Deutsche Außenpolitik
Hanns W. Maull über neue Konzepte und alte Ängste
Besprochen werden "Die beiden großen deutschen Volksparteien und das 'Friedensprojekt Europa'", "Der Wandel des deutschen Multilateralismus" sowie "Zwischen Furcht und Bewunderung?"
Die beiden großen deutschen Volksparteien und das „Friedensprojekt Europa“: Weltmacht, Zivilmacht, Friedensmacht?
Bernhard Rinke | Nomos 2006, ISBN 9783832918415, 568 Seiten
Welche Leitbilder bestimmen die Europa-Politik der beiden „großen deutschen Volksparteien“? Wie unterscheiden sie sich voneinander, und haben sie sich seit 1990 verändert? Um diese Fragen kreist diese akribisch recherchierte und überzeugend aufbereitete Untersuchung. Rinke zeigt, wie breit der Konsens zwischen den beiden großen Volksparteien in der Europa-Politik war und ist: Er umfasst nicht nur ein weit gespanntes Verständnis von Sicherheitspolitik und die Überzeugung, dass Deutschland außenpolitisch nicht mehr nationalstaatlich, sondern nur noch über eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik überhaupt Chancen hat, seine Zukunft zu gestalten. Beide Parteien verfolgen eine, wie Rinke es nennt, „supranational-integrative“ Politik in der EU, die langfristig darauf abzielt, die Außen- und Sicherheitspolitik zu vergemeinschaften. Einig sind sich beide Parteien auch im Ziel einer „Selbstbehauptung Europas“. Dennoch gibt es natürlich auch große Unterschiede in den außen- und sicherheitspolitischen Orientierungen – doch finden sich diese, so Rinke, ausgeprägter innerhalb der beiden Parteien als zwischen ihnen. Am Ende der rot-grünen Koalition hatte sich in beiden Parteien eine der beiden innerparteilichen Strömungen weitgehend durchgesetzt – in der CDU die der Atlantiker um Wolfgang Schäuble (zu denen Rinke auch Angela Merkel zählt), in der SPD die der Realpolitiker um Scharping und Schröder. Dennoch gibt es keine europapolitischen Leitbilder der beiden Parteien, sondern höchstens in den beiden Parteien. Diese unterscheiden sich vor allem mit Blick auf die Legitimierung und die Aufgabenstellungen bei Bundeswehr-Auslandseinsätzen und auf das Verhältnis zu den USA und zur NATO. Dem linken Flügel der SPD ordnet Rinke das Leitbild der Zivilmacht zu; es sieht Europa als pazifistische Macht mit einem alternativen Weltordnungskonzept zu dem der USA. Die Atlantiker in der CDU dagegen plädieren für Europa als Weltmacht, allerdings in enger Zusammenarbeit mit den USA. Das Leitbild der „Friedensmacht Europa“ schließlich findet sich sowohl auf Seiten der (jetzt dominanten) Realpolitiker in der SPD wie auch der Euro-Atlantiker (etwa bei Karl Lamers oder Hans-Gert Pöttering) in der CDU. Für sie sind Kampfeinsätze der Bundeswehr vor allem dann vorstellbar, wenn es um die Verhinderung massiver Menschenrechtsverletzungen, die Erzwingung von Frieden oder generell um eine Zivilisierung der internationalen Beziehungen geht: Die Friedensmacht Europa ist also gewissermaßen eine „wehrhafte Zivilmacht“.
Hinter den im Einzelnen eher unscharfen außenpolitischen Leitbildern entdeckt Rinke auf beiden Seiten das Ziel einer Selbstbehauptung Europas in einer unübersichtlichen Welt, das über eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU erreicht werden soll. Hierin steckt, so der Verfasser, ein bemerkenswerter Widerspruch: Während beide Parteien das Projekt eines bundesstaatlichen, also föderalen Europas offiziell aufgegeben haben, vertrauen sie ausgerechnet in diesem zentralen Politikbereich darauf, dass es zustande kommen wird. Diese Überlegungen überzeugen – ebenso wie die Schlussfolgerung, die beiden großen Parteien sollten sich dringlich um eine Präzisierung und Einbettung des militärischen Instrumentariums der deutschen Sicherheitspolitik in den Gesamtzusammenhang der GASP kümmern. Ob man deshalb auch die Sorge des Autors teilen sollte, die Europäische Union könne tatsächlich einer großmachtpolitischen, d.h. militärischen Versuchung erliegen, ist eine andere Frage: Von einer „Militarisierung des europäischen Integrationsprozesses“ kann ernsthaft bislang nicht die Rede sein.
