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01. Aug. 2004

Der isolierte Hegemon

Die USA und die transatlantischen Beziehungen im Weltsystem

Ob der „postsowjetische Westen“ wieder aneinander gekettet werden kann, ist die Frage von
David Calleo. Er beschreibt die unüberbrückbare strategische Dissonanz nach dem Ende des Kalten
Krieges. Zwei Visionen prallen aufeinander: Eine unilaterale Pax Americana gegen ein multilateral
agierendes, vereintes, weltpolitisch engagiertes Europa. Doch beide Seiten haben einander
nötig – was für Amerika noch mehr gilt als für Europa.

Es ist nur natürlich, das Ende eines Jahrhunderts und den Beginn eines neuen als eine Zeit anzusehen, in der die Geschichte eine neue Richtung einschlägt. Diese natürliche Neigung ist in unserer Zeit verstärkt worden durch gewisse herausragende Ereignisse, die den Verlauf des 20. Jahrhunderts gekennzeichnet haben. Das augenfälligste Ereignis war das Ende des Kalten Krieges, damit verbunden der Zusammenbruch und das Verschwinden der Sowjetunion. Andere Ereignisse bekräftigen dieses Gefühl einer gewaltigen Transformation: Europa feierte seine Befreiung mit dem Vertrag von Maastricht und seinem in höchstem Maße ehrgeizigen Fahrplan für eine radikale Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union. Und schließlich gab es die schockierenden Gräueltaten des 11. Septembers 2001 – Ereignisse, die nach Ansicht Vieler die amerikanische Außenpolitik revolutioniert haben.

All diese Ereignisse, zusammen mit dem fortdauernden, rapiden Aufstieg Chinas, haben unser Gefühl von einer neuen geopolitischen Ära verstärkt, und wir fragen uns, wie man diese neue Ära wohl definieren und einordnen könnte. Insbesondere fragen wir uns, was den Charakter und die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen ausmachen wird. Ein enges transatlantisches Bündnis war wahrscheinlich das zentrale Element der Weltordnung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es war ein starkes Bündnis, das auf der tiefen Übereinstimmung hinsichtlich der Ziele, Interessen und Perspektiven der Vereinigten Staaten und der wesentlichen Staaten Westeuropas beruhte. Der ausschlaggebende Beweggrund für diese Übereinstimmung war die Sowjetunion: ein Furcht einflößender, Schrecken erregender und verhasster gemeinsamer Feind.

Für Europa hat das Atlantische Bündnis weit mehr getan als lediglich die Sowjetunion in Zaum zu halten. Es hat Westeuropa darüber hinaus ermutigt, eine konföderale Union aufzubauen, die nicht nur einen Krieg zwischen den europäischen Nationalstaaten unwahrscheinlich erscheinen ließ, sondern die auch maßgeblich das kollektive Gewicht Europas in der Welt verstärkt hat. Für Amerika wiederum war das Atlantische Bündnis ein Schlüsselelement, das die Schaffung einer integrierten globalen Wirtschaft begünstigte. Was passiert mit unserem westlichen Bündnis nun, da die transatlantische Geopolitik nicht länger auf den großen gemeinsamen Feind Sowjetunion konzentriert ist? Gibt es einen Ersatz für die Sowjets, der dazu dienen kann, den Westen zusammenzuhalten?

Natürlich gibt es einige Aspiranten. Doch das verbliebene Russland scheint immer noch eine Gefahr mehr auf Grund seiner Schwäche als auf Grund seiner Stärke zu sein, und China scheint immer noch eher eine wirtschaftliche Goldgrube als eine militärische Bedrohung darzustellen. Einige der überzeugteren Jünger von Professor Samuel P. Huntington bringen einen „Krieg der Kulturen“ ins Gespräch. Soweit dies auf einen Krieg zwischen „Christentum“ und „Islam“ hinausläuft, scheuen die Europäer davor zurück, da angesichts der großen islamischen Bevölkerung in Europa ein solcher Krieg aller Voraussicht nach für sie selbst verhängnisvoll wäre. Und die Regierung von Präsident George W. Bush hat – was ihr hoch anzurechnen ist – alles nur Mögliche getan, ihren „Krieg gegen den Terrorismus“ nicht mehr mit einem „Kreuzzug“ gegen den Islam in Verbindung zu bringen. Kurz gesagt ist ein Krieg gegen den Islam wahrscheinlich kein wirksames Mittel, um den postsowjetischen Westen aneinander zu ketten.

