Essay

26. Febr. 2024

Der weltweite Vormarsch des Antizionismus

Die Art und Weise, wie Israel in Gaza gegen den Terrorüberfall der Hamas reagiert, gibt seinen Gegnern neue Nahrung. Die Ablehnung des jüdischen Staates hat aber viel tiefere Wurzeln – ein Blick zurück offenbart manche Überraschung.

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Bild:  14. Mai 1948. David Ben-Gurion erklärt Israels Unabhängigkeit
Ende 1947 stimmte die UN-Vollversammlung mit mehr als zwei Dritteln Mehrheit der Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat zu. Am 14. Mai 1948 erklärte David Ben-Gurion Israels Unabhängigkeit: der Tag der Staatsgründung.
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Mit bitteren Worten umriss der Historiker Léon Poliakov 1983 die Situation Israels: „Einst von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen, wurde dieser Kleinstaat aufgrund der notorischen Ungleichheit der Mittel, der Umwälzungen auf dem Weltenschachbrett und der schwindenden Macht Europas zum Juden unter den Staaten.“ Poliakov war ein aus St. Petersburg stammender Jude. Als er zehn Jahre alt war, floh seine Familie 1920, drei Jahre nach dem bolschewistischen Umsturz, erst nach Berlin, um sich später in Paris niederzulassen. Poliakov wurde Journalist und schloss sich nach der Besetzung Frankreichs durch die deutschen Truppen der Résistance an, in der er bald eine wichtige Rolle spielte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs machte er es sich zur Lebensaufgabe, die von den Nationalsozialisten an den Juden begangenen Verbrechen zu dokumentieren. 1951 veröffentlichte er die erste umfassende Darstellung des Holocaust (erst 70 Jahre später erschien sie erstmals in deutscher Übersetzung). Kein anderer Staat der Welt ist in den vergangenen 50 Jahren so oft von den Vereinten Nationen verurteilt worden wie Israel. Kein anderer Staat hat einen derart sicheren Platz auf der Anklagebank der Weltöffentlichkeit. Nordkorea nicht, China nicht, Myanmar nicht, auch kein afrikanischer Staat.

Es lohnt, daran zu erinnern, dass das nicht immer so war. Anfang September 1947 veröffentlichte der von den Vereinten Nationen eingerichtete Sonderausschuss zur Palästina-Frage nach langen Beratungen seinen Bericht. Da­rin empfahl er die Beendigung des britischen Mandats und die Teilung des Mandatsgebiets. Ende November nahm die UN-Vollversammlung den Vorschlag an und beschloss mit mehr als zwei Drittel der Stimmen die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat. Damit hatte die Organisation, die heute Israel hauptsächlich als Aggressor sieht, der Staatsgründung Israels den Weg bereitet.

Bemerkenswert war dabei vor allem die Rede des sowjetischen Vertreters im UN-Sicherheitsrat Andrej Gromyko vom 14. Mai 1947. Auf den Tag genau ein Jahr vor der Gründung Israels sprach Gromyko vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen über die Palästina-Frage. Die Rede war von großer Sympathie für den jüdischen Wunsch getragen, endlich einen eigenen Staat zu erhalten. Gromyko sagte: „Während des letzten Krieges erlitt das jüdische Volk außergewöhnlich viel Leid und Schmerz. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass dieses Leid und dieser Schmerz unbeschreiblich sind. (…) Die Juden waren in den von den Hitlerleuten (im englischen Sitzungsprotokoll: Hitlerites) eroberten Gebieten der fast vollständigen physischen Vernichtung ausgesetzt.“ Doch dieser Tragödie habe sich eine weitere angeschlossen: Die Staaten der Welt seien unfähig oder nicht willens gewesen, die verfolgten Juden zu retten. Und selbst nach dem Ende des Krieges habe das Leiden kein Ende gefunden. Gromyko: „Viele der überlebenden Juden Europas waren ihrer Heimat, ihrer Häuser und ihrer Lebensgrundlagen beraubt. Hunderttausende Juden wanderten in verschiedenen Ländern Europas umher auf der Suche nach einer gesicherten Existenz und Schutz.“ Daraus leitete Gromyko mit Emphase das Recht der Juden auf einen eigenen Staat ab: „Die Tatsache, dass kein westlicher Staat in Europa fähig war, die elementaren Rechte des jüdischen Volkes zu garantieren und es vor der Gewalt der faschistischen Henker zu schützen, erklärt die Bestrebungen der Juden, ihren eigenen Staat zu gründen.“

