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01. Mai 2004

Deutsches (Auslauf)Modell

Das Wirtschaftssystem hat sich schon viel stärker verändert als angenommen

Wenn man das „Deutsche Modell“ mit einem Haus vergleicht, dann sind lediglich die Außenmauern
– der institutionelle Rahmen – an Ort und Stelle geblieben. Der Rest wurde „entkernt“,
d.h. beim Arbeitsrecht und bei den sozialen Leistungen wurden bereits Einschnitte gemacht, die
eher an das angloamerikanische Modell erinnern. So hat sich das deutsche Wirtschaftssystem bereits
grundlegend gewandelt, ohne dass es die meisten gemerkt haben. Ob die bisher erfolgten
und die geplanten Veränderungen ausreichen, lässt sich nicht abschätzen. Eines ist jedoch klar:
Die Behauptung, Deutschland sei im Kern nicht reformierbar, ist bereits widerlegt.

Kostenpflichtig

Es dürften kaum Zweifel daran herrschen, dass die deutsche Wirtschaft ihre ernsten Schwierigkeiten nur mit weit reichenden strukturellen Reformen überwinden kann. Die aktuelle Auseinandersetzung über Reformen und Reformstau schafft jedoch oft mehr Verwirrung als dass sie Lösungen anbietet.

Einerseits besteht ein breiter Konsens über die Notwendigkeit von Reformen. Niedrige Wachstumsraen, die hohe Sockelarbeitslosigkeit, hohe Lohnnebenkosten und die schlechte Lage der öffentlichen Haushalte sind Grund zur Besorgnis. Die Reformen der „Agenda 2010“ von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die im Dezember 2003 im Vermittlungsausschuss beschlossen wurden, sind dabei ein notwendiger, aber nicht hinreichender Schritt für die Bewältigung dieser Probleme.

Andererseits zeichnet sich unter Experten und den wesentlichen politischen Akteuren ein ebenso breiter Konsens darüber ab, warum diese Probleme überhaupt entstanden sind, und warum der deutsche Reformprozess so quälend langsam ist. Faktoren, die einst nach dem Krieg als die Stärken des „Deutschen Modells“ angesehen wurden, werden jetzt als Schwächen verstanden, die Deutschlands Fähigkeit behindern, sich schneller und leichter an sich ändernde äußere Bedingungen anzupassen, insbesondere an Zwänge, die von der Globalisierung sowie von einer alternden Gesellschaft ausgehen.

Zum Beispiel wird das dichte Unterholz aus Vorschriften und Regelwerken, das in den goldenen Jahren des „Wirtschaftswunders“ in den fünfziger und sechziger Jahren emporgeschossen ist, jetzt als ein Hindernis für die schnelle Entscheidungsfindung in Unternehmen angesehen.

In der Politik hat sich ein System von ausgewogenen Kräften und Gegenkräften etabliert, das Lobbyisten und den Bundesländern Macht einräumt und dadurch die Fähigkeit der Bundesregierung begrenzt, eigene radikale Reformen durchzuführen. Im Hinblick auf die Eindämmung extremistischer politischer Strömungen wird dieses System weiter geschätzt, doch zunehmend auch als ein Hindernis für eine wirkungsvolle politische Entscheidungsfindung angesehen.

Da es einen Konsens darüber gibt, warum Reformen erforderlich sind und was geändert werden müsste, könnte man sich vorstellen, dass die Umsetzung notwendiger Veränderungen eine recht einfache Angelegenheit sei. In Wirklichkeit ist aber das Gegenteil der Fall.Bundeskanzler Schröder musste viel politisches Kapital investieren, um die (auf den ersten Blick bescheidenen) Änderungen der Agenda 2010 durchzusetzen. Er musste sich in massiver Weise mit Interessenverbänden von den Gewerkschaften bis zu Lobbyisten herumschlagen, die entschlossen waren, die Interessen ihrer Klientel und Auftraggeber zu verteidigen.

Dabei haben die Auseinandersetzungen um die Agenda 2010 nur den gestelzten und mit Scheuklappen behafteten Charakter der Reformdebatte unterstrichen statt die Ziele und Richtung der Reformen zu festigen.

