung und Überwachung der deutschen Industrie
hinter sich. Unternehmen begannen sich aus der gegenseitigen
Verflechtung in Aufsichtsräten zu lösen und setzten
auf Shareholder Value und eine aktive Position im
Übernahmemarkt.

Die früher starke Rolle von Vertretern deutscher Banken
in den Aufsichtsräten großer deutscher Firmen ist
dadurch deutlich zurückgegangen. In den fünfziger
Jahren hatte der Sprecher des Vorstands der Deutschen Bank,
Hermann-Josef Abs, bis zu 24 Sitze in Aufsichtsräten
großer deutscher Firmen inne. Heute sehen die
Unternehmensrichtlinien der Deutschen Bank ausdrücklich
vor, dass die Bank keine Aufsichtsratssitze von Firmen
außerhalb des Finanzsektors innehaben will. Zwischen 1992
und 1999 fiel der Anteil von Vorsitzenden von
Aufsichtsräten von 40 deutschen Großunternehmen, die
Vertreter von Banken waren, von 44 auf 23 Prozent.1

In diesem Zusammenhang hatte die Übernahme von
Mannesmann durch Vodafone Airtouch im Februar 2000 symbolischen
Charakter. Es war die erste erfolgreiche feindliche
Übernahme durch ein ausländisches Übernehmen.
Überdies leistete kein wichtiger Akteur aus Wirtschaft,
Gewerkschaften oder Politik ernsthaften Widerstand. Diese, wenn
auch noch eher verhaltene Akzeptanz angloamerikanischer
Geschäftspraktiken hatte die ironische Konsequenz, dass
Anfang 2004 der frühere Chef der IG Metall, Klaus Zwickel,
vor Gericht stand und sich dem Vorwurf ausgesetzt sah,
„unangemessen hohe“ Entschädigungszahlungen
für die Chefs von Mannesmann gebilligt zu haben.

Die Veränderungen innerhalb der Deutschland AG wurden
von der Politik durch die Verabschiedung einer Reihe von
Gesetzen zur Modernisierung der Finanzmärkte seit Mitte
der neunziger Jahre unterstützt. Die dazu notwendigen
Reformen sind noch lange nicht vollständig: die
jüngsten Debatten über die Standards guter
Unternehmensführung, über die Bezahlung der
Spitzenmanager und den Mannesmann-Prozess spiegeln nur ein paar
der vielen Posten wider, die auf der Liste unerledigter
Aufgaben zum Thema „corporate governance“ stehen.
Doch insgesamt legen es die weit reichenden Veränderungen
seit Anfang der neunziger Jahre nahe, dass sich in den
deutschen Vorstandsetagen mehr verändert hat als oft
gesehen wird.

Erstarrte Arbeitsmärkte?

Wenige Berichte über Deutschland von der
Europäischen Kommission, vom Internationalen
Währungsfonds (IWF), von der OECD oder anderen
internationalen Gremien haben in den letzten Jahren die
Gelegenheit versäumt, die Regulierung des Arbeitsmarkts
als ein Haupthindernis für Wachstum und Beschäftigung
zu bezeichnen. Rezepte für die Überwindung der
wirtschaftlichen Stagnation beginnen gewöhnlich mit
Vorschlägen zur Deregulierung des Arbeitsmarkts,
einschließlich des Aufbrechens der
Tarifverträge.

Zwar sind die Herzstücke dieses Modells noch immer
vorhanden – zentralisierte Lohnverhandlungen, sektoral
gegliederte Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände und ein
starkes Mitbestimmungsrecht –, doch unter der
Oberfläche hat sich viel verändert. Das gern benutzte
Bild von starken und machtbewussten Gewerkschaften, die die
Unternehmen fest im Griff haben, ist eine verzerrte Sicht.
Insbesondere große Unternehmen haben begonnen, sich
Gehälter und Arbeitsbedingungen für ihre
Beschäftigten nach ihren eigenen Bedürfnissen
zurechtzuschneidern statt nach den Vorstellungen der
Gewerkschaften.

Während der Rezession von 1992/93 sind fast eine halbe
Million Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe verloren
gegangen. Der Arbeitsplatzabbau wurde damals mit der Hilfe von
Gewerkschaften und Betriebsräten ausgehandelt. Seither hat
das „Aushandeln von Ausnahmen“ auf der Ebene des
Betriebs fast flächendeckend zu längeren (manchmal
auch kürzeren) Arbeitszeiten, Gehaltsreduzierungen und
flexiblerer Arbeitsorganisation in der ganzen Wirtschaft
geführt.