Die Tatsache, dass ausgerechnet der Vertreter der UdSSR 1947 eine derart humanistische, Mitgefühl mit dem Schicksal der Juden ausdrückende Rede halten konnte, erhellt schlaglichtartig, wie günstig die weltpolitische Konstellation einen kurzen historischen Augenblick lang für die Juden und den angestrebten jüdischen Staat war. Der Antisemitismus, der Millionen Tote zu verantworten hatte, war gänzlich diskreditiert. Jeder, der das sehen wollte, sah es. Die Staaten der Welt mussten beschämt zur Kenntnis nehmen, dass sie im Umgang mit den schutzsuchenden Juden das elemen­tare Gebot des Mitgefühls missachtet hatten. Und selbst nach dem Ende des Holocaust sahen sie weiterhin zu, wie viele der überlebenden Juden, die alles verloren hatten, als Staatenlose, als displaced persons, ohne Perspektive dahinlebten, oft in Lagern zusammengepfercht. Als Skandal wurde das auch deswegen wahrgenommen und zum öffentlichen Thema, weil es seit 1945 die Vereinten Nationen gab. Zu deren Gründungsethos gehörte konstitutiv der Ruf nach einem friedlichen, einvernehmlichen wechselseitigen Umgang der Völker dieser Erde. Und das Gebot, Verfolgten und ihrer elementaren Rechte Beraubten aktiv beizustehen. Obwohl der Holocaust in den ersten Nachkriegsjahren überhaupt noch nicht als herausragendes Verbrechen des NS-Staates erkannt war, gab es doch ein weit verbreitetes Gefühl, dass die Welt den seit 2000 Jahren verfolgten Juden etwas schulde. So war die Stimmung dieser Nachkriegsjahre des Aufbruchs und der Hoffnung auf völkerübergreifende Verständigung. Wie stark diese Stimmung war, erkennt man nicht zuletzt daran, dass sich ihr nicht einmal die Sowjet­union ganz entziehen konnte, die doch selbst ihren Bürgern die Freiheitsrechte vorenthielt und längst mit der Unterwerfung der Staaten Osteuropas begonnen hatte.

Dass die Sowjetunion, die schon wenig später auf einen antiisraelischen, antizionistischen und auch antijüdischen Kurs umschwenkte, zu Anfang auf der Seite des jüdischen Staatsbegehrens stand, hat auch damit zu tun, dass sie damit die Unfähigkeit Großbritanniens herausstreichen konnte, in seinem palästinensischen Mandatsgebiet zu einer für Juden wie Palästinenser akzeptablen Lösung zu kommen. Aber das war nicht der einzige Grund für die sowjetische Parteinahme für Israel. Es gibt noch ein anderes Motiv, das den Blick vieler Staaten auf Israel lenkte, die – von Indien über Indonesien bis zu Tunesien, Marokko und Algerien – dabei waren, ihre Kolonialherren abzuschütteln und die nationale Unabhängigkeit zu erreichen.

Die heute übliche antiisraelische Propaganda behauptet oft, Israel sei ein kolonialistischer Staat, der die angestammte Bevölkerung, die Palästinenser, unterworfen, ihrer Rechte beraubt habe und sie ausbeute. Das stimmt schon deswegen nicht, weil die Juden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht nach Palästina gekommen waren, um die Palästinenser auszubeuten. Sie waren gekommen, um sich mit eigener Arbeit eine Existenz aufzubauen und einen Staat zu gründen. In gewisser Weise war das ein antikoloniales Vorhaben. Aus vielen Ländern insbesondere Europas wanderten Juden nach Palästina aus, um Verhältnissen zu entkommen, die denen Kolonialisierter nicht unähnlich waren: Da, wo sie herkamen, waren sie meist entrechtet, nicht als volle Staatsbürger anerkannt, vor Verfolgung, Gewalt und Pogromen nie ganz sicher, stets misstrauisch bis feindlich angesehen. So war der Zionismus, der jüdische Wunsch nach einem Staat, ein antikoloniales Bestreben. Die Palästinenser und insgesamt die Araber konnten das in ihrer Mehrheit nicht so sehen. Zwar war der arabischen Welt der antisemitische Furor vor dem 20. Jahrhundert fremd. Die Juden galten als dhimmis, als Schutzbefohlene, die in Sicherheit leben konnten, aber als minderwertig angesehen wurden und aus vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen blieben. Erst das Aufkommen des arabischen Nationalismus ließ im frühen 20. Jahrhundert die Judenfeindschaft anschwellen – oft von christlichen Gemeinden mit Eifer angestachelt.