Feind Terrorismus

Und wie steht es mit dem Terrorismus als gemeinsamem Feind? Selbstverständlich beklagen alle reichen und mächtigen Demokratien auf beiden Seiten des Atlantiks Terrorismus. Doch europäische Regierungen sehen, wie ich annehme, im Terrorismus nicht einen besonderen Feind, sondern eine umfassend genutzte Taktik. Ähnlich wie Krieg ist Terrorismus eine Form organisierter und zielgerichteter Gewalt. Seine Urheber bestehen aus einer Gruppe von unterschiedlichen Akteuren, staatlichen wie nichtstaatlichen, angetrieben von unterschiedlichen Ressentiments. Was sie grundsätzlich eint, ist die Tatsache, dass sie zu schwach sind, um ihren Ressentiments durch traditionellere Formen militärischen oder diplomatischen Handelns Ausdruck zu verleihen. Doch diese Terroristen sind nicht zu einem gemeinsamen Feind vereint. Es gibt keine „terroristische Internationale“, keine terroristische Komintern, die eine singuläre, klare und gegenwärtige Gefahr für Europa und Amerika darstellt und die in der Lage wäre, ein enges transatlantisches Bündnis zustande zu bringen.

Natürlich werden sich die Europäer konkreten terroristischen Handlungen aller Art widersetzen; die Polizei und die Nachrichtendienste Europas werden geneigt sein, mit ihren amerikanischen Gegenübern zusammenzuarbeiten, um terroristische Gruppierungen zu entmutigen und zu zerschlagen. Doch die Europäer werden angesichts der Besonderheiten terroristischer Ressentiments ebenso dazu tendieren, diplomatische Mittel zu nutzen, um derartige Ressentiments im Interesse einer friedlicheren und harmonischeren Welt nach Möglichkeit zu befrieden. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sich auch die Amerikaner für eine Art Kombination aus Zuckerbrot und Peitsche entscheiden. Ob aber Amerika und Europa beim Entwurf einer neuen Welt zu engen Verbündeten werden, hängt davon ab, ob sie eine gemeinsame oder zumindest kompatible Vision davon haben, wie diese Welt aussehen sollte.

Die eigentliche Frage lautet also, ob es eine ausreichende Übereinstimmung hinsichtlich transatlantischer Ziele und Perspektiven gibt, um gemeinsame oder zumindest übereinstimmende transatlantische Bemühungen um eine wie auch immer geartete „neue Weltordnung“ zu unternehmen. Meine Antwort lautet kurz und bündig: „Nein, die gibt es nicht.“ Stattdessen gibt es zwischen den USA und den großen europäischen Kontinentalstaaten – Frankreich und Deutschland – eine unterschwellige „strategische Dissonanz“. Es gibt Meinungsverschiedenheiten, nicht nur über eine bestimmte Politik an einem bestimmten Ort, sondern über grundlegende geopolitische Fragen. Das ist für beide Seiten mit hohen Kosten verbunden. Die Legitimität und demzufolge die Wirksamkeit der amerikanischen Militärmacht werden gemindert. Gefördert hingegen wird die europäische Uneinigkeit in einem empfindlichen Augenblick, an dem die EU gleichzeitig versucht, ihre Mitgliedzahl zu vergrößern, ihre Funktionen zu erweitern und ihre Verfassung zu reformieren. Das hat zur Folge, dass der Westen einem Prozess gegenseitiger Frustration unterworfen ist, in dessen Verlauf jede Seite des Atlantiks die andere allmählich unterminiert.

