Der Partner an der Themse
Der Brexit ist vollzogen, die Ära Merkel geht zu Ende. Für einen Aufbruch in den deutsch- britischen Beziehungen gibt es eine Reihe von Anknüpfungspunkten.
Die Jahre nach der Brexit-Abstimmung haben die Beziehungen des Vereinigten Königreichs zu Deutschland, das sich im Gegensatz zu anderen EU-Staaten nur langsam mit der britischen Entscheidung abfinden konnte, lange Zeit belastet. Nun aber wächst das Verlangen, die bilateralen Beziehungen zu verbessern.
Die Regierung von Premierminister Boris Johnson lehnt es allerdings weiterhin ab, in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik institutionalisierte Arrangements mit der EU einzugehen. Deutsche Regierungsvertreter stellen sich daher bis auf Weiteres darauf ein, dass der einzige Weg zu besseren Beziehungen mit London darin besteht, ein Verhältnis zu akzeptieren, das nicht über die EU läuft. In Berlin erscheint dies vielen allerdings wenig einsichtig; als wichtiges Ziel gilt weiterhin, ein Arrangement der EU mit Großbritannien zu finden.
Nichtsdestotrotz arbeiten die Regierungen in London und Berlin derzeit an einer bilateralen Erklärung zur Außenpolitik, um darin gemeinsame Standpunkte zu skizzieren – vom Westbalkan über die regelbasierte internationale Ordnung bis hin zu China – und um ihre Außenministerien auf einen jährlichen strategischen Dialog zu verpflichten.
Auf einer Wellenlänge?
Offizielle beider Seiten betonen bei zahlreichen Gelegenheiten, wie nah Berlin und London sich seien. Tatsächlich kooperiert man bei einer Bandbreite von Fragen, vom Atomabkommen mit dem Iran bis zum Umgang mit Russland, und betrachtet sich als gleichgesinnte Partner. In der kürzlich erschienenen Integrated Review der britischen Regierung wird Deutschland sogar als unverzichtbarer Verbündeter und Wunschpartner hervorgehoben.
Das strategische Dokument entwirft eine Vision für Global Britain, die – obwohl darin die Europäische Union kaum erwähnt wird – mit den deutschen Prioritäten völlig übereinstimmt: Im Vordergrund stehen die Bekämpfung des Klimawandels, die transatlantischen Beziehungen und die Stärkung des Multilateralismus. Allerdings sollten diese sich überlappenden Interessen nicht verbergen, dass beide Staaten auch Differenzen haben, die sich nicht allein auf ihre entgegengesetzten Entwicklungspfade in Europa reduzieren lassen.
Ein Unterschied liegt in der strategischen Kultur und globalen Perspektive der Staaten. Das Vereinigte Königreich ist ein Nuklearstaat mit einem breiten Spektrum an militärischen Handlungsmöglichkeiten, Expeditionsstreitkräften, einem Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat sowie mit Präsenz und Gestaltungsanspruch auf globaler Ebene. Insofern ähnelt Großbritannien eher Frankreich.
Deutschland dagegen verfügt zwar über weitreichende ökonomische und diplomatische Ressourcen, strebt jedoch nicht nach einer führenden diplomatischen oder militärischen Rolle. Vielmehr bieten die EU, aber auch die UN oder die NATO den Rahmen, der die Identität und das auswärtige Engagement Deutschlands aus politischen und verfassungsrechtlichen Gründen begrenzt.
Neue und angemessene Formate der Zusammenarbeit zu entwickeln, wird für die Zukunft der britisch-deutschen Beziehungen entscheidend sein – gerade vor dem Hintergrund, dass deutsche Regierungsvertreter multilaterale, institutionalisierte Systeme (wie die EU) lockeren intergouvernementalen Formaten vorziehen. Dies gilt auch für die E3-Gruppe mit dem Vereinigten Königreich und Frankreich: Andere europäische Staaten könnten ihr Interesse bekunden, in dieser Konstellation ein Wörtchen mitzureden, oder der Gruppe eine Umgehung von EU-Institutionen vorwerfen.