Jenseits der arabischen Welt strahlte die jüdische Staatsgründung durchaus für eine Weile. Etwa in Asien. Man bewunderte die Entschlossenheit der Israelis, ihren kargen Boden fruchtbar zu machen. Und sympathisierte mit den Kibbuzim, die auf eine sozialistische Entwicklung Israels hinwirkten. Man bewunderte das Geschick der Israelis, sich der Möglichkeiten des technischen Fortschritts zu bedienen, um so Anschluss an die entwickelten Staaten der Ersten und Zweiten Welt zu bekommen. Und man bewunderte die Kühnheit, mit der Israel dem Versuch einer arabisch-palästinensischen Allianz widerstand, den jungen Staat unmittelbar nach seiner Gründung am 14. Mai 1948 militärisch zu zerstören. Daher wurde der Zionismus, der heute in etlichen muslimischen Staaten Arabiens, Afrikas und Asiens als ein Grundübel der Zeit gilt, damals noch bewundert. Die Staatsgründung Israels wurde als ein Akt nationalstaatlicher Selbstbestimmung gesehen, und zwar durchaus in Einklang mit dem eigenen Kampf um nationale Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Und auch der junge israelische Staat sah sich, teilweise zumindest, an der Seite der nationalen Befreiungsbewegungen. Es ist kein Zufall, dass etliche asiatische Staaten Israel früh diplomatisch anerkannten, zum Beispiel Japan 1952. Auch etliche mehrheitlich muslimische Staaten erkannten Israel früh an: die Türkei schon 1949, Persien 1950. Und Israel war seinerseits offensiv bemüht, sich auch für die Staaten stark zu machen, die ihm zumindest reserviert begegneten. Zwar stand in jedem Pass Malaysias, dass er für die Einreise in alle Staaten gültig sei, mit Ausnahme von Israel; das hielt Israel aber nicht davon ab, 1957 für die Aufnahme Malaysias in die Vereinten Nationen zu stimmen. Einige Jahre lang nach der Gründung Israels sah es so aus, als könne es ein halbwegs gutes Auskommen zwischen Israel, der einzigen Demokratie im Nahen Osten, und der Bewegung der Blockfreien Staaten geben, die sich Mitte der 1950er Jahre formierte.

Doch der Wind drehte sich bald. Die Sowjetunion und dann auch China versuchten seit den 1950er Jahren, die Völker, die für Unabhängigkeit kämpften, auf ihre Seite zu ziehen und gegen die freie Welt in Stellung zu bringen. Dazu passte der Schulterschluss mit einem Staat wie Israel nicht, dessen Schaffung zwar als ein Akt nationaler Befreiung gelten konnte, der aber in der antikolonialen Lesart den Makel trug, dass er sich an der Seite der westlichen Welt und zunehmend insbesondere der USA sah. Nun kam der Antisemitismus wieder zum Vorschein, der im zaristischen Russland wie später auch in der Sowjetunion eine lange Tradition hatte. Bezeichnungen, die in den sowjetischen Medien noch kurz zuvor für die Deutschen reserviert waren, wurden nun den Israelis angeheftet: Sie seien den Palästinensern gegenüber Rassisten und führten sich auf wie ein Herrenvolk. Yakov Malik, sowjetischer UN-Delegierter, hielt in der UN-Vollversammlung 1971 eine fulminante Rede gegen Israel. Ganz in der Diktion des rassistischen Antisemitismus sagte er an die Adresse Israels: „Hört auf, eure langen Nasen in unseren sowjetischen Garten zu stecken.“ Und er warf eine rhetorisch gemeinte Frage auf: „Das auserwählte Volk: Ist das nicht Rassismus? Wo ist der Unterschied zwischen Zionismus und Faschismus, wenn der Kern beider Ideologien aus Rassismus, aus Hass auf andere Völker besteht?“ 

