Brief aus...

03. Jan. 2022

Istanbul: Der Präsident, 
der Bürgermeister und Boji, der Straßenhund

Im Ringen zwischen türkischer Regierung und Opposition spielt die Stadt am Bosporus eine Hauptrolle.

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Bild: Zeichnung Panorama Istanbul
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Bevor wir uns der Zukunft von Recep Tayyip Erdoğan zuwenden, möchte ich vom Straßenhund Boji berichten. Es ist eine Geschichte, wie sie typisch ist für Istanbul, die Istanbuler lieben ja ihre halbwilden Hunde und Katzen, sie füttern sie und zimmern ihnen mehrstöckige Paläste. Sie zeigt auch, wie wenig es in dem polarisierten Land braucht, um einen politischen Shitstorm zu entfachen.

Boji hatte einen Hype ausgelöst, weil er täglich große Strecken mit dem Istanbuler ÖPNV zurücklegte. Man konnte ihm in der U-Bahn begegnen, in der Tram, auf den Fähren; die Istanbuler zückten ihre Handys, Boji bekam eigene ­Social-Media-Accounts, bald hatte er Tausende Follower – mehr als 130 000 allein auf Twitter. So viel Beliebtheit wusste die Stadtverwaltung für sich zu nutzen: Sie machte Boji zum Testimonial, wobei der Hund nicht nur für den ÖPNV warb, sondern auch Sympathien für Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu erkennen ließ, Hoffnungsträger der oppositionellen CHP mit Ambitionen auf das Präsidentenamt.



Bald darauf kursierten auf AKP-nahen Accounts Fotos von einem kotverschmierten Sitz; dem „Diensthund des Bürgermeisters“ wurde vorgeworfen, er habe sein Geschäft in der Tram erledigt. Die Stadtverwaltung konterte mit einem Überwachungsvideo, das zeigt, wie ein Mann den Haufen gezielt platziert. Der Streit schaukelte sich hoch, die Politik meldete sich zu Wort, die Presse griff den Fall auf. Mehr als 15 Millionen Mal wurde das „Beweisvideo“ angeklickt.



War der Haufen nun ein politisches Manöver – oder ein schlechter Scherz? Wir werden es wohl nie sicher wissen. In meinem Istanbuler Freundeskreis hat jeder seine eigene Theorie dazu. Wenn Boji-Gate eines zeigt, dann, dass Istanbul zum wichtigsten Schauplatz im Ringen zwischen Opposition und Regierung geworden ist. 2019 hatte İmamoğlu Erdoğans Partei die Stadt abgejagt, erst knapp, dann, als die AKP die Wahl wiederholen ließ, noch einmal deutlich. Seitdem gilt er als einer, mit dem bei der Parlaments- und Präsidentschaftswahl im Jahr 2023 zu rechnen ist – oder früher, falls sie vorgezogen wird.

İmamoğlu regiert die 16-Millionen-Metropole unter erschwerten Bedingungen, ständig funkt ihm die Zentralregierung dazwischen. Vor Kurzem hat ihm Erdoğan per Präsidialdekret die Hoheit über die Prinzeninseln entzogen. Zuvor war es auf einer der Inseln fast zur Schlägerei zwischen städtischen und nationalen Sicherheitskräften gekommen; İmamoğlu wollte ein Gebäude räumen lassen, das die Stadt in AKP-regierten Tagen für sehr kleines Geld an eine Stiftung vermietet hatte, zu deren Gründern Erdoğans jüngster Sohn zählt.



İmamoğlus Feldzug gegen die Vetternwirtschaft der AKP findet durchaus Zustimmung. Im Moment kennen die Menschen fast nur ein Thema: die Inflation. Ende November lag sie offiziell bei fast 20 Prozent; die Lira verlor seit Jahresbeginn fast die Hälfte ihres Wertes.



Produkte wie Zwiebeln und Tomaten werden zum Luxusgut. „Ständig und überall reden alle über die Preise“, stöhnt ein befreundeter Autor und Kolumnist. „Sogar im Restaurant: Da wird schon an der Tür nach den Preisen gefragt, denn wer weiß, wo die aktuell schon wieder liegen.“ Viele Menschen, vor allem Rentner, würden nur von ihren Verwandten über Wasser gehalten. „Und auf dem Basar, wo man bisher ums Kilo gefeilscht hat, wird jetzt stückweise gekauft.“



Proteste gab es lange eher punktuell – etwa von Studenten, die sich die Mieten nicht mehr leisten können. Inzwischen aber wächst die Wut. Zumal Erdoğan das Problem noch anheizt. Stur bleibt er bei seiner Politik der niedrigen Zinsen, obwohl namhafte Ökonomen das für fatal halten. Wer sich ihm in den Weg stellt, ist seinen Job bald los. Soeben hat er seinen Finanzminister ausgetauscht, der gerade mal ein Jahr im Amt war. Ähnlich viel Fluktuation gibt es an der Spitze der Zentralbank: Der jetzige Chef ist der vierte in fünf Jahren.



Zu sagen, dass Erdoğan unter krassem Druck stehe, wäre also untertrieben. Mag sein, dass es noch ein paar Türken gibt, die daran glauben, dass ihr geschätzter „Reis“ (Anführer) weiß, was er da tut. Aber viele sind es nicht mehr. Im Oktober sah eine Umfrage die AKP mit 28 Prozent erstmals hinter der CHP. Da hilft es Erdoğan wenig, gegen die „internationale Zinslobby“ zu wettern. Gute Wirtschaftsdaten hatten ihm stets als Legitimation seiner Machtfülle gedient. Verlässt ihn der Erfolg, steht sein System infrage.



Hinzu kommen Spekulationen über Erdoğans Gesundheit. Weil er bei öffentlichen Auftritten eingenickt war, sah sich der Palast genötigt, Belege für die Fitness des 67-Jährigen zu liefern. Das Video, das dann viral ging und Erdoğan beim Altherren-Basketball zeigte, war unfreiwillig komisch. Die Gerüchte entkräftete es nicht, vielmehr fragen sich die Leute, warum der Präsident so schlechte Berater hat.



Für die Opposition ist das eine günstige Entwicklung. Aber, wie mich eine befreundete Journalistin kürzlich warnte: „Wir sollten ihn nicht vorschnell abschreiben – der ist zäh!“ Sechs Parteien haben sich zusammengeschlossen, um die Ära Erdoğan zu beenden. Damit der Machtwechsel gelingt, müssen sie einige Hürden überwinden: Das Bündnis muss bis zur Wahl halten, und es muss sich auf einen passenden Kandidaten einigen. Im Gespräch sind İmamoğlu und Mansur Yavaş von der CHP, seit 2019 Bürgermeister von Ankara.



Und was, wenn das Wahlergebnis sehr knapp ausfällt? In meinem Bekanntenkreis rechnen erstaunlich viele für diesen Fall mit dem Schlimmsten. „Der geht nicht freiwillig“, sagt etwa mein Kolumnistenfreund. „Er wird seine Anhänger auf die Straße bringen, und dann gibt es Ausschreitungen.“



Luisa Seeling ist freie Journalistin. Ihre Texte sind u.a. in der Süddeutschen Zeitung und der ZEIT erschienen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 118-119

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