Weltspiegel

30. Okt. 2023

Fronten, die in die Welt ragen

Vorder­gründig scheinen die Ursachen für den neuen Gaza-Krieg klar. Doch dahinter verbirgt sich ein Machtkampf um die Vorherrschaft in Nahost – und noch viel mehr.

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Bild: Kreuzung bei Sderot unweit des Gaza-Streifens mit ausgebrannten Autos
Nie zuvor gab es einen solchen Angriff auf Israel wie am 7. Oktober 2023. Über 1000 Hamas-Terroristen drangen ins Land vor; das Bild zeigt eine Kreuzung bei Sderot unweit des Gaza-Streifens.
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Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen hat die israelische Boden­offensive in Gaza noch nicht begonnen. Von ihr wird abhängen, wie sich dieser Krieg entwickelt. Nicht nur „on the ground“, also auf dem Schlachtfeld, sondern vor allem geopolitisch. Dieser Krieg ist ein Krieg zwischen Israel und Iran, der Israel seit vielen Jahren von Süden und Norden in die Zange zu nehmen versucht.



Die Situation im Norden

Über viele Jahre hat Iran seine Position als Regionalmacht konsequent ausgebaut. Die schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon hat ihr Know-how, ihre rund 130 000 und zum Teil präzisionsgesteuerten Raketen von Teheran erhalten. Ihre Kämpfer haben viel Erfahrung im syrischen Bürgerkrieg an der Seite von Präsident Assad gesammelt. 2006, im zweiten Libanon-Krieg, kämpfte die Hisbollah gegen Israel. Sie hatte zwei israelische Soldaten entführt, was den damaligen Premier Ehud Olmert veranlasste, den Libanon und die Miliz anzugreifen und so zu schwächen, dass Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah über ein Jahrzehnt brauchte, um seine Organisation militärisch wieder aufzustellen.

Heute dürfte Nasrallah wesentlich bessere und gefährlichere militärische Möglichkeiten haben als 2006, die Hisbollah stellt für Israel an seiner Nordgrenze eine echte existenzielle Gefahr dar. Trotz eines ausgezeichneten Abwehrsystems dürften viele Raketen der Schiiten im Falle eines Krieges in Israel einschlagen und damit sowohl die Heimatfront als auch die israelische Infrastruktur massiv beschädigen. Das wissend, wird die Luftwaffe Israels mit entsprechender Härte und Intensität alle Positionen der Hisbollah im Libanon bombardieren, um den Raketenkrieg so schnell wie nur möglich zu stoppen. Das wiederum wird – wie man das in Jerusalem sagt – den Libanon gewissermaßen in die Steinzeit zurückwerfen.

 

Die Lage im Süden

In Gaza, wo jetzt also der fünfte Krieg seit 2008 tobt, haben im Laufe der Jahre sowohl die regierende islamistische Hamas als auch der Palästinensische Islamische Dschihad mit Hilfe der Iraner ihre Kampffähigkeiten immer weiter ausgebaut. Auch die Hamas verfügt über Tausende von Raketen, wenngleich diese weniger gefährlich, weniger wirkungsvoll sind als das Arsenal der Hisbollah.

Dass die Hamas inzwischen auch in den Feldern Aufklärung, Logistik und Bodenkampf von den iranischen Revolutionsgarden und anderen extrem gut ausgebildet und ausgestattet wurde, konnte man am 7. Oktober 2023 am entsetzlichen Beispiel der Abschlachtung von 1300 Juden an einem einzigen Tag im Kernland Israel miterleben.

Über tausend Hamas-Terroristen gelang es ohne große Probleme, die gesamte Sicherheits- und Überwachungstechnik der Israelis zu überwinden und einfach ohne große Gegenwehr in das Land ein- und hindurchzumarschieren und dort ihr schreckliches, blutiges Werk an jüdischen Babys, Erwachsenen und Alten durch­führen.

 

Teherans Erzfeind Israel

Der Iran hat zwei politische Ziele. Erstens will er die alles bestimmende Regionalmacht werden, was Persien früher war. Der schiitische Islam, wie er im Iran existiert, steht seit Jahrhunderten dem sunnitischen Islam der meisten arabischen Staaten als Widersacher gegenüber. Alte Animositäten und Feindschaften zwischen diesen beiden Strömungen des Islam spielen auch heute noch eine Rolle.