Das war schon ein ungeheurer Schwenk: Binnen weniger Jahre wurde die Sicht auf den jüdischen Staat vollständig umcodiert. Eben noch eine zwingend gebotene Antwort auf das jahrtausendelange Leiden der Juden, das im Holocaust gipfelte, galt Israel jetzt als Unrechtsstaat, der aus dem Holocaust angeblich die Lehre gezogen hatte, selbst rassistisch zu werden. Dass Israel ein kleines Land ist, das sich verzweifelt einer feindlich gesonnenen Umwelt erwehren muss, war damals so vergessen wie es das heute ist.

Dass Israel zum Außenseiterstaat werden würde, zeigte sich schon Mitte der 1950er Jahre beim Zusammenschluss der Blockfreien Staaten. Diese versuchten, besonders auf der Bandung-Konferenz 1955, die auf Initiative Indonesiens zustande kam, zu einem eigenständigen Gravitationszentrum zwischen den beiden Blöcken des Kalten Krieges zu werden. Das misslang, weil sich unter den 29 Teilnehmerstaaten keine Mehrheit fand, die stark genug gewesen wäre, dem Anpassungsdruck zu widerstehen, der von der nicht eingeladenen Sowjetunion und der teilnehmenden Volksrepublik China ausging. Auf der Konferenz, dem ersten selbstbewussten Auftritt eines Zusammenschlusses von nichtwestlichen Staaten und Unabhängigkeitsbewegungen, wurden selbstbewusst Ideen einer neuen Völkerverständigung und -zusammenarbeit formuliert, deren Lektüre noch heute bewegt. Freilich: Israel, das gerne dabei gewesen wäre, wurde die Teilnahme verweigert. Der Judenstaat war unerwünscht. Vor allem auf Druck der acht arabischen Teilnehmerstaaten. Erstmals war Israel zugunsten der arabischen und insgesamt der islamischen Welt isoliert.

Diese antiisraelische Wende war kein Zufallsprodukt, sie hatte eine lange Vorgeschichte. Eine wichtige Figur war dabei Mohammed Amin al-Husseini (ca. 1895 bis 1974). Der glühende Antisemit, Antizionist und arabische Nationalist, der 1921 von den Briten zum Großmufti von Jerusalem eingesetzt worden war, hatte sein Leben lang das Ziel verfolgt, die Niederlassung von Juden in Palästina zu verhindern. An Deutlichkeit ließ er nichts zu wünschen übrig. Mit Blick auf Palästina sagte er: „Wir wollen keinen Fortschritt, keinen Wohlstand durch jüdische Einwanderung. Nichts anderes als das Schwert wird die Zukunft dieses Landes entscheiden.“ 1922 wurde er Präsident des Obersten Muslimischen Rates und galt als einflussreichster Araber in Palästina, der das höchste religiöse und politische Amt in sich vereinte. Er stand als treibende Kraft hinter Massakern an Juden und war der Drahtzieher des arabischen Aufstands 1936 bis 1939 gewesen. Schon 1933 hatte er sich dem NS-Regime angedient, wurde später – wie zahlreiche Fotos und Filmaufnahmen belegen – von Hitler und Himmler freundlichst empfangen. Er bot den NS-Größen seine Hilfe bei der Vertreibung aller Juden aus Palästina an. Von den Briten gesucht, floh er nach Deutschland. Er hielt Hetzreden, die vom Sender Zossen im Irak ausgestrahlt wurden, besichtigte die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz und verhinderte die Rettung jüdischer Kinder aus Rumä­nien. Nach dem Krieg floh er nach Kairo, wo er seine antijüdische Mission unter dem Schutz der Regierung Nasser fortsetzte.

