Der harte Kern
Kultur
Hans Morgenthau und der neue transnationale Streit um die Legitimation von Folter
Ganz unten im Regal steht es, bei den kleinen grauen Heften der „Frankfurter Abhandlungen zum Kriegsverhütungsrecht“, so druckfrisch wie die andern. Offenbar hat selten jemand in das Heft 12 hineingesehen, das der frisch promovierte Hans Morgenthau im Frühjahr 1929 als Pflichtexemplar aus Frankfurt schickte, mit einer Widmung in seiner kleinen, akkuraten Schrift oben rechts auf dem Umschlag, in kaum verblichener schwarzer Tinte. Vielleicht war er selbst nach Würzburg gekommen, um am Juristischen Seminar sein erstes Buch abzuliefern. Vergessen in einer alteuropäischen Nische steht es da noch immer, jenseits aller Brüche im Leben und Denken des großen Theoretikers internationaler Politik.
In der Völkerbundszeit zwischenstaatlicher Verrechtlichung war eine Arbeit über „Die internationale Rechtspflege, ihr Wesen und ihre Grenzen“ auf den ersten Blick nicht besonders originell. Doch der halbherzige Jurist, der bei den Köpfen des Instituts für Sozialforschung Feuer fing, legte Fundamente frei: den Begriff des „Politischen“, nach herrschender Meinung dem Recht unzugänglich. „Politisch“ kann indes, so Morgenthau, alles sein. „Das Charakteristikum (…) liegt also lediglich in einer besonderen Färbung, in einer Nuance, in dem Gegensatz zu jeder Art von Substanz.“ Carl Schmitt, der 1927 in seinem „Begriff des Politischen“ das „Politische“ noch „neben anderen, relativ selbständigen Gebieten menschlichen Denkens und Handelns“ verortet hatte, war so angetan, dass er das Intensitätsmodell 1932 in die Neuauflage seiner Studie übernahm – ohne auch nur in einer Fußnote auf Morgenthaus brillante Arbeit zu rekurrieren.
Über Schmitt ist der frühe Morgenthau in gegenwärtigen transatlantischen Disputen über Grund und Grenzen des Rechts präsent: Im Konflikt um den Internationalen Strafgerichtshof, im Streit um die CIA-Entführungen im „Krieg gegen den Terror“. Während sich Europa vorsichtig gibt, sucht Amerika forsch nach dem „Element des Willens“, dem „genuin Politischen“ jenseits der kühlen Rationalität des Gesellschaftsvertrags. Wo Michael Walzers Ton verhalten bleibt, fordert Paul Kahn vom Bürger das Opfer des Körpers, dem das Gemeinwesen eingeschrieben sei als „Fleisch gewordene Idee“. Flüchten wir vor solcher Selbsthingabe dann doch lieber in die passive Opferrolle, wie Bernhard Schlink in einer kleinen kantisch inspirierten Opfertheorie andeutet? Liegt hier am Ende der Grund für die europäische Zaghaftigkeit, im Nullsummenspiel von Freiheit und Sicherheit auch mal das Unverfügbare preiszugeben?
Das Folterverbot ist, so hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte immer wieder klargestellt, der „harte Kern“ des Grundrechtsschutzes, erwachsen aus bitteren Totalitarismuserfahrungen pervertierter Exekutivgewalt. Gerade hat Dick Marty, Sonderbeauftragter des Europarats für die Aufklärung der skandalösen geheimdienstlichen Entführungsfälle, von Condoleezza Rice Wahrheit statt feinziselierter Wortspiele gefordert – doch mehr als diplomatisches „window dressing“ ist aus Washington wohl kaum zu erwarten.
Unsere Auffassung, was Recht ist und sein soll, solle den Evidenzanmutungen konkreter Beispiele nicht erliegen, schreibt Jan Philipp Reemtsma zum Streit um die Legitimierbarkeit der Folter im Rechtsstaat, der sich ins Transnationale weitet. Anders als Dershowitz, Brugger oder Ignatieff ist er nicht bereit, sich auf ein „kleineres Übel“ einzulassen. Doch gibt es nicht Ausnahmezustände, in denen Integrität des Einzelnen und abstraktes Prinzip geopfert werden müssen?