Bis heute hat etwa ein Drittel der Unternehmen betriebliche
Bündnisse für Arbeit unterzeichnet, die von den
Bestimmungen der Tarifverträge abweichen. Weitere 15
Prozent von Unternehmen ignorieren die Tarifverträge.2 Die
Gewerkschaften versuchen, diese Entwicklungen einzufangen,
indem sie die Tarifverträge für betriebliche
Vereinbarungen öffnen.

Die Unternehmen sind zudem immer weniger bereit, sich den
branchenweiten Tarifverträgen zu unterwerfen. Der Anteil
von Firmen, die Mitglied im Arbeitgeberverband und deshalb
verpflichtet sind, die Branchentarifverträge anzuwenden,
ist in Westdeutschland auf 45 Prozent gefallen. In den neuen
Bundesländern sind nur 23 Prozent der Unternehmen
tariflich gebunden.3

Selbst das besondere Kennzeichen der deutschen
Gewerkschaftsbewegung, die 35-Stunden-Woche, ist in
großen Bereichen aus der Realität verschwunden.
Studien zeigen, dass die Mehrheit der Angestellten in der
Autoindustrie nicht die 35-Stunden-Woche einhält, sondern
zur 40-Stunden-Woche zurückgekehrt ist. Das spiegelt einen
generellen Trend wider: Heute arbeitet die Mehrheit der
Vollzeitbeschäftigten wieder 40 Stunden und mehr.4

Trotz – oder eher wegen – der Bedeutung dieser
Entwicklungen sind die Gewerkschaften im Großen und
Ganzen nicht bereit, öffentlich deren Existenz
einzuräumen. Eher versuchen sie, in der
Öffentlichkeit ihre traditionelle Stärke zu
demonstrieren und politischen Druck auszuüben. Sie
verhindern nur selten betriebliche Maßnahmen zur
Kostensenkung, doch sind sie auch nicht ehrlich genug,
einzuräumen, dass derartige heimliche Abmachungen auf
Mängel im Deutschen Modell der Arbeitsbeziehungen und in
ihrer eigenen Autorität hinweisen. Der fehlgeschlagene
Streik der IG Metall für die 35-Stunden-Woche in den neuen
Bundesländern Mitte 2003 zeigte, wie wenig gerade diese
Gewerkschaft die veränderte Realität zur Kenntnis
nehmen will.

Der Arbeitsmarkt, der inzwischen entstanden ist, ist weniger
reguliert als allgemein angenommen wird. Während
Kündigungen noch immer von strengen Arbeitsgesetzen
geregelt werden, wird die Mauer zwischen Geschützten und
Schutzlosen immer höher. Der Beschäftigungszuwachs
der letzten Jahre hat bei Arbeitnehmern mit Zeitverträgen,
bei jenen in Zeitarbeitsagenturen und bei unsicheren
Beschäftigungsverhältnissen stattgefunden. Über
ein Fünftel der Beschäftigten unter 30 hat einen
Zeitvertrag.5 Etwa 6,7 Millionen Beschäftigte haben so
genannten Minijobs – Arbeitsverträge mit einem
niedrigen Lohn, der zu einem großen Teil von
Sozialabgaben befreit ist. Die Deregulierung breitet sich von
den Rändern in die Mitte des Arbeitsmarkts aus, und die
Gewerkschaften haben wenig Macht, daran etwas zu
ändern.

Liberaler Wohlfahrtsstaat

Es haben zwar nur wenige bemerkt, aber der ehemals
großzügige deutsche Wohlfahrtsstaat ist dabei, sich
radikal zu verändern. Dies wird besonders deutlich, wenn
man sich die Behandlung der Arbeitslosen genauer ansieht.

Jahrzehntelang besaß Deutschland eine Mischung aus
einem angloamerikanischen Unterstützungssystem für
die bedürftigen Armen und einem aus Beiträgen
finanzierten Versicherungssystem, das die Transferzahlungen
während Arbeitslosigkeit und Alter an den früheren
Lohn knüpft.