Weniger bekannt ist, dass al-Husseini nicht nur ein arabischer Nationalist, sondern auch ein islamischer Internationalist war. Schon in den frühen 1930er Jahren war er zu der Überzeugung gelangt, dass die Araber allein nicht fähig sein würden, ein „judenfreies“ Palästina zu schaffen. So suchte er Verbündete außerhalb des Nahen Ostens, etwa in Indien – wo er in der Friedensikone Mahatma Gandhi einen Verbündeten fand, der den Juden das Recht auf einen eigenen Staat strikt absprach. Vor allem versuchte al-Husseini, die Staaten mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung für seinen Antizionismus zu gewinnen. Er erklärte den Antizionismus der Palästinenser zum Teil des weltweiten antiimperialistischen Befreiungskampfs. Anders als Israel war der gar nicht eingeladene al-Husseini ein gern gesehener Gast auf der Bandung-Konferenz 1955. Wie alle anderen arabischen Teilnehmer hielt er eine antiisraelische und antijüdische Brandrede, in der er behauptete, in Wahrheit wollten die Zionisten ein riesiges Reich errichten, das Jordanien, Syrien, Libanon, den Sinai, den Irak und das ägyptische Delta umfassen sollte. Die Konferenz huldigte al-Husseini als einem Vorkämpfer der Dekolonisation. Fotos zeigen ihn in vertrautem Gedankenaustausch mit dem chinesischen Ministerpräsidenten Zhou Enlai, dem großen Star der Konferenz. Oder auf dem Boden sitzend beim Gebet mit Ägyptens Staatspräsident Gamal Abdel Nasser und König Faisal von Saudi-Arabien. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der Brückenschlag zwischen den Blockfreien Staaten und den geradezu mythisch überhöhten Palästinensern vollzogen. Israel galt fortan zumindest als Störenfried, meist aber als im Grunde illegitimer Staat, der zu verschwinden habe. Weder die Blockfreien noch die in den Vereinten Nationen versammelte Weltgemeinschaft standen dem Staat Israel bei, im Gegenteil. Ein Einvernehmen der Blockfreien und der arabischen Welt mit dem Westen war nun nicht mehr möglich.

Man ist heute geneigt, das für unabänderlich zu halten. Doch so war es nicht immer, auch der ­Orient machte sich einmal auf den Weg gen Westen, gen Europa. Der 1891 im österreichisch-ungarischen Prag geborene jüdische Historiker und Philosoph Hans Kohn beschäftigte sich sein wissenschaftliches Leben lang mit der Erforschung des seit dem 19. Jahrhundert jäh erstarkten Nationalismus. Nach 1924 lebte er, vom Zionismus geprägt, fast ein Jahrzehnt lang in Palästina. In dieser Zeit schrieb er das umfangreiche Werk „Die Europäisierung des Orients“, das 1934 in Deutschland noch bei Schocken erscheinen konnte. Darin zeichnet er die wirtschaftliche, kulturelle und politische Entwicklung der arabischen Welt von den Anfängen bis in die Gegenwart nach. 

Das faktenreiche Buch hat einen ungemein optimistischen Zug. Der Autor stellt die revolutionären Ideen und Projekte der ägyptischen wie der türkischen Modernisierer des 19. und 20. Jahrhunderts vor, die von Europa lernen und meist muslimisch bleiben wollten. Und er ist sich sicher, dass deren Ansatz die Zukunft gehören würde. Gegen Ende des Buches schreibt er, heute würden „alle kolonialen und halbkolonialen Völker sich zu entwickeln beginnen, in die Richtung einer steigenden aktiven Anteilnahme an dem Kultur- und Wirtschaftsleben der Menschheit. Eines Eintritts aller in die große menschliche Gesellschaft. Eines Versuchs, die Gestaltung ihres Lebens selbst in die Hand zu nehmen und es unter dem Aufprall der übermächtigen europäischen Kultur neu zu ordnen und ihr einzuordnen.“ Das war ein schöner, wohl auch naiver Traum. Der Orient nahm einen anderen Weg.