Der Wandel des deutschen Multilateralismus. Eine diskurstheoretische Untersuchung deutscher Außenpolitik
Rainer Baumann | Nomos 2006, ISBN 9783832920876, 233 Seiten
In dieser Studie geht es um die inzwischen schon etwas abgedroschene Frage nach Kontinuität und Wandel in der deutschen Außenpolitik. Baumann vertritt die Position, die deutsche Außenpolitik habe sich seit 1990 grundlegend verändert – allerdings nicht abrupt und nicht als direkte Folge der Vereinigung, sondern eher schleichend seit Mitte der neunziger Jahre und keineswegs so, wie das Experten und Praktiker – je nach Perspektive – erhofft oder befürchtet hatten, nämlich im Sinne einer Rückkehr zur Großmachtpolitik alten Stils. Seine Einschätzung begründet Baumann mit einer Analyse der offiziellen außenpolitischen Diskurse zum Thema „Multilateralismus“. Der Autor weist überzeugend nach, dass die deutsche Außenpolitik im Verlauf der neunziger Jahre zwar eindeutig dem Multilateralismus verpflichtet blieb, sich dabei aber Bedeutungsveränderungen in die Rhetorik einschlichen, die – so Baumann – Deutschlands außenpolitischen Multilateralismus faktisch substanziell veränderten: Neben traditionelle Konzeptionen, die Multilateralismus als „Verpflichtung“ oder als „notwendig“ auffassen, treten zunehmend Vorstellungen, die Multilateralismus eher instrumentell als Möglichkeit nützen wollen, Einfluss auszuüben. In der Außenpolitik der rot-grünen Koalition von 2000 bis 2005, nicht mehr im engeren Sinne Gegenstand der Untersuchung, sieht Baumann seine Argumentation bestätigt.
Bei der Außenpolitik der jetzigen Großen Koalition, die hier nicht mehr berücksichtigt werden konnte, dürfte das allerdings schwerer fallen: Die Tendenzen, die der Verfasser aus seinen Ergebnissen als Zukunftstendenzen extrapoliert – das Fehlen einer konsequenten Orientierung der deutschen Außenpolitik an Prinzipien, ein eher instrumentalistischer Umgang mit internationalen Institutionen, eine stärker materialistische Interessenpolitik, zunehmendes Statusdenken und „das Verlernen einer langfristigen Politik der Vertrauensbildung“: All das scheint im Rückblick eher einer spezifischen Phase der deutschen Außenpolitik geschuldet als ihrer strukturellen Veränderung. Zudem überdehnt der Verfasser die Aussagekraft seiner Befunde wesentlich, weil er die vielschichtigen Funktionen politischer Rhetorik verkennt: So richtig es ist, außenpolitischen Stil ernst zu nehmen und nicht einfach als belanglos abzutun, so problematisch scheint die recht umstandslose Gleichsetzung von außenpolitischer Rhetorik mit der Außenpolitik selbst. Man sollte also vorsichtig bei der Deutung der vorgelegten Befunde sein: Im Kern zeigen sie lediglich, dass sich die Bedeutung des Begriffs „Multilateralismus“ in der deutschen Außenpolitik verändert und erweitert hat. Daraus lässt sich allerdings nur dann eindeutig auf „Wandel“ statt auf „Kontinuität“ schließen, wenn man Kontinuität, wie das Baumann tut, mit Unveränderlichkeit gleichsetzt – und das dürfte wohl kein Vertreter der Kontinuitätsperspektive je ernsthaft behauptet haben.