 

Israel spürt die Zangenbewegung, die der Iran aus­erkoren hat: Die Bedrohung von Norden und Süden ist gleichzeitig und real

 

Darüber hinaus wollen die Ajatollahs die Islamische Revolution, die sie 1979 in Teheran an die Macht brachte, exportieren. Das Atomprogramm der Iraner bedroht nicht nur den Staat Israel, sondern auch arabische Staaten. Längst hat das Regime in Teheran die gesamte Technologie und weiß, wie man eine Nuklearbombe baut. Aber es hat dies noch nicht getan, um als „Schwellenland“ bedrohlicher zu sein – und um nicht von Israel angegriffen zu werden.

Womit das zweite politische Ziel definiert ist. Seit Beginn der Islamischen Revolution haben die Machthaber in ­Teheran Israel oder das „zionistische Gebilde“, wie der jüdische Staat vom Regime nur genannt wird, zum Erzfeind des Islam auserkoren. Israel muss von der „Landkarte gestrichen“ werden, wie das einst Präsident Ahmadinedschad formuliert hatte. Dazu braucht Teheran die Atombombe oder zumindest die Möglichkeit, eine zu bauen, um Israel gefährlich zu werden; aber mehr noch, um seine Stellvertreter unter einen atomaren Schutzschild zu stellen, der Israels militärische Handlungs­fähigkeit einschränken würde.

Noch ist es nicht so weit, aber schon jetzt spürt Israel natürlich die Zangenbewegung, die der Iran für die Zionisten auserkoren hat: Die Bedrohung von Norden und von Süden ist längst real und häufig gleichzeitig.



Die nukleare Bedrohung

Immer wieder kommt es zu Zwischenfällen an der Nordgrenze, die Hisbollah ist seit Jahren eine Gefahr. Sicherheitsexperten in Tel Aviv fragen nicht, ob es einen Krieg mit der Miliz geben wird, sondern nur wann. Manche wollen diesen Krieg schnell haben, um die Hisbollah auszuschalten, damit sie Israel nicht mit ­Tausenden Raketen überziehen kann, falls Jerusalem eines Tages die Atomanlagen in Iran angreift, um die nukleare Bedrohung und damit die Gefahr der Vernichtung des jüdischen Staates abzuwenden.

Teheran hat sich schon sehr früh zum Verwalter der palästinensischen Sache gemacht. Es hat den arabischen Herrschern immer vorgeworfen, sie würden die Palästinenser nur politisch für sich ausnutzen, sie aber immer wieder fallenlassen. Natürlich interessiert sich auch der Iran nicht wirklich für das Schicksal der Palästinenser. Man braucht sie, um Israel zu beschäftigen, man braucht sie, um gegen die sunnitischen Herrscher auf der sogenannten „arabischen Straße“ Stimmung zu machen. Umso mehr, als immer mehr arabische Staaten mit Israel ihren Frieden schließen – zuletzt 2020 mit dem Abraham-Abkommen die Vereinigten ­Arabischen Emirate, Bahrain und dann noch Marokko und Sudan.



Neues Verhältnis zu Riad?

Jüngst sah es so aus, als ob auch Israel und Saudi-Arabien davorstünden, einen Friedensvertrag zu schließen. Dies hätte die wohl endgültige Anerkennung des jüdischen Staates auf der Arabischen Halbinsel ­bedeutet.

Die Saudis sind die Hüter der heiligen Stätten Mekka und Medina; würden sie Israel anerkennen, dann wäre das quasi für die Sunniten, um es ironisch zu sagen, wie ein „Koscher“-Stempel. Die USA vermittelten die Gespräche, die vor Beginn dieses aktuellen Krieges schon recht weit gediehen waren. Ein Frieden mit Israel wäre verknüpft gewesen mit einem Vertrag zwischen Riad und Washington.

Dabei waren für die Saudis zwei Dinge elementar: ein friedliches Nuklearprogramm, von den USA finanziert und entwickelt, und ein Militärpakt, der die USA verpflichtet, im Fall eines Angriffs auf Saudi-Arabien Riad sofort zur Hilfe zu eilen – ähnlich wie Artikel 5 der NATO.