Die Malediven, im Indischen Ozean gelegen und als Taucherparadies geschätzt, bestehen aus knapp 1200 Inseln. Religionsfreiheit herrscht hier nicht, außer dem Islam sind alle anderen Religionen verboten. Es gibt keine Juden auf den Malediven. Dennoch war in der Hauptstadt Malé im Dezember 2023, drei Monate nach dem Hamas-Massaker, auf einem Wellblechzaun diese Aufschrift zu lesen: „GAS THE JEWS“. Dass die Juden und der Judenstaat so viele Feinde haben, wird oft mit der Fortdauer des Antisemitismus weltweit begründet. Das stimmt und stimmt doch nicht. Auch ohne Juden gibt es weltweit Antisemitismus. Etwa in Indonesien, das mehr als 270 Millionen Einwohner hat, darunter gerade einmal 20 Juden. Oder in Afghanistan, das 2021 der letzte Jude verlassen hat. Die in etlichen Staaten Asiens und Afrikas beliebte antikolonialistische Begründung der Juden- und Israel-Feindschaft ist nur eine Krücke. 2000 Jahre lang lebten die Juden ohne Staat, verstreut über die Welt. Überall waren sie die nicht dazu Gehörigen, die untereinander zusammenhielten – weswegen der Aufklärer Voltaire sie so hasste, der alle Menschen unter dem Dach seiner Vernunft zwangsvereinigen wollte. Das beharrliche Anderssein der Juden haben die Völker der Welt nicht vergessen.

Für viele bleibt der jüdische Staat daher ein Fremdkörper, der stört, der aus der Regel fällt. Erst recht, da die Juden plötzlich nicht mehr zerstreut, verfolgt, schwach sind, sondern wehrhaft. Man verzeiht den Juden ihren Staat nicht. Und dieses Unbehagen lässt sich in aller Welt leicht aus der Latenz erwecken. Mal nimmt es antikolonialistische, mal christlich oder islamisch religiöse Gestalt an. Mal auch rassistische – bei Rechtsradikalen ebenso wie bei Teilen der People of Color oder vielen Hindu-Nationalisten. Nicht zuletzt kommt er in Sätzen wie diesem zum Vorschein: „Ich persönlich habe nichts gegen Juden …“.

Antisemitismus hat keinen Platz in Deutschland: Das ist ein sehr dummer Satz. Denn Antisemitismus hat überall Platz, er ist immer gegenwärtig. Und da er Argumenten nicht zugänglich ist, kann man den Antisemiten auch kaum belehren. Die Erfahrung der vergangenen Jahrzehnte zeigt, dass es zwar schwierig, aber doch möglich ist, Rassisten von der Haltlosigkeit ihrer Ressentiments zu überzeugen. Das gilt für den Antisemitismus nicht. Denn er ist einfach da. Alle Versuche, etwas hervorzuholen, was angeblich „hinter“ dem Antisemitismus und der Feindschaft gegen Israel steht, sind fruchtlos. Es gibt da nämlich nichts. Jan Philipp Reemtsma schreibt: „Die Geheimnislosigkeit des Antisemitismus ist sein anhaltendes Karrieremodell.“ Zum Besonderen des Antisemitismus gehört, dass er sich gegen ein Volk richtet, also partikularistisch ist, zugleich aber allgegenwärtig. Reemtsma: „Der Antisemitismus hat in seiner Geschichte eine eigene Art Universalismus herausgebildet.“

Er ist so selbstverständlich, dass man ihn leicht übersieht. Oder gar nicht bemerkt, nicht bemerken will. Wer stößt sich schon daran, dass Bischof Ambrosius von Mailand (339 bis 397), einer der vier lateinischen Kirchenväter, zur Ausrottung der Juden aufrief? Oder dass Johannes Chrysostomos (um 345 bis 407), Patriarch von Konstantinopel und ebenfalls einer der lateinischen Kirchenlehrer, die Juden als „brünstige Hengste“ und „Dämonen“ bezeichnete? Wen verstört es noch, dass der Bruderrat der Evangelischen Kirche in Deutschland 1948, drei Jahre nach dem Ende des Holocaust, in seinem „Wort zur Judenfrage“ die Juden zur Bekehrung aufforderte und ihnen in drohendem Gestus zurief: „Dass Gott nicht mit sich spotten lässt, ist die stumme Predigt des jüdischen Schicksals“? Gemeint war, der Holocaust sei eine Strafe Gottes gewesen für die Weigerung der Juden, zum Christentum zu konvertieren. Dass der evangelische Theologe Martin Niemöller, im Widerstand gegen das NS-Regime und später ein Exponent der Friedensbewegung, in einer Predigt 1935 von den „gottverfluchten Juden“ sprach und noch 1967 sagte, „wenn ich Araber wäre, wäre ich bestimmt Antisemit“: Niemöllers Ruf schadet das bis heute nicht. Wie sich auch kaum jemand daran stört, dass der Volks- und Linksbarde Mikis Theodorakis die Juden mehrfach als die „Ursache alles Bösen“ bezeichnete.

