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01. Aug. 2005

Der lange Weg zur politischen Vernunft

Buchkritik

Dr. Fischer und Mr. Joschka erklären uns die Welt – und lieben Israel

Im Jahre 1984 hat Joschka Fischer ein Buch mit dem Titel „Von grüner Kraft und Herrlichkeit“ vorgelegt – Gedanken über seine grüne Welt, die sich ein Jahr zuvor verändert hatte, als seine Freunde zum Establishment übergelaufen und mit Blumen in der Hand in den Bundestag in Bonn einzogen waren.

In diesem Buch, das in der umfassenden Bibliographie seines neuen Buches nicht erwähnt ist, haben auch wir, die Israelis, Zeichen einer gedanklichen Unabhängigkeit im Hinblick auf den Nahost-Konflikt festgestellt. Es hat uns signalisiert, dass Fischer seit seiner Jugendzeit einen langen Weg zurückgelegt hatte. „Sei nicht mehr Palästinenser als die Palästinenser selbst“, forderte Fischer seine Freunde auf – ausgerechnet in jenen schwierigen Tagen des Libanon-Krieges und der Massaker von Sabra und Schatila: Damals verglichen sogar gemäßigte deutsche Politiker die israelische Umzingelung Beiruts mit dem Warschauer Ghetto und nannten das Gefangenenlager Al Ansar das „größte Konzentrationslager im Nahen Osten“.

Heute, nach vielen ideologischen und politischen Wandlungen, legt uns der deutsche Außenminister ein Buch vor, das nicht weniger soll, als uns die Lage der Welt erklären – besonders nach den Terroranschlägen vom 11. September. Fischer lässt vor unseren Augen eine Parade von intellektuellen Helfern aufmarschieren – von Hobbes und Kant, Thomas Mann und Slavoj Zizek über Hobsbawm, Huntington, Paul Kennedy, Yehuda Bauer, Martin van Creveld, Daniel Bell, Immanuel Wallerstein und Francis Fukuyama bis zu George Soros und George Bush, um nur einige zu nennen. Fischer versucht uns so zu überzeugen, dass die Geschichte nicht zu ihrem Ende gekommen ist – ganz und gar nicht.

Seht, welch ein Wunder, möchte man ausrufen: Der einzige „Fischer“, der in diesem Buch vorkommt, ist der Fischer Almanach. Der geschäftige deutsche Politiker selbst, der lange Zeit populärste seines Landes und der einzige Europäer, der bei Israelis wie bei Palästinensern eine gleich hohe Popularität genießt, ist im Buch völlig abwesend, ebenso wie seine Regierung und sein Land. Oder vielmehr: Sie sind versteckt, unter dem Decknamen „Europa“ verborgen. Es ist, als würde die Welt aus dem All betrachtet, von wo aus nur globale historische Prozesse zu erkennen sind.

Eine der größten Herausforderungen, die Fischer heute sieht, ist der islamistische Totalitarismus, der die europäischen Formen des Totalitarismus in unserem Jahrhundert abgelöst hat – als eine Reaktion gegen die Moderne und die offene Gesellschaft. Und doch habe besonders in den neunziger Jahren die freie Welt wegen kurzfristiger Eigeninteressen ihren Kopf in den Sand gesteckt. Sie habe es vernachlässigt, eine neue, transnationale Weltordnung zu schaffen, um die alte, überholte, die mit dem Kalten Krieg und den alten Ideologien verschwunden ist, zu ersetzen. Die beiden großen westlichen Säulen USA und Europa sollten dies jetzt zusammen tun, durch die UN und die Entwicklung einer weltweiten freien Zivilgesellschaft.

Und trotzdem bekommt der Nahe Osten einen herausgehobenen Platz in Fischers Buch – aber nicht in Gestalt von Klischees, wie wir sie aus der Feder anderer europäischer Politiker gewöhnt sind, die erklären, Israel sei die Wurzel des globalen Konflikts zwischen Ost und West, zwischen den Zivilisationen oder zwischen der Ersten und der Dritten Welt, sondern detailliert und angemessen. Und noch einmal, wie im Jahre 1984, lese ich und staune: Hat das ein deutscher Außenminister geschrieben oder stammt es vielleicht aus der Feder eines Schimon Peres oder sogar eines Ariel Scharon?