Mit dem Beginn der Feindseligkeiten zwischen der Hamas in Gaza und Israel wurden diese Gespräche unterbrochen – was den Iranern sehr willkommen sein dürfte. Tatsächlich sind sie im Hintergrund diejenigen, die den Kampf gegen Israel auch jetzt koordinieren. Hamas’ Granden treffen sich mit iranischen Führungsvertretern in Katar während des Krieges, die Hisbollah erhält sowieso ihre Befehle aus Teheran.

Während die Ziele des Iran klar sind, formuliert Israel seine Ziele neu. Bislang hat jede israelische Regierung, insbesondere die Regierungen von Benjamin Netanjahu, ihre Politik gegenüber den ­Palästinensern simpel gestrickt. Man wollte keine Friedenslösung, sondern den Konflikt lediglich „managen“.

Netanjahu glaubte schon vor 30 oder 40 Jahren, dass es Frieden mit den arabischen Staaten geben könne, selbst wenn das Problem mit den Palästinensern nicht gelöst sei. Die Abraham-Abkommen schienen seine Theorie zu bestätigen. So führte Israel alle paar Jahre einen begrenzten Krieg mit Gaza, erkaufte sich wieder für einige Zeit Ruhe, während man im Westjordanland das Siedlungsprojekt und damit eine mögliche Annexion still und langsam vorantrieb.



Fundamentale Veränderungen

Diese Politik ist mindestens für den Augenblick geplatzt. Indem sich die Hamas brutal zurückgemeldet hat, sind die Palästinenser wieder im Zentrum des politischen Geschehens des Nahen Ostens. Doch diesmal, nach dem Massaker, hat Israel ein gänzlich anderes Ziel als bisher: die komplette Vernichtung der Islamisten in Gaza und, wie es in Jerusalem formuliert wird: eine fundamentale Veränderung der Realität in Gaza und im Nahen Osten. Was genau das bedeuten soll, ist noch unklar. Aber dahinter steckt gewiss nicht nur die Absicht, für die eigene Bevölkerung jetzt Sicherheit und Ruhe wiederherzustellen, sondern auch Iran in seinem Hegemonialstreben in die Schranken zu verweisen.

Ob und wann es zu einem Zwei-Fronten-Krieg kommen würde, war zunächst noch nicht ausgemacht. Teheran drohte, Israel die Hisbollah auf den Hals zu hetzen, wenn die Zionisten die „Aggression in Gaza“ nicht beenden. Zwar haben alle Israelis Angst vor einem Krieg mit dem sehr viel gefährlicheren und stärkeren Gegner – aber es gibt Stimmen, die dafür sind, dies dennoch zu tun. Da man weiß, dass dieser Krieg früher oder später kommen wird, warum dann nicht jetzt? Die Situation könnte besser nicht sein, so die Argumentation.

Israel hat 360 000 Reservisten einberufen, so viele wie schon Jahrzehnte nicht mehr, die Armee verfügt daher über eine ganz besonders hohe Mann-Stärke. Und dann sind da noch die USA, die den größten Flugzeugträger der Welt, die USS Gerald R. Ford, ins östliche Mittelmeer geschickt haben und nun noch einen weiteren Flugzeugträger in die Region senden. US-Präsident Joe Biden hat in einer Ansprache vor einer Woche dem Iran und der Hisbollah sehr klar und deutlich gesagt, dass sie sich nicht einmischen sollen: „Don’t! Don’t“ wiederholte Biden. Die USA sind entschlossen, Israel zu helfen, falls es zu einem Zwei-Fronten-Krieg käme. US- Kampfjets würden in den Krieg eingreifen.

 

In einem Zweifrontenkrieg würden die USA mit Kampfjets an der Seite ­Israels eingreifen

 

Für Biden ist seine bedingungslose Unterstützung nicht nur ein Bekenntnis zum Verbündeten Israel. Es geht um mehr. Und auch das sagte er in seiner Rede: Es geht um den Weltfrieden. Biden sieht die USA in der Pflicht, die demokratische Welt zu retten. Das tut er seit anderthalb Jahren im Ukraine-Krieg. Die USA liefern Kiew mehr Waffen gegen Moskau als die Europäer. Der amerikanische Präsident versteht ganz genau, dass der völkerrechtswidrige Überfall Russlands auf die Ukraine nur der erste Schritt ist. Denn wenn Putin diesen Krieg gewinnen sollte, dann ist Europa, dann ist die EU nicht mehr sicher.