Ägyptens Nasser gilt bis heute als progressiver Nationalist. Nicht einmal das schlichteste Gemüt, sagte er einmal, nehme „die Lüge von sechs Millionen ermordeten Juden ernst“. Das ist ebenso vergessen wie die Tatsache weithin unbekannt ist, dass der junge Recep Tayyib Erdoğan 1975 ein jahrelang überall in der Türkei aufgeführtes antisemitisches Theaterstück geschrieben hat. Es trägt den Titel „Mas-Kom-Yah“, eine Abkürzung von „Mason, Komünist ve Yahudi“, auf Deutsch: Freimaurer, Kommunist und Jude.

Dass diese Beispiele, deren Liste sich leicht verlängern ließe, von der nicht­jüdischen Öffentlichkeit bestenfalls mit halbem Auge zur Kenntnis genommen und als Warnung verstanden werden, zeigt, wie schwach die Empathie für Juden und auch Israel entwickelt ist. Juden sind nach wie vor kein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Wir blicken nicht mit Augen von Juden in die Welt. Auch das nützt dem arabischen, asiatischen, afrikanischen Anti-Judaismus. Und hilft, die Isolierung des Staates Israel zu betreiben.

Im Juni 1960 hielt der Historiker Golo Mann vor dem Rhein-Ruhr-Club in Düsseldorf einen Vortrag mit dem Titel „Der Antisemitismus“. Darin ging er auch der Frage nach, warum so viele Deutsche die Weimarer Republik ablehnten. Seine Antwort: weil sie sie „als Judenrepublik, als undeutsche und fremde Sache angesehen“ hätten. Dann fragte er nach dem Grund für „die vergleichsweise Entspanntheit, die heute das öffentliche Leben in Deutschland bezeichnet“. Und er wagte eine Antwort, die er für zynisch und bedenklich hielt, die aber leider wohl zutreffend sei. Dass die Deutschen die Bundesrepublik als „ihr eigenes Heim“ ansähen, liege „zweifellos zu einem guten Teil daran, dass es in der Bundesrepublik praktisch keine Juden mehr gibt“. Standen am Anfang der bundesdeutschen Erfolgsgeschichte also womöglich weniger die Einsicht in die Verbrechen Deutschlands und der Wunsch, es nun besser zu machen – sondern eher die Tatsache, dass fast keine Juden mehr in Deutschland lebten, die hätten „stören“ können?

Wie durch kommunizierende Röhren hat sich in der Welt – mal deutlich, mal kaum wahrnehmbar – die Ansicht etabliert, dass es klug und richtig ist, den Juden und dem Staat Israel gegenüber tunlichst auf Distanz zu bleiben. Oder sie zu bekämpfen. Das kleine Israel, von Abermillionen ihm meist feindlich gesonnenen Arabern umgeben, ist ein starker Staat. Aber auch ein unwahrscheinlicher, weil er immer bedroht ist. Weil er als einzige Demokratie der Region und als Konsequenz einer zwei Jahrtausende langen Geschichte der Verfolgung als fremd, als Skandal wahrgenommen wird. Der „Jude unter den Staaten“ braucht auch deswegen das, was von links her einmal so hieß: internationale Solidarität.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2024, S. 105-111

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Thomas Schmid ist Journalist, Autor und Publizist; er war Herausgeber der Tageszeitung Die Welt.

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