In der Vergangenheit lag der Schwerpunkt eindeutig auf den
Versicherungsleistungen, die auf dem Konzept der
„Lebensstandardsicherung“ beruhten. Wenn einmal ein
gewisser Lebensstandard erreicht war, beispielsweise der eines
Facharbeiters, garantierte das System, dass dieser Standard
auch in Zeiten der Arbeitslosigkeit und des Alters
aufrechterhalten werden konnte. Das Arbeitslosengeld wurde
demnach anhand des vorherigen Einkommens berechnet und
unabhängig vom Vermögen des Arbeitslosen. Die Zukunft
sieht ganz anders aus.

Die Hartz-IV-Reformen der Agenda 2010, die im Januar 2005
eingeführt werden sollen, bedeuten die radikalsten
Veränderungen seit Jahrzehnten auf diesem Gebiet: Sie
vereinfachen das System der Arbeitslosenunterstützung,
koppeln die Höhe der Unterstützung vom vorherigen
Einkommen für Millionen von Beschäftigten ab und
erhöhen den Druck auf die Arbeitslosen, eine Arbeit zu
finden.

Die dem zugrunde liegende Philosophie des Förderns und
Forderns ist zuvor bereits von der britischen Regierung unter
Premierminister Tony Blair genutzt worden. Der Staat sorgt
für Unterstützung und Förderung, fordert aber
auch persönliches Engagement; arbeitslose Menschen
riskieren Kürzungen in der Unterstützung, wenn sie
Arbeitsangebote ausschlagen und müssen bei ihrer
Arbeitssuche mobiler werden.

Die maximale Dauer des vollen, vom Einkommen abhängigen
Arbeitslosengelds wird auf ein Jahr (18 Monate für
diejenigen, die älter als 55 Jahre sind) gekürzt,
während die neue Unterstützung für die
Langzeitarbeitslosen feste Zahlungen in einer Höhe
vorsieht, die sich auf dem niedrigem Niveau der Sozialhilfe
befindet. Darüber hinaus werden solche
Langzeitarbeitslose, die wesentliche Ersparnisse besitzen oder
Familienmitglieder mit angemessenem Einkommen haben,
überhaupt keine Unterstützung beziehen.

Von 2005 an werden diejenigen Arbeitslosen, die eine
Unterstützungsleistung bekommen, die sich an ihrem
vorherigen Gehalt orientiert, in der Minderheit sein.
Angesichts des im internationalen Vergleich sehr großen
Anteils von Langzeitarbeitslosen unter den Arbeitslosen
insgesamt wird die Mehrheit der gegenwärtig Arbeitslosen
eine feste Minimalunterstützung beziehen. Die Kommission
zur Reform der Gemeindefinanzen, die diesen Plan entworfen hat,
schätzte, dass zu dieser Gruppe 2,6 Millionen
Arbeitssuchende gehören, von den 4,3 Millionen
Arbeitslosen insgesamt.6

Diese düsteren Aussichten, denen Deutschlands
Langzeitarbeitslose entgegensehen, verstärken den
Eindruck, dass Veränderungen in Deutschland, selbst bis
hin zu seinem hoch geschätzten Wohlfahrtsstaat, weiter
gehen als im Allgemeinen anerkannt. Die im Jahr 2004
anhaltenden Proteste gegen diese Veränderungen,
durchgeführt von linken Abgeordneten,
Gewerkschaftsführern und Gruppen aus dem Sozialbereich,
lassen erkennen, dass diejenigen, die dem Geschehen am
nächsten stehen, erkannt haben, was auf dem Spiel
steht.

Gehen die Änderungen weit genug?

Das „Entkernen“ des Deutschen Modells legt es
nahe, dass der Reformprozess Wurzeln hat, die tiefer gehen als
diejenigen, die von der Agenda 2010 gepflanzt worden sind. Doch
stellt sich noch immer die Frage, ob dies ausreicht –
angesichts der riesigen Herausforderungen, vor der die
Führungspolitiker stehen, und des Schneckentempos, in dem
sie handeln können oder wollen.

Die Unterschiede zwischen den deutschen und den
angloamerikanischen Praktiken sind nach wie vor sehr
groß. Deutschland verkörpert noch immer auf
vielerlei Art und Weise das kontinentaleuropäische
Sozialmodell, in dem soziale Gleichheit eine Leitlinie für
die Politik ist, die Rechte der Beschäftigten in der
Wirtschaftspolitik verankert sind und die Gefahren der
Deregulierung im Allgemeinen schwerer wiegen als ihre
Chancen.