Strategische Dissonanz

Zwei nahe liegende zusätzliche Fragen stellen sich: Wie sind wir auf diesen Weg geraten? Was kann man tun? Um verstehen zu können,  wie diese Situation entstanden ist, muss man auf das Ende des Kalten Krieges zurückblicken. Nach Ansicht der meisten Menschen in Amerika machte der Zerfall der Sowjetunion die USA zum großen Gewinner des Kalten Krieges. Amerika war nicht nur die bei weitem größte Militärmacht, sondern es begann auch, sich eines beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs zu erfreuen. Unter diesen Umständen war der amerikanische „Siegestaumel“ der neunziger Jahre nur zu verständlich. Dieser Siegestaumel wiederum sorgte für das psychologische und kulturelle Umfeld, in dem die amerikanischen Eliten mit der Formulierung ihrer Zukunftsideen begannen. Es überrascht nicht, dass die politische Vorstellungswelt der Amerikaner von der Vision einer „unipolaren Welt“ – einem integrierten Weltsystem mit den Vereinigten Staaten als einziger, hegemonialer Supermacht – umnebelt schien.

Das war natürlich nicht die einzige Vision, die für die Organisierung der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges im Wettbewerb stand. Auch Europa betrachtete sich nach dem Zerfall der Sowjetunion als großen Gewinner. Mit dem Verschwinden des Sowjetreiches war Europa von den USA militärisch nicht mehr länger abhängig; die Europäer hatten das Gefühl, endlich wieder ihren alten geopolitischen Raum einzunehmen. Sie gewannen nicht nur die „gefesselten Staaten“ des „östlichen“ Europas zurück, auch schien der Weg offen zu stehen für eine neue und produktive Partnerschaft mit Russland. Selbstverständlich waren mit den neuen Möglichkeiten auch neue Gefahren verbunden. Ein wiedervereinigtes Deutschland mit lauter schwachen Staaten an seinen östlichen Grenzen und dazu einem kraftlosen Russland ließ erneut das Gespenst eines wieder erstandenen deutschen Problems erwachen. Es galt als weitgehend akzeptiert, dass ein Europa, das sich nicht zu größerer Einigkeit hin aufmachte, Gefahr lief, in seine alte mörderische Uneinigkeit zurückzufallen.

Die Antwort Europas war der im Februar 1992 unterzeichnete Vertrag von Maastricht. Er enthielt eine Reihe von großen Projekten, um die Vereinigung Europas voranzubringen, um ihm die Fähigkeit zu geben, auf seinem eigenen Gebiet Sicherheit zu garantieren und um seine Interessen in der Welt als Ganzes zu schützen. Mit Maastricht zeigte Europa seine Entschlossenheit,  sich selbst zur vorherrschenden Institution im neuen Paneuropa zu machen und ein Europa zu schaffen, das, wie Charles de Gaulle zu sagen pflegte, „europäisch“ ist.

Natürlich enthielt Maastricht eine andere Weltordnung, als sie Amerikas unipolarer Vision zu Grunde lag. Es legte die Betonung nicht auf eine unipolare, sondern auf eine pluralistische Welt mit verschiedenen regionalen Großmächten – Europa, möglicherweise Russland, Japan und Indien, ganz gewiss China. Gemäß der Weltsicht der Europäer besteht der ideale Weg, in einer solch pluralistischen Welt für Ordnung zu sorgen, darin, dass alle wichtigen Mächte sich angewöhnen, in einem multilateralen Konzert zusammenzuspielen. Die Europäer geben nämlich einer Welt den Vorzug, die ihrem eigenen regionalen europäischen System im großen Maßstab entspricht.