Das wird deutlich, wenn man sich die ersten Reaktionen auf die Einführung einiger Maßnahmen der Agenda 2010 zu Beginn des Jahres 2004 ansieht. Gewerkschaften und Interessengruppen der Pharmaindustrie werden nicht müde zu behaupten, dass die Reformen die Grundlagen des hoch gepriesenen Deutschen Modells unterminiert hätten. Dagegen legen Ökonomen und Kommentatoren der deutschen und ausländischen Presse gern einen angloamerikanischen Maßstab an und kommen zu dem Schluss, dass die Maßnahmen der Agenda 2010 nur ein kleiner erster Schritt seien, denen Reformen in viel größerem Umfang folgen müssten.

Der Konflikt über die Interpretation der Agenda hat in eine neue Sackgasse bei der Reformauseinandersetzung geführt, die es der Regierung noch mehr erschwert, neue Schritte in Erwägung zu ziehen. Um aus dieser Sackgasse herauszukommen, ist eine neue Perspektive nötig – eine, die anerkennt, dass das Deutsche Modell sich schon weit mehr verändert hat und auch noch verändern wird, als im Allgemeinen erkannt wird.

Eine solche Perspektive unterstreicht, dass Veränderungen des Deutschen Modells zur Anpassung an sich ändernde internationale wirtschaftliche und institutionelle Bedingungen möglich sind, und das Modell im Gegensatz zu den Befürwortern eines angloamerikanischen Vorgehens nicht gänzlich verworfen werden muss. Dieser Zugriff auf die Reformen gibt auch Hinweise darauf, wie künftig Reformen geschehen könnten, indem politische und wirtschaftliche Faktoren identifiziert werden, die Änderungen ermöglicht haben.

Die folgenden drei Beispiele geben einen Vorgeschmack darauf, was ein solcher Blick zu Tage bringt. Sie zeigen vor allem, dass das Deutsche Modell sich von innen verändert und rücken einen Prozess ins Licht, den man mit  „Entkernung“ treffend bezeichnen könnte.

Wenn man das Deutsche Modell mit einem Haus vergleicht, dann sind in den letzten Jahren die Außenmauern – der institutionelle Rahmen – an Ort und Stelle geblieben. Die grundlegenden Strukturen der Regulierungen wie z.B. die korporatistischen und selbstverwaltenden Strukturen vieler Institutionen oder das Instrument der Flächentarifverträge bleiben weiter erhalten. Gleichzeitig haben sich jedoch „innerhalb“ des Hauses die Dinge radikal verändert. Das sieht man jedoch nur, wenn man die Türen öffnet und in das Modell auch wirklich hineinschaut.

Unternehmen als Motor des Wandels

In Deutschland besteht „corporate governance“ aus einer sehr spezifischen Mischung aus Unternehmensstrategien, Eigentümerstrukturen und politischem Handeln, die man mit dem Begriff der „Deutschland AG“ bezeichnet hat.

Die Deutschland AG hat einen wichtigen Platz in den Erklärungen für die Geschäftsstrategien deutscher Unternehmen eingenommen. Der niedrige Eigenkapitalanteil von Unternehmen, der gegenseitige Aktienbesitz zwischen Unternehmen und die personelle Verflechtung von Managern haben über die Jahre hinweg ein eng verflochtenes Netzwerk zwischen Unternehmen etabliert. Im Zentrum derartiger Netze standen starke Finanzunternehmen wie die Deutsche Bank und die Allianz Versicherung, die große Anteile an den Industrieunternehmen in verschiedenen Formen hielten.

Allerdings haben Deutschlands führende Unternehmen schon vor mindestens zehn Jahren die Notwendigkeit erkannt, das Deutsche Modell zwar nicht abzuschaffen, es aber doch so anzupassen, damit die Verwendung angloamerikanischer Geschäftspraktiken neben den traditionellen deutschen ermöglicht werden konnten. Die Unternehmen handelten aufgrund einer veränderten wirtschaftlichen Umwelt – eine Anerkennung dessen, dass manche deutsche Geschäftspraktiken, die zwar vielleicht für eine geschützte Binnenwirtschaft angemessen waren, nicht mehr für die Herausforderungen der wirtschaftlichen Internationalisierung insbesondere der Kapitalmärkte geeignet waren.