Bezeichnend ist etwa die Beschreibung des Krieges von 1948, als die arabischen Staaten den „neu gegründeten jüdischen Nationalstaat wieder von der Landkarte tilgen“ wollten; oder die Verwendung des Begriffs „Flucht“ für die massenhafte Abwanderung der Palästinenser als Ergebnis des Krieges; die Darstellung der Kämpfe Israels nicht nur um seine staatliche Existenz, sondern auch um die nationale, existenzielle und individuelle; die Feststellung, „dass Israel jenseits einer ‚Politik der Stärke‘ niemals wirklich über eine zweite Option verfügte und verfügt“ – dies „wurde und wird von seinen Nachbarn und in der internationalen Gemeinschaft allzu oft unterschätzt“. Fischer versteht das zentrale Motiv der israelischen Politik, das „Nie wieder“, als Reaktion auf die europäische Geschichte des Antisemitismus und seine bittere Saat, den Holocaust.

Auf der arabisch-palästinensischen Seite scheint Fischer ausschließlich eine Reihe von historischen Fehlern und Versäumnissen zu erkennen: der wiederholte Versuch, Israel gewaltsam zu erobern; die Ablehnung sämtlicher Teilungspläne und Vereinbarungen mit Israel; und letztlich das, was er „Doppelstrategie“ nennt – die palästinensische Politik von Verhandlungen und Terror zugleich, was nach dem 11. September freilich auf eine amerikanische Haltung der „Null-Toleranz“ stieß. Fischer betont immer wieder die entscheidende Rolle der USA, zusammen mit ihren Verbündeten im „Quartett“, Russland, den UN und Europa, für jede möglichen Lösung auf dem Weg zum Frieden, den die „Road Map“ vorschlägt. Er fordert, dass Europa die Existenz Israels, „der einzigen wirklichen Demokratie und modernen, auf Freiheit gegründeten Zivilgesellschaft im Nahen Osten“, „vorbehaltlos unterstützen“ müsse. Diese Verpflichtung sei nicht nur moralisch und historisch begründet, „sondern ebenso von eminent politischem und sicherheitspolitischem Eigeninteresse“. Israel seinerseits habe durch den geplanten Abzug aus dem Gaza-Streifen und – paradoxerweise, muss man sagen – durch den Bau des Sicherheitszauns schon Schritte in Richtung Europa getan. Es wendet „sich dem Mittelmeerraum zu“ und sucht die Nähe zu Europa, das wiede-rum mit Israel durch gemeinsame Werte und Interessen verbunden ist.

Als Israeli habe ich mich auf diesen unserer Region wohlgesonnenen Blick konzentriert, der nicht aus dem fernen Ausland zu kommen scheint, sondern aus der Sicht eines Partners, der uns bei unserer Suche nach Auswegen aus dem Konflikt nahe steht. Das Kapitel zum Nahost-Konflikt ist allerdings typisch für das ganze Buch, das viel Kenntnis zeigt, aber keine dramatisch neuen Lösungen anbietet. Sechs, sieben Jahre als Außenminister bedeuten noch keine Lebenserfahrung, das erkennt man in dem Buch. Analyse und Beschreibung treffen zu, nicht immer wird allerdings klar, was eigentlich zu tun ist, um einen wirklichen Ausweg aus einer so tiefen Krise zu finden. Deutlich ist nur, dass politische Entscheidungen in den UN oder anderen internationalen Gremien nicht ausreichen.

Und doch soll man dieses Buch lesen. Oft lesen sich Bücher aus der Feder von Politikern, als ob ihre Autoren mehr Bücher geschrieben als gelesen hätten. Unser Nationaldichter Bialik hat einmal über den Drang, ein Buch zu verfassen, gesagt: „Ich wusste nur von mir selbst zu erzählen.“ Fischers Buch dagegen ist das Ergebnis umfangreicher Lektüre, aber auch unabhängigen Denkens und ausgiebigen Zuhörens. Und jetzt, am Ende seiner Amtszeit, schreibt er. Er ist keinesfalls Winston Churchill oder Henry Kissinger, aber er ist einen langen Weg gegangen. Noch einmal zurück zu 1984: Damals waren es sein Widersacher Rudolf Bahro und dessen „Fundi“-Freunde, die Joschka und seine „Realos“ beschimpften, dem europäischen Drachen die Zähne putzen zu wollen, statt ihn zu liquidieren. Heute ist Fischers Leserschaft zu einem großen Publikum herangewachsen, und Politiker nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt hören ihm zu. Es ist wahr, Joschka versteckt sich zwischen den Seiten und Zitatsammlungen des Dr. Fischer, aber doch erkennen wir immer wieder seine klare Stimme und festen Überzeugungen, die er sich im Laufe seines langen Weges angeeignet hat.

Joschka Fischer: Die Rückkehr der Geschichte. Die Welt nach dem 11. September und die Erneuerung des Westens. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2005. 304 Seiten, € 19,90.