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13. Okt. 2023

In der Migrationsdebatte gibt es keine einfachen Lösungen

Um Migration besser zu regulieren, muss Europa verstärkt in Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern investieren. Vor allem Deutschland hat dafür gute Karten.

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Bild:  Giorgia Meloni und von der Leyen im Gespräch auf Lampedusa
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Wir erleben eine vertraute Choreografie in der Migrationspolitik. Erwartungsgemäß treiben Kriege und Krisen die Zahlen der Zuwanderung nach Europa in die Höhe. Der Druck auf Politikerinnen und Politiker steigt. Irgendwo ist Wahlkampf. Kommunen und Opposition fordern sofortige „Lösungen“ für das „Migrationsproblem“.

Doch was ist eigentlich das Problem bei Migration? In Talkshows und Straßeninterviews verweist man auf die hohen Zahlen an sich, die begrenzten Aufnahmekapazitäten Deutschlands und Europas, falsche Anreize, die Zunahme von Menschenrechtsverletzungen, die Angst vor „Überfremdung“, den salonfähig gewordenen Rassismus oder gar eine Gefährdung der Demokratie durch den Rechtsruck. Über die Vermengung realer Herausforderungen, Ängste und Projektionen wird Migration mal wieder zur „Mutter aller Probleme“ gemacht. Die Politik soll Handlungsfähigkeit beweisen, doch wie? Es ist eine Falle: Migration ist ein Politikfeld, das sich ganz und gar nicht dafür eignet, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren.

Riskante Scheinlösungen und langwierige Asylreform

In den vergangenen Wochen wurden einige Lösungen hochgezogen. Diese sind aber weder neu noch wirksam oder erprobt.Grenzschließungen und die Senkung von Sozialleistungen für Asylbewerberinnen und Asylbewerber können Auswirkungen auf die Ankunftszahlen und das Schmugglergeschäft haben. Wenn diese gewünschten Effekte eintreten, sind sie jedoch temporär und eingeschränkt. Hingegen sind die damit einhergehenden hohen Kosten und Kollateralschäden gut dokumentiert. Weitere Maßnahmen wie Obergrenzen oder auch die Verlagerung von Asylverfahren sind in der Praxis kaum durch- und umsetzbar. Auf diese Maßnahmen zu pochen, birgt also das Risiko, falsche Erwartungen zu wecken. Das vorprogrammierte Scheitern schadet dann der Glaubwürdigkeit der Politik.

Viele deutsche Politikerinnen und Politiker verweisen zudem auf die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) als Lösung und haben dabei die angedachten Verfahren an den EU-Außengrenzen sowie die Solidaritätsmechanismen im Blick. So begründen die Grünen und Teile der SPD ihr Einlenken bei der GEAS-Reform, das einen Durchbruch im Rat im Juni und Oktober 2023 ermöglichte. Allerdings bleibt ein funktionierendes EU-Asylsystem ein langfristiges Projekt mit ungewissen Erfolgsaussichten. Dem Rat und EU-Parlament bleibt wenig Zeit bis zu den Europawahlen: Sie müssen sich bis Ende Februar 2024 einigen. Auch wenn sie es schaffen, brauchen die Mitgliedstaaten dann einige Jahre für die Umsetzung der komplexen Reform. Kurz gesagt: Die GEAS-Reform ist ein wichtiger Baustein für Migrationspolitik in Europa – für kurzfristige Probleme ist sie aber irrelevant.

 

Deutschland und Europa sind auf Partner angewiesen

Die unbequeme Wahrheit ist also, dass Deutschland weder allein noch auf EU-Ebene die aktuellen Migrationsbewegungen nach den eigenen Wünschen gestalten kann. Das heißt aber nicht, dass Deutschland nicht handlungsfähig ist.

Eine gute Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitstaaten macht es möglich, den Menschenhandel und -schmuggel einzudämmen, Vertreibung und irregulärer Migration vorzubeugen und ausreisepflichtige Menschen zurückzuführen. Die oft versprochene Umwandlung von irregulärer in reguläre Migration können Deutschland und Europa nicht herbeizaubern. Es braucht den Aufbau von Vertrauen mit bestehenden Partnern und ein beiderseitiges Entgegenkommen. Gerade in Zeiten, in denen der Druck steigt, ist aber genau das schwierig. Die Fixierung auf Migrationsmanagement und Rückkehr mindert die Fähigkeit von EU-Akteuren, konstruktiv mit Partnern zu kooperieren.

 

Hebel geschickt nutzen

Die DGAP-Studie „Conditionality in Migration Cooperation: Beyond Carrots, Sticks and Delusions” untersucht die Effekte des Einsatzes von positiven und negativen Hebeln aus den Bereichen Visa, Handel und Entwicklungszusammenarbeit auf Partnerländer. Es gibt reichlich Potenzial, die bestehenden Hebel klüger einzusetzen – hierzu stellt die Studie eine Checkliste vor. Nur dann, wenn die EU und Deutschland die Interessen und Zwänge ihrer Partner adäquat berücksichtigen, können Hebel ihre Wirkung entfalten.

Dennoch stellt die Studie fest, dass es kaum Länder gibt, die die EU durch den Einsatz von Druckmitteln zur Kooperation zwingen konnte. Wo das in der Praxis erfolgt ist – konkret im Falle von Afghanistan, Bangladesch und Irak –, gestaltete sich die Kooperationsbereitschaft nicht nachhaltig und die Auswirkungen, insbesondere auf die Rückkehrzahlen, blieben numerisch klein. Mitgliedstaaten haben bilateral mehr anzubieten als die EU, sind aber bei Druckmitteln mit ähnlichen Schwierigkeiten konfrontiert.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten müssen also mit strategischen Partnern verhandeln und Lösungen entwickeln, die für beide Seiten vorteilhaft sind und sich zu Hause gut verkaufen lassen. Dieser zweite Punkt ist zentral, denn in den meisten Herkunfts- und Transitländern ist es äußerst unpopulär, den einseitigen Migrationsforderungen der EU nachzugeben. Wie der Fall Niger gezeigt hat, kann EU-freundliches Handeln die Legitimität einer Regierung schwächen.