Zwischen Furcht und Bewunderung? Italienische Haltungen zur neuen deutschen Außenpolitik
Dörte Dinger | Peter Lang 2006, ISBN 9783631557150, 157 Seiten
„Weder – noch“, so könnte man das Ergebnis dieser knappen, aber gelungenen Monographie zu der im Titel aufgeworfenen Frage zusammenfassen: Die von der Verfasserin auf der Grundlage einer umfangreichen Auswertung italienischer Fachzeitschriften erhobene Beurteilung der neuen deutschen Außenpolitik durch die akademische und außenpolitische Elite Italiens fällt bemerkenswert positiv, wohlwollend und realistisch aus: Weder unangemessene Ängste noch unangebrachte Bewunderung bestimmen das Deutschland-Bild der italienischen Experten, sondern der zumeist nüchterne, gelegentlich aber auch erwartungsvolle Blick auf die deutsche Europa- und Sicherheitspolitik im Kontext der Auslandseinsätze der Bundeswehr. Damit unterscheidet sich diese Einschätzung der italienischen Experten von der der öffentlichen Meinung zu Deutschland, in der die Ängste der Vergangenheit und die Furcht vor neudeutschem Hegemoniestreben nach wie vor sehr präsent sind. Die eigentlichen Probleme im einst so guten bilateralen Verhältnis liegen anderswo: Mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes fällt auch die „Gleichrangigkeit“ zwischen Italien und Deutschland, die schon seit längerem ein wenig gekünstelt wirkte: Deutschland spielte spätestens seit der Vereinigung in Europa und der Welt eine herausgehobenere Rolle als Italien; der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher machte dies seinem italienischen Kollegen eher brutal als diplomatisch klar, als er ihn 1990 aus dem Kontext der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen mit der Bemerkung herausdrängte: „You are not part of the game!“ Dennoch besteht Italien weiterhin darauf, mit Deutschland „auf Augenhöhe“ zu verkehren. Dieser Anspruch führte immer wieder zu erheblichen bilateralen Spannungen, vor allem im Zusammenhang mit Deutschlands Bewerbung um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat, aber auch im Zusammenhang mit den von Wolfgang Schäuble und Karl Lamers angestellten Überlegungen über einen inneren Zirkel für die EU. Beim Thema UN-Sicherheitsrat bleiben selbst die von der Verfasserin analysierten und zum Teil auch befragten, sonst so nüchternen italienischen Deutschland-Experten nicht gelassen: Käme Deutschland in den Sicherheitsrat, nicht aber Italien, so die einhellige Meinung, dann käme dies einer Katastrophe für die italienische Diplomatie gleich („unser Land verdient dieses Schicksal nicht“, so der ehemalige italienische UN-Botschafter Francesco Paolo Fulci). Hier zeigen sich die Grenzen der insgesamt abgewogenen und kenntnisreichen Wahrnehmung der deutschen Außenpolitik durch die italienischen Experten; sie wurzeln in den theoretischen Grundorientierungen dieser Experten, die sich fast ausnahmslos der „realistischen Schule“ zuordnen lassen. Sie verstehen und bewerten Außenpolitik in den Kategorien von „Macht“ und „nationalen Interessen“ und tendieren deshalb zu eher zynischen als zutreffenden Einschätzungen der deutschen UN-Politik, wenn sie diese als rücksichtslose Verfolgung deutscher Nationalinteressen interpretieren. Dabei hätte es genügt, ein wenig Selbstreflexion zu betreiben und so zu erkennen, dass nicht nur Deutschlands Streben nach einem ständigen Sitz im Sicherheitsrat, sondern auch Italiens Reaktion darauf am Ende nichts anderes als Statuspolitik war, die den Interessen des Landes eher schadete als nützte.
Dr. Hanns W. Maull, geb. 1947, ist Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Außenpolitik und Internationale Beziehungen an der Universität Trier. 2006 erschien von ihm „Germany’s Uncertain Power. Foreign Policy of the Berlin Republic“ (Palgrave Macmillan).
Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 216 - 219.