Konfliktpotenzial

Zwischen der amerikanischen, unipolaren Vision – hegemonial und unilateral – und der europäischen, pluralistischen Vision – pluralistisch und multilateral – gibt es eine Menge Konfliktpotenzial. Es hat eine Weile gedauert, bis dies zur Kenntnis genommen worden ist. Keine Seite scheint sich so richtig bewusst geworden zu sein, dass ihre Vision der Ära nach dem Kalten Krieg einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet. Den Amerikanern erscheint die Aussicht auf eine unilaterale Pax Americana, in der sich eine bipolare in eine unipolare Welt wandelt, fast als selbstverständlich. Ein derartiger Wandel schließt allerdings ein globales Machtgleichgewicht aus. Er bringt Amerika in Widerspruch zu der alten Doktrin von der gegenseitigen Kontrolle, die in seiner eigenen Verfassung verankert ist. Und so gibt es dann Äußerungen von hohen amerikanischen Beamten, die etwa lauten: „Multipolarität war niemals eine einigende Idee oder eine Vision; sie war ein notwendiges Übel“, oder: „Warum sollten wir uns bemühen, unsere Fähigkeiten aufzuteilen, wenn sie vereint viel wirksamer sein können?“ Das könnte man als napoleonische Sicht des Machtgleichgewichts beschreiben: Gleichgewicht bedeutet, dass ich der Größte bin. Man kann nur hoffen, dass die davon betroffenen amerikanischen Politiker nicht erkennen, wie schockierend solche Äußerungen für die Europäer sind.

Aber auch Europas Vision der postsowjetischen Zeit ist radikal. Sie würde für Europa das Ende einer 50 Jahre währenden Besetzung durch auswärtige Supermächte bedeuten. Letztlich würde sie die Konsequenzen der beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts umkehren. Die Westeuropäer sehen in dieser größeren, stärkeren und autonomeren Europäischen Union jedoch nicht so sehr eine radikal neue Geltendmachung europäischer Macht, sondern die Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Europa und Amerika, wie es schon im Kalten Krieg bestand.

Normalerweise bezeichnet man das Gleichgewicht des Kalten Krieges als „bipolar“, in Wirklichkeit jedoch war es „tripolar“. Es bot Europa nicht nur Schutz gegen die Sowjets, sondern auch geopolitischen Einfluss gegenüber den Amerikanern. Natürlich brauchte Europa die Vereinigten Staaten, aber ebenso sehr brauchten die USA ihre europäischen Verbündeten – Europa war der große Preis des Kalten Krieges. Hätten die Amerikaner Europa „verloren“, hätte sich das weltweite Kräfteverhältnis radikal verändert. Die USA waren deshalb nicht in einer Position, sich westeuropäischen Regierungen oder der Öffentlichkeit ernsthaft zu entfremden. Kurz gesagt gab es dank der Sowjets nicht nur ein bipolares Gleichgewicht, sondern auch ein transatlantisches Gleichgewicht.

Es war dieses doppelte Gleichgewicht, aus dem die kühneren europäischen Führungsgestalten wie Charles de Gaulle oder Willy Brandt Nutzen zu ziehen wussten. In diesem Sinne waren die Europäer Trittbrettfahrer nicht nur in Bezug auf die amerikanischen Truppen, die sie militärisch vor den Sowjets schützten, sondern auch bezüglich der sowjetischen Truppen, die ein politisches Gegengewicht bildeten und so die Amerikaner im Zaum hielten. Mit dem Abzug der Sowjets verloren die Europäer ihr äußeres Ausgleichsgewicht. Deshalb meinten sie, in Maastricht selbst ein Gegengewicht zu den Amerikanern bilden zu müssen, indem sie mittels einer starken EU das transatlantische Gleichgewicht wieder herstellten. Angesichts der amerikanischen Vernarrtheit in die unipolare Vision überrascht es nicht, dass es in Amerika nur wenig Bewunderung oder Sympathie für Maastricht gab. Stattdessen gab es eine deutliche Tendenz, die NATO als eine rivalisierende Attraktion zu nutzen – als einen rivalisierenden „Verwestlicher“ so zu sagen – und auf diesem Weg einen proamerikanischen, sprich osteuropäischen Block innerhalb der erweiterten EU zu schaffen.

