Der Nahost-Konflikt: Köcheln auf niedriger Flamme oder Eskalation – aber kein Frieden
Nach zwölf Jahren war die Ära Netanjahu tatsächlich Geschichte. Die neue Führung bedeutet für die Außenpolitik aber wohl weniger, als manche im Ausland hoffen mögen. Linke und rechte Parteien hatten schon vorab vereinbart, dass es nicht um große ideologische Entscheidungen geht, sondern um die Heilung der zutiefst gespaltenen israelischen Gesellschaft, in der die Kluft zwischen Rechten und Linken immer größer geworden ist. Die neue Regierung in der Post-Bibi-Ära wird sich zunächst mit den innenpolitischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen befassen und nach mehr als zwei Jahren endlich auch mal wieder einen Staatshaushalt verabschieden müssen.
Über das Ende Netanjahus wird man in vielen Hauptstädten, insbesondere in Washington, erleichtert sein. Übertriebene Hoffnungen aber auf eine Lösung im palästinensisch-israelischen Konflikt müssen sogleich gedämpft werden. Premier Naftali Bennett steht politisch viel weiter rechts als Netanjahu, wenngleich ihm die geplante Koalition die Hände binden würde. Selbst wenn in zwei Jahren der sehr viel moderatere Yair Lapid entsprechend der geplanten Rotation Premier würde, wäre es nicht viel anders. Vor allem: Wie soll denn eine Lösung wirklich aussehen?
Frieden ist nicht zu machen. Nicht mit den Playern in Gaza, also den Islamisten, allen voran der Hamas. Selbst wenn die Sympathien der „Progressiven“ und Linken dieser Welt aufseiten Gazas stehen: Die meisten von ihnen begreifen nicht, dass die Hamas eine Terrororganisation nicht nur gegenüber Israel ist, mit einer Charta, die auf die Zerstörung des jüdischen Staates setzt, sondern auch im Inneren. Das brutale Regime, die Unterdrückung jeglicher Opposition, die Homophobie, die Frauenfeindlichkeit mit entsprechenden Gesetzen stimmen nicht im Ansatz mit dem liberalen Weltbild all jener überein, die jüngst mit Hashtags und Instagram-Bildchen meinten, genau zu wissen, wo die „Guten“ und wo die „Bösen“ seien.
Aktuell wäre mit den Palästinensern kein Frieden zu schließen. Selbst wenn Israel eine Regierung hätte, die sofort bereit wäre, Jerusalem zu teilen, die Siedlungen zu verlassen und einen Landtausch für die großen Siedlungsblöcke im Westjordanland zu machen – das alles hatte es zuletzt 2009 gegeben, als Premier Ehud Olmert genau diesen Vorschlag Palästinenserpräsident Abbas gemacht hatte, der dann aber, wieder einmal, ablehnte. Selbst wenn also heute in Jerusalem ein friedenswilliger Premier säße – das Mantra, es gäbe auf der anderen Seite keinen Partner, hat sich immer wieder selbst erfüllt. Gewiss auch mittels einer „Teile und herrsche“-Politik Netanjahus, aber auch dank der Zerstrittenheit und politischen Dummheit der palästinensischen Führer, die ihr Versagen nicht auf Israel abwälzen können.
Die Hamas hat derzeit andere Interessen, als mit Israel Frieden zu schließen. Sie will ihre Macht in der palästinensischen Gesellschaft konsolidieren, sie geriert sich als Verteidiger des Volkes, Jerusalems und der Al-Aqsa-Moschee. Sie zeigt sich als einzige Kraft, die den Israelis militärisch Paroli bieten kann und will. Sie will mit Israel im Idealfall einen Waffenstillstand vereinbaren, der dem Gaza-Streifen wirtschaftliche Erleichterung bringt. Aber Frieden? Das würde die Raison d’être der Organisation infrage stellen.
Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) hat dagegen einen greisen Präsidenten ohne jede Legitimation: 2005 fanden die letzten freien Präsidentschaftswahlen statt, seitdem „regiert“ Mahmud Abbas, damals auf vier Jahre gewählt. Wer sein Nachfolger werden soll, weiß niemand; was das für das Kräfteverhältnis zwischen Fatah und Hamas bedeuten wird, ist ebenso unklar. Sicher, Abbas wäre ein besserer Partner als die Hamas. Er hat sogar während des Gaza-Krieges im Westjordanland die Zusammenarbeit mit Israel in Sicherheitsfragen nicht aufgekündigt. Jerusalem täte gut daran, die PA zu stützen und zu stärken.