Doch das Deutsche Modell tritt auch in eine neue Phase;
eine, die das kontinentaleuropäische Sozialmodell und
angloamerikanische Praktiken auf eine dynamische Weise
verbindet. Zwar bleiben die traditionellen deutschen
Institutionen im Großen und Ganzen intakt, doch die
darunter liegenden Erwartungen, Einstellungen und Werte in
Wirtschaft, Politik und der Gesellschaft insgesamt
verändern sich. Wie die Beispiele es nahe legen, haben
diese Veränderungen für den Kontext gesorgt, in dem
sich das Verhalten Einzelner radikaler an neue Bedingungen
anpasst als in der Vergangenheit.

Die Agenda 2010 wird durch eine deutlich erkennbare Einsicht
gestärkt, die sowohl bei der Regierung als auch  bei
der Opposition zu beobachten ist. Beide Lager haben die
früher vorherrschende Überzeugung, dass sich
Deutschland für Wachstum unbesorgt auf die Stärken
seines exportorientierten Industriesektors verlassen
könne, hinter sich gelassen. Politik findet jetzt in einer
Atmosphäre statt, in der die Mehrheit der wichtigen
Spieler die Notwendigkeit struktureller und institutioneller
Reformen verinnerlicht hat.

Besonders wichtig ist diese Einsicht in Bezug auf
institutionelle Reformen, die in Zukunft noch an Bedeutung
gewinnen werden. Seit der Agenda 2010 sind Reformen des Steuer-
und des Bildungssystems sowie der monopolistischen Strukturen
der Handelskammern und von Berufsverbänden, die Konkurrenz
unterdrücken und Kostenreduzierungen verhindern, viel eher
durchführbar, als dies noch vor ein paar Jahren der Fall
war.

Die Frage bleibt offen, ob ein schrittweiser
Veränderungsprozess, wie er hier beschrieben ist,
ausreichen wird, um Deutschlands Platz unter den führenden
Industrienationen im 21. Jahrhundert zu sichern. Sowohl unter
den deutschen wie unter ausländischen Beobachtern herrscht
das Gefühl vor, dass es zu einem Punkt kommen kann, an dem
der Druck so groß sein wird und an dem die strukturellen
Unzulänglichkeiten des Landes so klar zu Tage treten
werden, dass die einzige Alternative darin bestehen wird, dass
es entweder zu einer Veränderung „mit einem
großen Knall“ oder zu einer permanenten Verbannung
Deutschlands in den zweiten Rang der Industrienationen kommen
wird.

Es ist nicht klar, wann oder ob dieser Punkt überhaupt
kommen wird. Er muss auch nicht zwingend kommen. Da er jedoch
kommen könnte, muss der Reformprozess in Deutschland aus
einem neuen Blickwinkel betrachtet werden. Dieser Blickwinkel
macht sichtbar, dass die Reform schon längst vor unseren
Augen stattfindet und damit die Annahme widerlegt, dass
Deutschland im Kern „unreformierbar“ ist.

Dieser Artikel ist eine gekürzte und überarbeitete
Fassung eines Berichts für die Deutsch-Britische Stiftung
für das Studium der Industriegesellschaft (erhältlich
unter
<http://www.agf.org.uk/pubs/
pdfs/1458web.pdf>).

Anmerkungen

1Vgl. Martin Höpner, Wer beherrscht die
Unternehmen, Frankfurt am Main 2003, S.138.

2Vgl. Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten,
Verbetrieblichung der Tarifpolitik? – Aktuelle
Tendenzen und Einschätzungen, in: WSI-Mitteilungen,
(Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut –
Hans-Böckler-Stiftung) Düsseldorf 2003.

3Vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung (IAB), Die Entwicklung der
Flächentarifbindung 1995–2001, Nürnberg
2002.

4Vgl. Statistisches Bundesamt, 10 Jahre Erwerbsleben in
Deutschland, Wiesbaden 2002.

5Vgl. ebenda.

6Vgl. den Bericht der Arbeitsgruppe
Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe der Kommission zur Reform der
Gemeindefinanzen vom 17. April 2003.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 41-48

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