Wenn nun diese miteinander konkurrierenden Visionen die Wurzel der transatlantischen Dissonanzen sind – wie könnte die Harmonie wieder hergestellt werden? Wer sollte seine Melodie ändern? Auf den ersten Blick scheint ein „europäisches“ Europa ein vernünftigeres Projekt zu sein als eine „amerikanische“ Welt. Europa hat ein halbes Jahrhundert lang mit Erfolg an seinem regionalen Projekt gearbeitet. Dennoch bleibt es verwundbar – nicht nur durch das Missfallen der Amerikaner, sondern auch durch Europas innere Spaltung, die es gäbe, egal, ob die Amerikaner sie nutzten oder nicht. Wie viele Andere habe ich ausführlich über die Zukunftsaussichten Europas geschrieben. Mit der Unterstützung oder zumindest der Duldung Amerikas kann Europa, wie ich glaube, erfolgreich sein. Doch die Duldung durch Amerika ist unwahrscheinlich, solange die USA ihr eigenes unipolares globales Projekt vorantreiben – eine unipolare Welt in der Regie eines unilateralen Amerika. Rechtfertigt Amerikas Projekt den Schaden, den es Europas Hoffnungen zufügt? Liegt es wirklich in Amerikas nationalem Interesse? Wahrscheinlich wird man eine solche Frage niemals theoretisch beantworten können. Eine mehr praktische Frage, die sich stellt, lautet: Wie sehen die Zukunftsaussichten des amerikanischen Projekts aus?

Das große Projekt der USA

Man kann durchaus die Meinung vertreten, dass die USA ähnlich wie Europa das letzte halbe Jahrhundert an ihrem Projekt gearbeitet haben, manche sagen sogar, während der letzten zwei Jahrhunderte. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hat unser globales Projekt ans Tageslicht gebracht. Wie erfolgreich sind wir bislang damit gewesen? Im Verlauf des letzten Jahrzehnts hat es dieses Projekt in zwei Ausformungen gegeben: Bill Clintons Modell einer wirtschaftlichen Supermacht und George W. Bushs Modell einer militärischen Supermacht. Meiner Meinung nach hat jedes von ihnen ernsthafte Schwächen, die seinen letztendlichen Erfolg unwahrscheinlich machen.

Clintons Ziel bestand darin, die USA zur wirtschaftlichen Supermacht in der Welt zu machen – zum Weltmeister im Bereich fortgeschrittener Industrien und Dienstleistungen aller Art. Auf diesem Gebiet ist Europa Amerikas großer potenzieller Rivale. Die Herausforderung schien sich für Amerika gut anzulassen. Die USA erfreuten sich eines großen wirtschaftlichen Aufschwungs; unsere Wirtschaft wuchs weit schneller als die Wirtschaft Europas. Die Europäer, die ihre Währungsunion anstrebten, gaben wirtschaftlicher Sicherheit den Vorzug vor wirtschaftlichem Wachstum. Das bedeutete Sicherheit vor Inflation und vor destabilisierenden Veränderungen bei den Wechselkursen – zumindest innerhalb von Europa selbst. Jede Seite verfolgte unterschiedliche Prioritäten und war, im Großen und Ganzen, dabei erfolgreich.

Bei Clintons Superwirtschaft gab es allerdings das Problem, dass es ihr niemals gelang, Amerikas Leistungsbilanzdefizit zu beseitigen. Und zu Ende des Jahrzehnts hatten Amerikas „Hyper-Investitionen“ dann zu den üblichen Ergebnissen geführt: Clintons Aufschwung hatte sich in eine klassische Seifenblase verwandelt, die platzte. Unser riesiges Defizit ist jedoch trotz einer darauf folgenden heftigen Dollarabwertung erhalten geblieben. Es ist unwahrscheinlich, dass es gelingen wird, dieses Defizit bemerkenswert zu verringern, vor allem jetzt, da wir zu sehr großen Haushaltsdefiziten zurückgekehrt sind. Unglücklicherweise kommen heute Auslandskredite weniger und weniger in Formen von Investitionen in unsere Wirtschaft, sondern zunehmend aus dem Verkauf von kurzfristigen Staatsanleihen an chinesische und japanische Zentralbanken. Inzwischen halten Ausländer, so wird vermutet, ungefähr die Hälfte aller amerikanischen Staatsanleihen.