In den neunziger Jahren verlagerten Finanzunternehmen ihre Geschäftsstrategien zunehmend in die Richtung von Investmentbanking und spezialisierten Finanzdienstleistungen und ließen somit ihre traditionelle Rolle der Finanzierung und Überwachung der deutschen Industrie hinter sich. Unternehmen begannen sich aus der gegenseitigen Verflechtung in Aufsichtsräten zu lösen und setzten auf Shareholder Value und eine aktive Position im Übernahmemarkt.

Die früher starke Rolle von Vertretern deutscher Banken in den Aufsichtsräten großer deutscher Firmen ist dadurch deutlich zurückgegangen. In den fünfziger Jahren hatte der Sprecher des Vorstands der Deutschen Bank, Hermann-Josef Abs, bis zu 24 Sitze in Aufsichtsräten großer deutscher Firmen inne. Heute sehen die Unternehmensrichtlinien der Deutschen Bank ausdrücklich vor, dass die Bank keine Aufsichtsratssitze von Firmen außerhalb des Finanzsektors innehaben will. Zwischen 1992 und 1999 fiel der Anteil von Vorsitzenden von Aufsichtsräten von 40 deutschen Großunternehmen, die Vertreter von Banken waren, von 44 auf 23 Prozent.1

In diesem Zusammenhang hatte die Übernahme von Mannesmann durch Vodafone Airtouch im Februar 2000 symbolischen Charakter. Es war die erste erfolgreiche feindliche Übernahme durch ein ausländisches Übernehmen. Überdies leistete kein wichtiger Akteur aus Wirtschaft, Gewerkschaften oder Politik ernsthaften Widerstand. Diese, wenn auch noch eher verhaltene Akzeptanz angloamerikanischer Geschäftspraktiken hatte die ironische Konsequenz, dass Anfang 2004 der frühere Chef der IG Metall, Klaus Zwickel, vor Gericht stand und sich dem Vorwurf ausgesetzt sah, „unangemessen hohe“ Entschädigungszahlungen für die Chefs von Mannesmann gebilligt zu haben.

Die Veränderungen innerhalb der Deutschland AG wurden von der Politik durch die Verabschiedung einer Reihe von Gesetzen zur Modernisierung der Finanzmärkte seit Mitte der neunziger Jahre unterstützt. Die dazu notwendigen Reformen sind noch lange nicht vollständig: die jüngsten Debatten über die Standards guter Unternehmensführung, über die Bezahlung der Spitzenmanager und den Mannesmann-Prozess spiegeln nur ein paar der vielen Posten wider, die auf der Liste unerledigter Aufgaben zum Thema „corporate governance“ stehen. Doch insgesamt legen es die weit reichenden Veränderungen seit Anfang der neunziger Jahre nahe, dass sich in den deutschen Vorstandsetagen mehr verändert hat als oft gesehen wird.

Erstarrte Arbeitsmärkte?

Wenige Berichte über Deutschland von der Europäischen Kommission, vom Internationalen Währungsfonds (IWF), von der OECD oder anderen internationalen Gremien haben in den letzten Jahren die Gelegenheit versäumt, die Regulierung des Arbeitsmarkts als ein Haupthindernis für Wachstum und Beschäftigung zu bezeichnen. Rezepte für die Überwindung der wirtschaftlichen Stagnation beginnen gewöhnlich mit Vorschlägen zur Deregulierung des Arbeitsmarkts, einschließlich des Aufbrechens der Tarifverträge.

Zwar sind die Herzstücke dieses Modells noch immer vorhanden – zentralisierte Lohnverhandlungen, sektoral gegliederte Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände und ein starkes Mitbestimmungsrecht –, doch unter der Oberfläche hat sich viel verändert. Das gern benutzte Bild von starken und machtbewussten Gewerkschaften, die die Unternehmen fest im Griff haben, ist eine verzerrte Sicht. Insbesondere große Unternehmen haben begonnen, sich Gehälter und Arbeitsbedingungen für ihre Beschäftigten nach ihren eigenen Bedürfnissen zurechtzuschneidern statt nach den Vorstellungen der Gewerkschaften.