Im Nahen Osten ist die Lage ähnlich. Denn während des Ukraine-Kriegs intensivierte sich die Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen Moskau und Teheran. Iranische Kampfdrohnen greifen ukrainische Stellungen und Zivilisten an. Putin liefert dem schiitischen Regime Kampfflugzeuge und anderes Militärmaterial, um sich gegen einen potenziellen Angriff der Israelis zu verteidigen. Die Einflusssphäre Russlands im Nahen Osten droht größer zu werden, die Amerikaner, die sich eigentlich aus der Region zurückziehen wollten, müssen sich engagieren, um geostrategisch nicht zu verlieren. Denn auch die Chinesen spielen im Hintergrund natürlich eine Rolle. Sie hatten zwischen Saudi-Arabien und Iran eine Wiederannäherung und die Wiederaufnahme von diplomatischen Beziehungen vermittelt. Das tat Washington weh.

Dass der neue Hauptgegner, mit dem es zu einem Krieg im Pazifik wegen Taiwan kommen könnte, plötzlich „zarte Bande“ mit dem amerikanischen Verbündeten Saudi-Arabien knüpfte, musste gestoppt werden. Der neue starke Mann in Riad, ­Mohammed Bin Salman, spielte über Bande. Er wollte von den USA den oben beschriebenen Pakt. Um den zu bekommen, musste er Biden zeigen, dass es auch andere Interessenten gäbe, die liebend gern mit ihm kooperieren würden.



Ein weltumfassender Konflikt

So entwickelt sich hier ein neuer weltumfassender Konflikt. Und wieder einmal um Israel herum. Der jüdische Staat, die USA und damit die freie Welt auf der einen Seite, auf der anderen die Russen und Iran, mit den Chinesen im Hintergrund mit ähnlichen, aber nicht identischen ­Interessen. Was das bedeutet? Auf der Mikroebene wird es in diesem Krieg darum gehen, ob sich Israel vom Terror seiner Nachbarn befreien kann. Ob Iran weniger gefährlich für Israel wird. Und ob die Palästinenser endlich die Chance auf ein freies und würdiges Leben erhalten, wobei klar ist, das Letzteres noch sehr lange nicht umsetzbar sein wird. Die Palästinenser haben keine Politiker, die das umsetzen können, die Israelis keine, die das umsetzen wollen. Doch in diesen Tagen wird wieder einmal deutlich: Ohne eine Lösung für die Palästinenser wird es keinen wirklichen Frieden geben.

Auf der Makroebene geht es um Fragen der Vormachtstellung in der Welt. Die USA, eine Weltmacht auf dem Rückzug, muss und will sich behaupten. Und muss dem Iran, den Russen und China zeigen, dass die „neue Welt“ noch lange nicht zum alten Eisen gehört. Dass die Amerikaner am Ende immer noch die Weltpolizei sind, wenn es um die Freiheit geht.

Doch die Bedrohung der Freiheit kommt ja im Westen auch von innen: Der wachsende Rechtspopulismus, der sich in vielen Demokratien durchzusetzen beginnt, ist eine Gefahr, die Israel, die EU und auch die USA bedroht. Dass vor allem Wladimir Putin im Hintergrund daran mitwirkt, ist bekannt.

So kämpft Joe Biden im Grunde gegen Russland, gegen China und für eine Weltordnung, wie sie jahrzehntelang gegolten hat. Liberale Demokraten haben gar keine andere Wahl als zu hoffen, dass sich Biden durchsetzen kann.

Doch zunächst wird der Krieg in Gaza weitergehen. Was auf Israelis und Palästinenser, auf den Nahen Osten und möglicherweise auf die ganze Welt noch zukommen wird, war Mitte Oktober nicht abzusehen. Das Eskalationspotenzial ­jedenfalls, das ist immens.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2023, S. 67-71

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Themen und Regionen

Richard C. Schneider  ist Nahost-­Experte, Journalist, Autor und Dokumentarfilmer. Von 2006 bis 2016 war er Leiter des ARD-Studios in Tel Aviv.

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