Gegenwärtig gibt es einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen Amerikas radikal gestiegenen Verteidigungsausgaben, seinem hohen geplanten Haushaltsdefizit und seinem anhaltenden, riesigen Außenhandelsdefizit. Dieser Zusammenhang legt nahe, dass es die Japaner und vor allem die Chinesen sind, die den Dollar stützen, um ihre Handelsüberschüsse zu erhalten. Damit finanzieren sie Amerikas Rolle in der Welt. Dies erscheint allerdings als eine ziemlich brüchige wirtschaftliche Grundlage für eine unipolare Supermacht.

Mehr zu verbrauchen als wir produzieren ist natürlich keine neue Gewohnheit für unsere Wirtschaft. Die USA haben fast während der gesamten Nachkriegszeit ein ansehnliches Außenhandelsdefizit gehabt – und ein sehr großes Leistungsbilanzdefizit seit den achtziger Jahren. Wir hatten niemals ernstliche Mühe, dies zu finanzieren. Das lässt vermuten, dass die Fremdfinanzierung des amerikanischen Defizits nicht wirklich freiwillig geschah. In der Vergangenheit hatten wir allerdings zwei große Vorteile: den Kalten Krieg und den Dollar. Der Kalte Krieg erlaubte es uns  – mit einigem Recht – zu behaupten, das Außenhandelsdefizit sei eine Form der Lastenteilung. Und die exklusive internationale Rolle des Dollar bedeutete, dass im Allgemeinen die Nachfrage stieg, wenn wir Dollars druckten, und Angebot bestand, wenn wir sie uns liehen.

Heute haben sich die Bedingungen grundlegend geändert: Der Kalte Krieg ist vorbei und die Weltwirtschaft hat nun den Euro. Der Dollar hat seine Monopolstellung verloren; es gibt kein unipolares internationales Geld mehr. Vorerst wird die Präsenz des Euro uns wahrscheinlich nicht davon abhalten, große Defizite zu machen, aber es wird uns mehr kosten. Die Rolle der unipolaren Supermacht zu spielen wird zunehmend beschwerlich werden. Unsere Wirtschaft – das sollten wir jetzt zur Kenntnis nehmen – ist keine autonome und unerschöpfliche Quelle selbstschaffenden Reichtums; das Fortbestehen unseres Wohlstands erfordert die aktive Unterstützung durch Andere. Die Notwendigkeit einer solchen Unterstützung dürfte uns zunehmend Grenzen auferlegen – hinsichtlich dessen, was wir leihen können, hinsichtlich dessen, was wir ausgeben können und hinsichtlich dessen, was wir tun können.

Globale Hegemonie

Seit dem 11. September hat Amerikas globales Projekt, wie wir alle wissen, eine andere Form angenommen. Unter der Regierung Bush wird Amerikas globale Hegemonie vor allem in militärischen Begriffen definiert. Die Regierung Bush hat darüber hinaus freimütig ihre unipolare Weltsicht bekannt, ja sogar gefeiert – eine Sicht, die auf der Überzeugung beruht, dass Amerikas Militärmacht so groß ist, dass wir eigentlich gar keine Verbündeten brauchen. Und was wir gewiss nicht brauchen, sind Verbündete, deren vielfältige Hemmungen bezüglich des Einsatzes von Gewalt unsere Macht lähmen. Solche Verbündete schwächen uns eher als dass sie uns stärken.

Unsere wirtschaftliche Stärke hat sich als abhängiger erwiesen, als wir einst gedacht haben. Wird sich nun auch unsere militärische Macht als unangemessen erweisen für unsere unipolaren Ambitionen? Ohne Frage ist unsere Militärmacht die mächtigste der Welt. Doch militärische Überlegenheit ist häufig anfällig für das, was man das „Gesetz der asymmetrischen Abschreckung“ nennen könnte. Während des Kalten Krieges beispielsweise konnte trotz der riesigen nuklearen Arsenale der Supermächte jeder, der über eine „Zweitschlagfähigkeit“ verfügte, mit lediglich ein paar hundert Raketen über eine angemessene Abschreckung verfügen. Auf strategischem Gebiet hat sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion so gut wie nichts geändert – mit der Ausnahme, dass es nun ein paar Nuklearmächte mehr gibt.