Während der Rezession von 1992/93 sind fast eine halbe Million Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe verloren gegangen. Der Arbeitsplatzabbau wurde damals mit der Hilfe von Gewerkschaften und Betriebsräten ausgehandelt. Seither hat das „Aushandeln von Ausnahmen“ auf der Ebene des Betriebs fast flächendeckend zu längeren (manchmal auch kürzeren) Arbeitszeiten, Gehaltsreduzierungen und flexiblerer Arbeitsorganisation in der ganzen Wirtschaft geführt.

Bis heute hat etwa ein Drittel der Unternehmen betriebliche Bündnisse für Arbeit unterzeichnet, die von den Bestimmungen der Tarifverträge abweichen. Weitere 15 Prozent von Unternehmen ignorieren die Tarifverträge.2 Die Gewerkschaften versuchen, diese Entwicklungen einzufangen, indem sie die Tarifverträge für betriebliche Vereinbarungen öffnen.

Die Unternehmen sind zudem immer weniger bereit, sich den branchenweiten Tarifverträgen zu unterwerfen. Der Anteil von Firmen, die Mitglied im Arbeitgeberverband und deshalb verpflichtet sind, die Branchentarifverträge anzuwenden, ist in Westdeutschland auf 45 Prozent gefallen. In den neuen Bundesländern sind nur 23 Prozent der Unternehmen tariflich gebunden.3

Selbst das besondere Kennzeichen der deutschen Gewerkschaftsbewegung, die 35-Stunden-Woche, ist in großen Bereichen aus der Realität verschwunden. Studien zeigen, dass die Mehrheit der Angestellten in der Autoindustrie nicht die 35-Stunden-Woche einhält, sondern zur 40-Stunden-Woche zurückgekehrt ist. Das spiegelt einen generellen Trend wider: Heute arbeitet die Mehrheit der Vollzeitbeschäftigten wieder 40 Stunden und mehr.4

Trotz – oder eher wegen – der Bedeutung dieser Entwicklungen sind die Gewerkschaften im Großen und Ganzen nicht bereit, öffentlich deren Existenz einzuräumen. Eher versuchen sie, in der Öffentlichkeit ihre traditionelle Stärke zu demonstrieren und politischen Druck auszuüben. Sie verhindern nur selten betriebliche Maßnahmen zur Kostensenkung, doch sind sie auch nicht ehrlich genug, einzuräumen, dass derartige heimliche Abmachungen auf Mängel im Deutschen Modell der Arbeitsbeziehungen und in ihrer eigenen Autorität hinweisen. Der fehlgeschlagene Streik der IG Metall für die 35-Stunden-Woche in den neuen Bundesländern Mitte 2003 zeigte, wie wenig gerade diese Gewerkschaft die veränderte Realität zur Kenntnis nehmen will.

Der Arbeitsmarkt, der inzwischen entstanden ist, ist weniger reguliert als allgemein angenommen wird. Während Kündigungen noch immer von strengen Arbeitsgesetzen geregelt werden, wird die Mauer zwischen Geschützten und Schutzlosen immer höher. Der Beschäftigungszuwachs der letzten Jahre hat bei Arbeitnehmern mit Zeitverträgen, bei jenen in Zeitarbeitsagenturen und bei unsicheren Beschäftigungsverhältnissen stattgefunden. Über ein Fünftel der Beschäftigten unter 30 hat einen Zeitvertrag.5 Etwa 6,7 Millionen Beschäftigte haben so genannten Minijobs – Arbeitsverträge mit einem niedrigen Lohn, der zu einem großen Teil von Sozialabgaben befreit ist. Die Deregulierung breitet sich von den Rändern in die Mitte des Arbeitsmarkts aus, und die Gewerkschaften haben wenig Macht, daran etwas zu ändern.

Liberaler Wohlfahrtsstaat

Es haben zwar nur wenige bemerkt, aber der ehemals großzügige deutsche Wohlfahrtsstaat ist dabei, sich radikal zu verändern. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Behandlung der Arbeitslosen genauer ansieht.