In Sachen Verteidigungspolitik unterzeichneten die beiden Staaten 2018 eine gemeinsame Erklärung, um ihre Zusammenarbeit in Themenfeldern wie der Entwicklung militärischer Fähigkeiten oder der Bekämpfung von Extremismus voranzubringen. Insgesamt aber bleibt die früher sogenannte „stille Allianz“ eine unauffällige Verteidigungspartnerschaft, wenngleich es in jüngerer Vergangenheit in Berlin durchaus bedeutsame Entwicklungen gab, die auch in London zur Kenntnis genommen wurden – etwa die Entsendung der Fregatte Bayern in den Indo-Pazifik, für Deutschland der erste Einsatz dieser Art seit fast 20 Jahren.
Ein zweiter Unterschied ist grundsätzlicher Natur und bezieht sich auf die Interessen und Prioritäten der beiden Staaten, die in großen geopolitischen Fragen unterschiedliche Ansätze verfolgen. Was beispielsweise Russland angeht, sind Berlin und London uneins; dies zeigt sich etwa in der trotz zahlreicher Vorwürfe mehrerer US-Regierungen fortdauernden Unterstützung der deutschen Regierung für die Pipeline Nord Stream 2.
Die Ansätze hinsichtlich der Herausforderung durch China unterscheiden sich ebenfalls: Während die Regierung Johnson näher an die harte Linie der US-Regierung heranrückt, versucht die deutsche Regierung unter Angela Merkel weiterhin, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit China und die Sicherheitsgarantie der USA getrennt zu betrachten. Dies wurde in den vergangenen Monaten besonders deutlich, als die deutsche Regierung als EU-Ratspräsidentin auf den Abschluss des Investitionsabkommens mit China (CAI) drängte, während London als Antwort auf Chinas neues Sicherheitsgesetz den Hongkongern einen Weg zur britischen Staatsbürgerschaft eröffnete.
Grüne Neuausrichtung?
Da die strategische Ausrichtung Großbritanniens nun klarer erscheint, ist es an Deutschland, die eigenen Ansätze zu hinterfragen. Mit Blick auf die Bundestagswahlen im September und das nahende Ende der Merkel-Ära sehen viele Beobachter den Moment für eine strategische Erneuerung Deutschlands gekommen – mit gestiegenen Erwartungen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Grünen werden voraussichtlich den Weg in eine der vielen farbenfrohen Koalitionsoptionen finden („Jamaika“, „Ampel“ usw.). Am wahrscheinlichsten ist allerdings eine erstmalige Koalition aus CDU/CSU und Grünen, weswegen in London darüber nachgedacht wird, wie die außenpolitischen Positionen der Grünen mit den Interessen Großbritanniens zu vereinbaren wären.
Die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hat zuletzt die Bedeutung außen- und sicherheitspolitischer Themen betont. Sie argumentiert, Deutschland brauche eine starke und aktive Außenpolitik. Deutsche und Europäer sollten mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen – eine Position, die im Vereinigten Königreich gern gehört wird, besonders, wenn sie von der starken transatlantischen Agenda, der sich London verpflichtet fühlt, untermauert wird. Die grüne Außenpolitik stimmt insgesamt mit den Kernanliegen der Biden-Regierung überein, die wiederum denen der Johnson-Regierung ähneln, wie sie in der Integrated Review dargelegt wurden: Klimapolitik, Unterstützung für Menschenrechte und demokratische Werte sowie eine härtere Position gegenüber Moskau und Peking (zum Beispiel durch das Ende der politischen Unterstützung für das Nord-Stream-2-Projekt oder eine stärkere Positionierung gegen chinesische Menschenrechtsverletzungen in Hongkong sowie die Zwangsarbeit in Xinjiang – ganz im Einklang mit Maßnahmen, die die britische Regierung kürzlich selbst umgesetzt hat).
Jedoch liegen für London potenzielle Problemfelder beim Niveau der Rüstungsausgaben, einer möglicherweise restriktiveren Waffenausfuhrpolitik und der nuklearen Abschreckung. Denn die Grünen wollen sich nicht zum 2-Prozent-Ziel der NATO bekennen und haben mit der jüngsten Entscheidung für den Ausbau des britischen Atomwaffenarsenals sicher ihre Schwierigkeiten.
