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01. Okt. 2004

Der Stabilitätspakt darf nicht aufgeweicht werden!

Der Autor, als deutscher Finanzminister „Erfinder“ des Stabilitätspakts, übt scharfe Kritik: Mit
Nachhaltigkeit hat die deutsche Finanzpolitik schon seit einigen Jahren nichts mehr am Hut. Eine
Änderung des Stabilitätspakts zu Gunsten der deutschen oder französischen Defizitsünder würde
die Schuldenlast für kommende Generationen inakzeptabel verstärken. Deswegen darf es gerade
für die größte Volkswirtschaft der EU keine Ausnahmen geben.

Als vor etwa zehn Jahren in Deutschland die Diskussion um die Notwendigkeit eines Stabilitätspakts als Ergänzung zum Vertrag von Maastricht entbrannte, ahnte niemand, welche Aktualität ein solches Regelwerk zehn Jahre später haben würde.

Die flagranten Verbuchungsmanöver der früheren griechischen Regierung, die sich damit den Beitritt zur Eurozone möglicherweise erschlichen hat, aber auchdie anhaltende Kriteriumsüberschreitung von Deutschland und Frankreich sind klare Vertragsverletzungen. Die auf Initiative von Deutschland und Frankreich zustande gekommene Aufhebung des Defizitverfahrens gegen diese beiden großen Mitgliedsländer wurde vom Europäischen Gerichtshof als europarechtswidrig aufgehoben.

Die unheilige Allianz der Defizitsünder wurde damit vorläufig gestoppt. Nicht aus besserer Einsicht, sondern um wieder Frieden mit den größten Euroländern zu schließen, schlägt die Kommission eine Flexibilisierung der Kriterien vor, ohne die Zahlen des Vertrags von Maastricht (3% für das laufende Haushaltsjahr, 60% Gesamtschulden gemessen am Bruttosozialprodukt) zu verändern – zumal der Vertrag nur einstimmig revidiert werden könnte. Die Europäische Zentralbank lehnt diese Korrekturwünsche ab, ebenso die Deutsche Bundesbank und die große Mehrheit der Finanzwissenschaftler in Deutschland.

Für eine objektive Beurteilung ist es notwendig, die Genesis des Stabilitätspakts und die übergreifenden Ideen und Prinzipien, die zu diesem Vertragswerk führten, darzustellen. Nach der Unterzeichnung des Maastricht-Vertrags am 2. Februar 1992 wurde in Deutschland die berechtigte Frage gestellt, was passiert, wenn ein europäisches Land 1997 und 1998 mit größter Anstrengung die Konvergenzkriterien erreicht und Mitglied der Währungsunion wird, später aber ungehemmt dagegen verstößt? Was geschieht, wenn andere Mehrheiten und neue Regierungen den Spar- und Konsolidierungskurs aufgeben und zu einer exzessiven Ausgabenpolitik zurückkehren?

Immerhin betrugen die Staatsdefizite in einigen Ländern zu diesem Zeitpunkt noch 5% und mehr. Wenige Jahre zuvor waren Staatsdefizite von 10% keine Seltenheit. Damals war der Preis, den diese Staaten für ihre expansive Ausgabenpolitik zahlen mussten, hohe Zinsen und hohe Inflation. Innerhalb einer gemeinsamen Währungszone bleiben die Zinsen einheitlich niedrig und Stabilitätsländer, d.h. Mitgliedsländer die ihr Staatsdefizit innerhalb der Konvergenzkriterien halten, tragen die Kosten, die Haushaltssünder verursachen, mit.

Der Stabilitätspakt, der 1995 auf deutsche Initiative hin beraten und 1997 dann verabschiedet wurde, dient daher der Stabilität der gemeinsamen Währung: Er schützt die Stabilitätsländer vor den Defizitländern und ist ein Bollwerk der kleineren Länder gegen die Finanzkraft der Großen.

Der Pakt ist aber mehr als nur ein Regelwerk der Finanztechnik. Erstmals wurde Anfang der neunziger Jahre das Prinzip der Nachhaltigkeit in der Finanzpolitik postuliert.

Die demographische Entwicklung und die finanzielle Krise der sozialen Sicherungssysteme zwangen zum Umdenken in der Finanzpolitik. Was in der Umweltpolitik bereits zwei Jahrzehnte zuvor diskutiert wurde, fand Eingang in die Finanztheorie. Selbst ein als gering anzusehendes Staatsdefizit von 1%, das von Bundesbank und Sachverständigenrat früher als tolerabel angesehen wurde, war mittel- und langfristig nicht mehr hinnehmbar. Die dramatische Bevölkerungsentwicklung und die erkennbare Krise der Sozialsysteme zwingen die europäischen Staaten angesichts der Globalisierung der Volks- und Finanzwirtschaften zu einer radikalen Umkehr der Haushaltspolitik. 3% Staatsdefizit sind unter diesen Umständen nicht mehr vertretbar.