Jahrzehntelang besaß Deutschland eine Mischung aus einem angloamerikanischen Unterstützungssystem für die bedürftigen Armen und einem aus Beiträgen finanzierten Versicherungssystem, das die Transferzahlungen während Arbeitslosigkeit und Alter an den früheren Lohn knüpft.

In der Vergangenheit lag der Schwerpunkt eindeutig auf den Versicherungsleistungen, die auf dem Konzept der „Lebensstandardsicherung“ beruhten. Wenn einmal ein gewisser Lebensstandard erreicht war, beispielsweise der eines Facharbeiters, garantierte das System, dass dieser Standard auch in Zeiten der Arbeitslosigkeit und des Alters aufrechterhalten werden konnte. Das Arbeitslosengeld wurde demnach anhand des vorherigen Einkommens berechnet und unabhängig vom Vermögen des Arbeitslosen. Die Zukunft sieht ganz anders aus.

Die Hartz-IV-Reformen der Agenda 2010, die im Januar 2005 eingeführt werden sollen, bedeuten die radikalsten Veränderungen seit Jahrzehnten auf diesem Gebiet: Sie vereinfachen das System der Arbeitslosenunterstützung, koppeln die Höhe der Unterstützung vom vorherigen Einkommen für Millionen von Beschäftigten ab und erhöhen den Druck auf die Arbeitslosen, eine Arbeit zu finden.

Die dem zugrunde liegende Philosophie des Förderns und Forderns ist zuvor bereits von der britischen Regierung unter Premierminister Tony Blair genutzt worden. Der Staat sorgt für Unterstützung und Förderung, fordert aber auch persönliches Engagement; arbeitslose Menschen riskieren Kürzungen in der Unterstützung, wenn sie Arbeitsangebote ausschlagen und müssen bei ihrer Arbeitssuche mobiler werden.

Die maximale Dauer des vollen, vom Einkommen abhängigen Arbeitslosengelds wird auf ein Jahr (18 Monate für diejenigen, die älter als 55 Jahre sind) gekürzt, während die neue Unterstützung für die Langzeitarbeitslosen feste Zahlungen in einer Höhe vorsieht, die sich auf dem niedrigem Niveau der Sozialhilfe befindet. Darüber hinaus werden solche Langzeitarbeitslose, die wesentliche Ersparnisse besitzen oder Familienmitglieder mit angemessenem Einkommen haben, überhaupt keine Unterstützung beziehen.

Von 2005 an werden diejenigen Arbeitslosen, die eine Unterstützungsleistung bekommen, die sich an ihrem vorherigen Gehalt orientiert, in der Minderheit sein. Angesichts des im internationalen Vergleich sehr großen Anteils von Langzeitarbeitslosen unter den Arbeitslosen insgesamt wird die Mehrheit der gegenwärtig Arbeitslosen eine feste Minimalunterstützung beziehen. Die Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen, die diesen Plan entworfen hat, schätzte, dass zu dieser Gruppe 2,6 Millionen Arbeitssuchende gehören, von den 4,3 Millionen Arbeitslosen insgesamt.6

Diese düsteren Aussichten, denen Deutschlands Langzeitarbeitslose entgegensehen, verstärken den Eindruck, dass Veränderungen in Deutschland, selbst bis hin zu seinem hoch geschätzten Wohlfahrtsstaat, weiter gehen als im Allgemeinen anerkannt. Die im Jahr 2004 anhaltenden Proteste gegen diese Veränderungen, durchgeführt von linken Abgeordneten, Gewerkschaftsführern und Gruppen aus dem Sozialbereich, lassen erkennen, dass diejenigen, die dem Geschehen am nächsten stehen, erkannt haben, was auf dem Spiel steht.

Gehen die Änderungen weit genug?

Das „Entkernen“ des Deutschen Modells legt es nahe, dass der Reformprozess Wurzeln hat, die tiefer gehen als diejenigen, die von der Agenda 2010 gepflanzt worden sind. Doch stellt sich noch immer die Frage, ob dies ausreicht – angesichts der riesigen Herausforderungen, vor der die Führungspolitiker stehen, und des Schneckentempos, in dem sie handeln können oder wollen.