Der wichtigste Zankapfel wird aus britischer Perspektive aber in der europäischen Dimension der deutschen Politik liegen. Baerbock hat sich für klare und gemeinsame Positionen der EU in zentralen außenpolitischen Feldern sowie für mehr Zusammenarbeit in sicherheitspolitischen Fragen ausgesprochen; die Vision der Partei basiert auf einem integrierten und geeinten Europa. Ein größeres Gewicht der EU als zentrales Instrument der Außenpolitik könnte für Großbritannien eine Herausforderung werden. Schließlich hat es eine strukturierte Kooperation mit EU-Institutionen ausgeschlossen. Allerdings ist, selbst wenn die Deutschen ihr Bestes geben, eine effektive Außen- und Sicherheitspolitik der EU noch kein Selbstläufer – qualifizierte Mehrheitsabstimmungen einzuführen, um die Entscheidungsfindung auf EU-Ebene zu beschleunigen, wird kein leichtes Unterfangen sein und einige Zeit in Anspruch nehmen.
Niemand erwartet ernsthaft, dass aus der Europäischen Union in absehbarer Zeit ein vollwertiger Akteur werden könnte, der die bilaterale Zusammenarbeit mit London unnötig machen würde. Zudem bleibt abzuwarten, inwieweit die grüne Integrationsoffensive tatsächlich eine spürbare Veränderung zu aktuellen deutschen Positionen in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik der EU herbeiführen würde.
Kontinuitätsreflexe
Im wahrscheinlichen Fall einer Koalition mit der CDU/CSU würde der Einfluss der Grünen zudem durch den Kontinuitätsreflex der Union unter Armin Laschet gemäßigt; diese möchte in den meisten Politikfeldern, insbesondere gegenüber Russland und China, den Kurs der Merkel-Regierung beibehalten. Wenngleich Laschet die Einrichtung eines nationalen Sicherheitsrats vorgeschlagen hat, um eine bessere strategische Positionierung Deutschlands zu ermöglichen, würde er wohl die Außen- und Verteidigungspolitik der vergangenen Jahre fortsetzen. Er hat sich zum 2-Prozent-Ziel der NATO bekannt und seine erklärte Unterstützung des Vereinigten Königreichs als unverzichtbarer Verbündeter kommt in London gut an.
Für Großbritannien brächte eine schwarz-grüne Koalition Positives und Negatives mit sich. Die Bereiche, in denen Großbritannien und Deutschland übereinstimmen oder divergieren, könnten sich leicht verschieben; doch eine drastische Veränderung wäre kaum zu erwarten. Hinsichtlich des 2-Prozent-Ziels, nuklearer Fragen und der Stärkung der EU könnte es Veränderungen und politische Verstimmungen geben, was dem Vereinigten Königreich nicht zupasskäme. Was die NATO und militärische Fragen angeht, rechnet man aber nicht mit einer Kehrtwende Deutschlands.
Insgesamt werden die beiden Staaten ihre bilateralen Beziehungen stärken und neue Formate der Zusammenarbeit jenseits der Europäischen Union entwickeln müssen – dies wird bei den Verhandlungen zwischen London und der neuen Berliner Koalition auf der Tagesordnung stehen. Da die Interessen beider Staaten sich weitgehend überschneiden, würde Großbritannien eine stärkere deutsche Position in der EU begrüßen, etwa um sicherzustellen, dass die Afrika-Politik der EU sich nicht überwiegend auf den Sahel konzentriert, sondern auch auf Regionen von deutschem und britischem Interesse.
Eine proaktivere, wertebasierte deutsche Außenpolitik würde in London als positive Entwicklung aufgefasst, insbesondere dann, wenn ein Kurswechsel in der Russland- und China-Politik andere EU-Mitgliedstaaten und vermutlich auch die EU selbst beeinflussen würde. Dies könnte die deutsche Außenpolitik – und die der EU – näher an die britische Position heranrücken und möglicherweise manche Divergenz im generellen Ansatz zwischen Berlin und London überbrücken.
Alice Billon-Galland ist Research Fellow im Europa- Programm von Chatham House in London.
Aus dem Englischen von Matthias Hempert
Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 40-43
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