Mittelfristig ist ein Haushaltsausgleich und langfristig ein Überschuss notwendig, damit nicht einer kleiner werdenden jungen Generation die Last der Schuldentilgung einer relativ starken älteren Generation zusätzlich zu den Renten- und Pensionsverpflichtungen aufgebürdet wird. Länder mit einer erheblichen Alterung wie Deutschland und insbesondere Italien können sich noch weniger Defizite erlauben als andere. Für Deutschland ergibt sich aus den demographischen Belastungen eine implizite Staatsverschuldung, die mit 250% (!) des BSP und nicht wie finanztechnisch mit 65% angesetzt werden müsste. Diese Entwicklung verlangt Überschüsse statt Defizite.

In Deutschland hatten alle politischen Kräfte – darunter die damaligen Ministerpräsidenten von Niedersachsen und Hessen, Gerhard Schröder und Hans Eichel, Bundesbank und Sachverständigenrat – eine solche bindende Stabilitätsregel gefordert. Auf dem EU-Gipfel 1996 in Dublin gelang es, die Grundzüge und das Prozedere im verbindlichen Europäischen Recht zu fixieren.

Die Ausnahmeregeln bieten genügend Flexibilität, um in einem schwierigen ökonomischen Umfeld keine falsche prozyklische Politik betreiben zu müssen. Deutschland hatte 1997 das Kriterienziel mit 2,7% und 1998 mit 2% gut geschafft. 1999 und 2000 brachte eine günstige Konjunktur sogar Defizitzahlen von 1,6% und 1,2%.

Das bot einen Spielraum von etwa 40 Milliarden Euro, um in einer schwierigen Konjunktur die automatischen Stabilisatoren wirken zu lassen, d.h. geringere Steuereinnahmen nicht durch zusätzliche Einsparungen ausgleichen zu müssen.

Wenn nun Deutschland drei Mal hintereinander und mutmaßlich auch 2005 die Drei-Prozent-Hürde reißt, gibt es dafür keine Entschuldigung und keine Ausnahmeregelung.

Was bei kleineren Ländern wie Portugal und nunmehr Griechenland geschehen muss, kann Deutschland und Frankreich nicht erspart werden. Sie müssen unverzüglich durch zusätzliche Konsolidierungsmaßnahmen ihre Haushalte in Ordnung bringen und durch Reformen ihrer Arbeitsmärkte und Sozialsysteme mehr Wachstum schaffen.

Die Kriterien von Maastricht basieren auf einem Nominalwachstum von 5%. Das ist in absehbarer Zeit nicht erzielbar. Eigentlich müssten die Defizitzahlen schon deswegen noch früher gesenkt werden, damit die Verlagerung der Generationslast nicht zu Konflikten zwischen den Generationen führt. Dazu gehört, dass der Schuldenberg einiger Länder (wie beispielsweise Belgien und Italien) schneller reduziert wird. Das geht nur, wenn diese Länder Überschüsse statt Defizite erwirtschaften.

Keinesfalls darf der Stabilitätspakt aufgeweicht werden. Die Überwachungs- und Sanktionsfunktion der Europäischen Kommission müsste verstärkt werden. Die Defizitländer dürften an Verfahren gegen andere Länder nicht mitwirken, und das Sanktionsverfahren sollte keinesfalls länger als zehn Monate dauern, damit zeitnahe Entscheidungen ergehen können.

Meine Hoffnung ist, dass kleinere Stabilitätsländer wie Österreich und die Niederlande oder ein finanzpolitisch erfolgreiches Land wie Spanien mit seinem Finanzminister Pedro Solbes eine verhängnisvolle Aufweichung des Stabilitätspakts verhindern. Eine starke europäische Währung wie der Euro braucht eine klare, verlässliche, nachhaltige Finanzpolitik in allen Ländern, die den Euro eingeführt haben oder dies beabsichtigen.

Eine junge Währung wie der Euro braucht Vertrauen. Bisher hat er sein Potenzial nach innen hinsichtlich der Preisstabilität entfacht. Der Euro schafft Transparenz im Hinblick auf den Standortwettbewerb und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Volkswirtschaften. Ursache für die Wachstumsschwächen beispielsweise der deutschen Volkswirtschaft sind die mangelnden und widersprüchlichen Reformschritte seit 1999.

Auf europäischer Ebene gilt es, den „Lissabon-Prozess“ entschieden umzusetzen. Das ist wichtiger und Erfolg versprechender als eine überflüssige und schädliche Änderung des Stabilitätspakts.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2004, S.103-106

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