Die Unterschiede zwischen den deutschen und den angloamerikanischen Praktiken sind nach wie vor sehr groß. Deutschland verkörpert noch immer auf vielerlei Art und Weise das kontinentaleuropäische Sozialmodell, in dem soziale Gleichheit eine Leitlinie für die Politik ist, die Rechte der Beschäftigten in der Wirtschaftspolitik verankert sind und die Gefahren der Deregulierung im Allgemeinen schwerer wiegen als ihre Chancen.

Doch das Deutsche Modell tritt auch in eine neue Phase; eine, die das kontinentaleuropäische Sozialmodell und angloamerikanische Praktiken auf eine dynamische Weise verbindet. Zwar bleiben die traditionellen deutschen Institutionen im Großen und Ganzen intakt, doch die darunter liegenden Erwartungen, Einstellungen und Werte in Wirtschaft, Politik und der Gesellschaft insgesamt verändern sich. Wie die Beispiele es nahe legen, haben diese Veränderungen für den Kontext gesorgt, in dem sich das Verhalten Einzelner radikaler an neue Bedingungen anpasst als in der Vergangenheit.

Die Agenda 2010 wird durch eine deutlich erkennbare Einsicht gestärkt, die sowohl bei der Regierung als auch  bei der Opposition zu beobachten ist. Beide Lager haben die früher vorherrschende Überzeugung, dass sich Deutschland für Wachstum unbesorgt auf die Stärken seines exportorientierten Industriesektors verlassen könne, hinter sich gelassen. Politik findet jetzt in einer Atmosphäre statt, in der die Mehrheit der wichtigen Spieler die Notwendigkeit struktureller und institutioneller Reformen verinnerlicht hat.

Besonders wichtig ist diese Einsicht in Bezug auf institutionelle Reformen, die in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen werden. Seit der Agenda 2010 sind Reformen des Steuer- und des Bildungssystems sowie der monopolistischen Strukturen der Handelskammern und von Berufsverbänden, die Konkurrenz unterdrücken und Kostenreduzierungen verhindern, viel eher durchführbar, als dies noch vor ein paar Jahren der Fall war.

Die Frage bleibt offen, ob ein schrittweiser Veränderungsprozess, wie er hier beschrieben ist, ausreichen wird, um Deutschlands Platz unter den führenden Industrienationen im 21. Jahrhundert zu sichern. Sowohl unter den deutschen wie unter ausländischen Beobachtern herrscht das Gefühl vor, dass es zu einem Punkt kommen kann, an dem der Druck so groß sein wird und an dem die strukturellen Unzulänglichkeiten des Landes so klar zu Tage treten werden, dass die einzige Alternative darin bestehen wird, dass es entweder zu einer Veränderung „mit einem großen Knall“ oder zu einer permanenten Verbannung Deutschlands in den zweiten Rang der Industrienationen kommen wird.

Es ist nicht klar, wann oder ob dieser Punkt überhaupt kommen wird. Er muss auch nicht zwingend kommen. Da er jedoch kommen könnte, muss der Reformprozess in Deutschland aus einem neuen Blickwinkel betrachtet werden. Dieser Blickwinkel macht sichtbar, dass die Reform schon längst vor unseren Augen stattfindet und damit die Annahme widerlegt, dass Deutschland im Kern „unreformierbar“ ist.

Dieser Artikel ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines Berichts für die Deutsch-Britische Stiftung für das Studium der Industriegesellschaft (erhältlich unter <http://www.agf.org.uk/pubs/ pdfs/1458web.pdf>).

Anmerkungen

1Vgl. Martin Höpner, Wer beherrscht die Unternehmen, Frankfurt am Main 2003, S.138.

2Vgl. Reinhard Bispinck/Thorsten Schulten, Verbetrieblichung der Tarifpolitik? – Aktuelle Tendenzen und Einschätzungen, in: WSI-Mitteilungen, (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut – Hans-Böckler-Stiftung) Düsseldorf 2003.

3Vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Die Entwicklung der Flächentarifbindung 1995–2001, Nürnberg 2002.

4Vgl. Statistisches Bundesamt, 10 Jahre Erwerbsleben in Deutschland, Wiesbaden 2002.

5Vgl. ebenda.

6Vgl. den Bericht der Arbeitsgruppe Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe der Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen vom 17. April 2003.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 41-48

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