Nukleare Abschreckung scheint für die Schwachen immer noch ein billiges Mittel zu sein, um den Starken zu widerstehen. Das gilt wohl für Massenvernichtungswaffen im Allgemeinen. Sie sind nicht nur relativ preisgünstige Stabilisatoren, sondern das Vorhandensein einer Supermacht, die ihre militärische Überlegenheit aktiv einsetzt, ist ein großer Anreiz für andere, diese gleichmacherischen Waffen zu erwerben. Unsere gegenwärtige unipolare strategische Doktrin zielt nicht nur darauf ab, Schurkenstaaten niederzuhalten, sondern jeder entstehenden Macht zuvorzukommen, die unsere Vorherrschaft in irgendeinem wichtigen Teil der Welt bedrohen könnte. Das bringt uns aber nicht nur in Konflikt mit den Afghanistans, Iraks, Syriens und Irans dieser Welt, sondern lässt auch Konflikte mit China, Russland und sogar Europa selbst möglich erscheinen. Wenn wir wirklich aufrichtig sind, müssen wir einsehen, dass das Potenzial für einen Nuklearkrieg möglicherweise größer ist als zu irgendeinem Zeitpunkt seit den frühen Tagen des Kalten Krieges. Und so kommt es, dass ein Übermaß an hyperaktiver Stärke paradoxerweise zu größerer Unsicherheit für die Führungsmacht führt.

Wenn asymmetrische Abschreckung das eine Ende des Spektrums militärischer Waffen charakterisiert, scheint sie gleichermaßen auch für das andere Ende charakteristisch zu sein. Die USA sind führend in der Welt beim Einsatz fortgeschrittener Technologie für konventionelle Kriegführung. Im Ergebnis scheint unsere Militärmacht in idealer Weise dafür geeignet zu sein, die Streitkräfte anderer Staaten zu vernichten. Aber wenn wir dann tatsächlich das gegnerische Militär und damit das Gehirn und das Nervensystem von „Schurkenstaaten“ vernichtet haben – was kommt dann? Wir gelangen von unserem schicken Videospiel-Krieg zum „Nation-Building“ – eine Ebene, auf der unser Furcht und Schrecken verbreitendes, gewandeltes Militär nicht besonders nützlich ist. Doch wenn wir nur gut sind im Zerstören von Staaten und nicht in deren Wiederaufbau, dann werden wir mit großer Wahrscheinlichkeit scheitern. Schurkenstaaten gegen gescheiterte Staaten einzuhandeln ist ein armseliger Tausch, vor allem, wenn das Ziel darin besteht, uns selbst vor dem „Terrorismus“ zu schützen. Denn gerade in gescheiterten Staaten gedeihen terroristische Netzwerke.

Terrorismus nun ist lediglich eine andere Form asymmetrischer Kriegführung: grausam und oftmals sinnlos, kein Krieg von Berufssoldaten, ganz gewiss nicht die Art, wie Gentlemen kämpfen. Er ist aber die natürliche Zuflucht für die Verzweifelten und die Schwachen, die auch raffiniert sind. Und er bedeutet asymmetrische Kriegführung par excellence. Es erfordert weit mehr Anstrengung, ihn niederzuzwingen, als ihn entstehen zu lassen. Natürlich kann sich der Terrorismus auch der Hochtechnologie bedienen, ganz zu schweigen vom willkürlichen Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Der Terrorismus kann Satelliten untauglich machen, Chaos in Finanznetzwerken auslösen und in die verletzlichen Mechanismen des zivilen Lebens brutal eingreifen.