 

Aus dem Tunesien-Fiasko lernen

Tunesien bietet ein anschauliches Beispiel für vermeidbare Fehler. Das zunehmend autoritär regierte Land kämpft mit einer tiefen Wirtschafts- und Haushaltskrise. Migrantinnen und Migranten werden vertrieben und auch tunesische Staatsbürger verlassen das Land. So überquerten bis Anfang Oktober laut UNHCR knapp 200.000 Menschen das Mittelmeer, 70 Prozent davon nach Italien. In Rom ist der Handlungsdruck hoch, aber die Lampedusa-Krise bot auch eine Chance, um die Migrationsagenda Giorgia Melonis in Brüssel durchzusetzen. So gingen im Juli 2023 die EU und Tunesien einen Deal ein, der neben Migration eine Verstärkung der Kooperation in den Bereichen Energie, Infrastruktur und Bildung sowie Budgethilfe vorsah. Diese umfassende Vereinbarung wurde aber seither in ganz Europa als „Migrationsabkommen“ gefeiert. Die EU-Kommission handelte auch nach dieser Logik, lediglich im Bereich Grenzmanagement und Reintegration wurden bisher Geldzusagen gemacht. Die anderen Säulen des Abkommens, die nicht spezifisch auf Migration abzielen, sieht Tunesien als vernachlässigt an. Für die tunesische Regierung war das innenpolitisch ein Problem; die Gegenreaktion war vorprogrammiert.

Diese strategischen Fehler der EU sind verständlich, da der Druck hoch und die Zeit knapp sind. Sie unterminieren aber die Glaubwürdigkeit beider Seiten sowie das gegenseitige Vertrauen. Die EU und Deutschland sollten aus diesen Fehlern lernen. Wenn Politikerinnen und Politiker ihrer Wählerschaft migrationspolitische Erfolge signalisieren, wird das im Partnerland genau wahrgenommen und kann die Kooperationsbereitschaft und -fähigkeit der Partner erheblich reduzieren.

Wichtig ist zudem, dass jedes Angebot gegenüber einem Land sich auf die Beziehungen mit weiteren Partnern auswirkt. Für Ägypten, das seine Meeresgrenze effektiv kontrolliert, ist es aktuell schwer verständlich, dass Tunesien große Summen zugesagt bekommt, weil es seine Grenzen nicht im Griff hat oder haben will. Die Kommission arbeitet bereits an überzeugenden Angeboten – das wird teuer.

 

Deutschland und Migrationspartnerschaften: Viel Potenzial, viele Baustellen

Was kann Deutschland tun? Im Aufbau von Migrationspartnerschaften steht Berlin ziemlich am Anfang. Eine erste umfassende Partnerschaft wurde 2022 mit Indien abgeschlossen. Ähnliche Vereinbarungen mit Georgien und Moldau sind fortgeschritten. Mit etwa 30 Staaten verhandelt Deutschland aktuell, darunter auch Tunesien. Das ist richtig und wichtig, allerdings ist hier auch eine Prise Realismus angesagt. Partnerschaften kommen mit den für Deutschland zahlenmäßig wichtigsten Herkunftsländern – Syrien oder Afghanistan – nicht infrage. Zudem wirken Partnerschaften mittel- bis langfristig und sind somit keine Antwort auf den aktuellen Druck auf die Kommunen.

Für erfolgreiche Migrationspartnerschaften hat Deutschland gute Karten. Es ist ein attraktiver Wirtschaftspartner und verfügt über einen kompetitiven Arbeits- und Bildungsmarkt. Fortschritte in der Migrationsdiplomatie helfen aber nur, wenn sie mit heimischen Reformen verknüpft werden. In Deutschland besteht ein großer Investitions- und Modernisierungsbedarf in der Verwaltung und Digitalisierung der Vergabe von Visa, Aufenthaltstiteln, Arbeitserlaubnissen und Qualifikationsanerkennungen wie auch bei Rückkehrprozessen. Die Ampelregierung hat das erkannt und geht diese Probleme an. Die Großwetterlage zum Thema Migration und knapp werdende Etats könnten diese wichtigen Vorhaben allerdings gefährden. Das Potenzial für eine bessere Kooperation mit Partnern ist da und sollte nicht kurzsichtig verspielt werden.

Migrationsbewegungen sind durch Kräfte getrieben, die sich in der Geschichte der Menschheit nie lange aufhalten ließen: Konflikte und Gewalt, Hoffnung und Verzweiflung, die feste Entschlossenheit, der Perspektivlosigkeit zu entkommen. Es gibt dennoch Möglichkeiten, Migration zu regulieren und den Status quo in und um Europa zu verbessern. Hierfür ist es erforderlich, in die Zusammenarbeit mit Partnern entlang der Migrationsrouten zu investieren, was Zeit und Ressourcen bindet. Schnelle und einfache Lösungen im Bereich Migration gibt es nicht. Diese unbequeme Wahrheit können Regierende kaum offen und ehrlich äußern – es ist dennoch ein Fakt.

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Dr. Marie Walter-Franke ist Research Fellow im Migrationsprogramm der DGAP.