Israels existenzielle Frage heißt Iran
Doch für Israel ist die eigentliche, wirklich existenzielle Frage, was mit dem Iran und vor allem dessen Stellvertreter im Libanon geschieht, der schiitischen Hisbollah. Der Gaza-Krieg hat einige Szenarien aufscheinen lassen, die in Beirut und Teheran ganz genau beobachtet wurden. Die israelische Armee hat diesen Krieg anders geführt als die vorherigen Kriege in Gaza. Die militärische Präzision, der Einsatz von KI, weiterentwickelte Bomben, deren Explosionskraft so geregelt wurde, dass sie geringeren „Kollateralschaden“ auslösen als früher: All dies zeigte der Hisbollah, was auf sie zukommen könnte – Israel hat ja nur einen Bruchteil seiner militärischen Möglichkeiten eingesetzt.
Mit der Hisbollah sähe die Situation dennoch ganz anders aus als mit der Hamas. Die Schiiten-Miliz verfügt über rund 140 000 Raketen von ganz anderer Zerstörungskraft. Die Gefahr ist groß, dass Israel viel mehr Opfer und größere Sachschäden zu beklagen hätte. Doch genau das würde der Armee Möglichkeiten eröffnen, die sie im Kampf mit der Hamas nicht hat. Je größer die eigenen Verluste, umso gerechtfertigter ein „All-out“-Krieg gegen die Hisbollah. Die Welt würde das zunächst akzeptieren. Israel müsste dafür sehr schnell vorgehen, um den Raketenangriff aus dem Libanon bereits in den ersten Tagen eines solchen Krieges zu stoppen. Zum Vergleich: Die Armee hatte etwa 100 Ziele in Gaza, die es in den ersten Tagen des Krieges zu zerstören galt. Im Libanon sind es weiter über 1000. Und das gilt nur für den Anfang. War der Gaza-Krieg also eine Botschaft für die Hisbollah und deren Anführer Hassan Nasrallah?
Der dürfte gesehen haben, dass massenhafte Raketenangriffe die israelische Zivilbevölkerung in Angst und Schrecken versetzen und das Wirtschaftsleben lahmlegen können, trotz des überaus fähigen Raketenabwehrsystems „Iron Dome“. Für die nahe Zukunft bleibt die Frage, ob das Gleichgewicht des Schreckens halten wird. Teheran dürfte der Hisbollah derzeit kein grünes Licht für einen Krieg geben. Die Verhandlungen mit der Biden-Regierung zur Wiederaufnahme des Atomabkommens JCPOA laufen. Irans Regime hat großes Interesse an einem Abschluss, der die Sanktionen aufhebt – dann könnte die finanzielle Unterstützung der Stellvertreter wieder ausgebaut werden. Für Israel aber könnte dies der entscheidende Auslöser sein, insbesondere, wenn ein neues Abkommen Jerusalem nicht das Gefühl geben würde, vor der atomaren Bedrohung aus dem Iran genügend geschützt zu sein. Netanjahu hatte erst kürzlich erklärt, man werde auch ohne Einverständnis der USA gegen den Iran vorgehen, wenn die nationale Sicherheit in Gefahr wäre. Auch Premier Bennett würde das nicht anders sehen, nicht einmal Lapid.
Zum aktuellen Zeitpunkt stellen sich zwei Fragen: Werden Israelis und Palästinenser eine Formel finden, die ihnen wenigstens für einige Zeit Ruhe und gewisse Vorteile verschafft? Und: Werden Jerusalem und Teheran sich weiter provozieren oder die Gesamtlage nur auf niedriger Flamme köcheln lassen?
Für die fragile Ruhe bedarf es Washingtons. Die EU ist in diesen Fragen ein Papiertiger, ein Zaungast bestenfalls, der mit finanzieller Hilfe das eine oder andere unterstützen kann. In puncto Vertrauen der Israelis in die europäische Politik ist da nicht viel zu erwarten. Die jüngsten antisemitischen Exzesse auf europäischen Straßen und die teilweise halbgare Reaktion der Politik lassen viele Israelis mit dem Gefühl zurück, dass sich in Europa wohl nie wirklich etwas verändern wird, wenn es um Juden geht. Ein Vorwurf, über den die Europäer nachdenken sollten.
Richard C. Schneider ist mehrfach ausgezeichneter Journalist und Publizist; er lebt in Tel Aviv und arbeitet als Editor-at-Large für BR/ARD.
Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 112-113
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