Der Terrorismus unserer Tage hat oftmals eine globale Reichweite. Ihn zu bekämpfen ist mehr eine polizeiliche als eine militärische Aufgabe, und sie muss überall auf der Welt erfüllt werden. Es ist keine unipolare Aufgabe; sie erfordert den guten Willen und die aktive Zusammenarbeit von Verbündeten. Die Bewahrung einer solchen Zusammenarbeit erfordert Legitimität ebenso wie pure Militärmacht, eine Legitimität, die gepflegt werden muss durch Diplomatie, die sich erfolgreich mit den Problemen der ganzen Welt auseinander setzt. Das allerdings ist nicht der unipolare Kurs, den die USA gegenwärtig für sich abgesteckt haben.

Die jetzt nahe liegende Schlussfolgerung lautet: Unser unipolares Projekt hat, wie ich meine, im Verlauf des letzten Jahrzehnts nicht besonders gut funktioniert. Wir haben eine unipolare wirtschaftliche Seifenblase erlebt und erleben jetzt eine unipolare militärische Seifenblase. Wirtschaftlich wie militärisch haben wir einen Punkt von „hoher Überdehnung“ erreicht. Wir laufen Gefahr, in die Geschichtsbücher als ein weiteres Beispiel dafür einzugehen, wie übermäßige Macht sich selbst zu Fall bringt. Unsere Erfahrungen seit dem Zerfall der Sowjetunion sollten uns zu einer unbequemen Wahrheit zurückführen, die vernünftigen Amerikanern immer bewusst war: Die Vereinigten Staaten können die Welt nicht allein beherrschen.

Partner Europa

In der Tat können wir uns nicht einmal allein schützen. Uns fehlen nicht nur die Macht, die politische Vorstellungskraft und das Geschick, uns fehlt auch das Geld. Kurz gesagt: Wir brauchen seriöse Verbündete. Insbesondere brauchen die USA Europa, und zwar nicht nur als Reservoir für Reservekräfte, die für unsere eigenen Zwecke genutzt werden. Im geopolitischen Umfeld von heute können die USA über Europa nicht als Verbündeten verfügen, wenn sie Europas eigenen Anspruch nicht anerkennen, Herr im eigenen Haus zu sein. Solange wir uns nicht mit Europa verständigen, und zwar nicht nur hinsichtlich einiger gemeinsamer Aufgaben, sondern im Hinblick auf ein grundsätzliches Einverständnis über die jeweiligen Rechte und Pflichten in der Welt, so lange wird es keine stabile „neue Weltordnung“ geben.

Die Alternative, so fürchte ich, wäre, uns gegenseitig zu Fall zu bringen. Ein unzufriedenes Europa, dessen geopolitische Ambitionen durchkreuzt würden, könnte mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit Amerikas unipolare Fantasievorstellungen zunichte machen. Das trifft wahrscheinlich sogar eher zu, als dass Amerika Europas Einheitsträume zerstören könnte. Für vernünftige Leute auf beiden Seiten scheint es an der Zeit zu sein, ihre Länder vom Abgrund weg zu führen und anzuerkennen, dass Europa und Amerika einander brauchen, dass sie tatsächlich lebenswichtige Teile des jeweils Anderen sind. Wir müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass andere große Mächte auf der Welt entstehen und dass wir, wenn wir diesen nicht einen vernünftigen Platz einräumen, uns selbst zerstören werden.

Die gegenseitige Anerkennung und Akzeptanz einer pluralistischen Welt ist der unerlässliche erste Schritt. Der zweite besteht im Aufbau eines ehrlichen Konzerts der großen Mächte, der alten wie der neuen, um vernünftig den großen Problemen begegnen zu können, die deutlich sichtbar vor uns liegen. Europa hat in einem derartigen Konzert eine große Rolle zu spielen. Es ist schließlich das, was Europa im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts für sich selbst geschaffen hat – vielleicht die größte Errungenschaft kreativer Staatskunst in der Moderne. Amerika kommt eindeutig   bei der Verbreitung dieser europäischen Errungenschaft überall in der Welt eine führende Rolle zu. Aber diese Führungsrolle können wir nicht spielen, so lange wir an einer unipolaren Vision festhalten, die sich zunehmend als widersinnig und unhaltbar erweist.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2004, S. 79‑88

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