An kaum einer Stelle in der jüdisch-christlichen Tradition des Westens sind Opfer und Gerechtigkeit so eng verschlungen wie im 51. Psalm, dem Bußpsalm, der mit dem „Miserere“ beginnt. „Tunc acceptabis sacrificium iustitiae“ – „Dann werden dir gefallen die Opfer der Gerechtigkeit“, sagt der Beter am Ende seinem Gott, in Luthers Worten. Die Opfer der Gerechtigkeit verlangen, liest man mit Augen der Normativität, weit mehr als das schnelle Martyrium oder die üppige Geldspende: Sie setzen Umkehr und Erkennen voraus, Selbstbescheidung in einer Welt begrenzter Sicherheiten. Das ganz säkulare Opfer der Gerechtigkeit ist dann vielleicht der Verzicht darauf, absolut Gültiges im Rausch des Ausnahmezustands dranzugeben. Oder auch die dem Einzelnen vom Gewissen abgenötigte Grenzverletzung. Immer aber steht zuerst die Zumutung, die Dinge ins rechte Verhältnis zu bringen.
Internationaler Strafgerichtshof, Tribunale, Wahrheitskommissionen sind keine Spinnereien weltfremder Traumtänzer. „Diese domaine réservé des Staates, innerhalb deren der staatliche freie Wille nach dem gegenwärtigen Stand des Völkerrechts grundsätzlich keiner vertraglichen Bindung unterliegt, ist keineswegs eine Sphäre, innerhalb deren der Staat kraft seiner Natur als Staat frei wirken (...) kann,“ so Morgenthau 1929. Bindung aber erfordert Arbeit am Fundament: „So wird auch das Völkerrecht den internationalen Rechtspflegeorganen erst dann die Möglichkeit geben, alle Streitigkeiten ohne Ausnahme in den Kreis ihrer Zuständigkeit zu ziehen und dadurch ihrer den Frieden bewahrenden Funktion erst völlig gerecht zu werden, wenn es ihnen ein System von Werten und Normen zur Verfügung stellt, das infolge seiner Elastizität geeignet ist, die Spannungen in eine Sphäre zu erheben, in der eine Entscheidung oder ein Ausgleich auf Grund rationaler Gesichtspunkte möglich ist.“
Dies werde das Problem der Grenzen der internationalen Rechtspflege lösen, indem es sie aufhebe. Offen ließ Morgenthau aber die Frage, „welcher Art dieses System von Werten und Normen sein müsse, von dessen Ausbildung die Entwicklung der internationalen Rechtspflege und damit die friedliche Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen überhaupt abhängt“.
„Wir müssen uns hier an der Bemühung genug sein lassen, die Frage überhaupt erst einmal richtig zu stellen“, schreibt er ans Ende seiner Frankfurter Dissertation. Da waren seine Fragen längst politische geworden. Mit der von Kelsen betreuten Genfer Habilitation nahm Hans Morgenthau Abschied von der Welt der Normen. Auf der Flucht vor der Vernichtung, die schließlich in Chicago endete, ließ er das Recht im alten Europa zurück und erhob das nationale Interesse zur zentralen Kategorie. Immer wieder aber warnte Morgenthau, der die Brüchigkeit kollektiver Moral am eigenen Leib erfahren hatte, vor blindem Vertrauen in die Exekutive – und vor einer Universalisierung eigener Werte, die den Anderen zum Feind macht. Der große Realist wusste, dass die Macht ihre schwachen Momente hat. Und dass sie darum das Unverfügbare nicht in Frage stellen darf.
ALEXANDRA KEMMERER, geb. 1972, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Internationales Recht, Europarecht und Europäisches Privatrecht der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Sie schreibt regelmäßig für die FAZ und ist Mitherausgeberin des German Law Journal.
Internationale Politik 1, Januar 2006, S. 68 - 69.
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