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01. Juni 2002

Der Abgesang auf die NATO ist verfrüht

Nach dem 11. September haben sich die Stimmen gemehrt, die von einer tiefen Krise des westlichen Bündnisses sprachen. Botschafter Günther Altenburg, Beigeordneter NATO-Generalsekretär für Politische Angelegenheiten, widerspricht dieser Auffassung vehement und warnt nachdrücklich davor, die NATO zur Disposition zu stellen.

Folgende Äußerungen könnten die Lage der Atlantischen Allianz nach dem 11. September charakterisieren: „Die NATO, der Eckpfeiler unserer Außenpolitik, ist den veränderten strategischen und politischen Beziehungen nicht angepasst worden. Öffentliche Beteuerungen der Einmütigkeit können nicht über die Verwirrung hinwegtäuschen, die innerhalb des Bündnissystems herrscht. Wenn die Gruppe der nordatlantischen Staaten nicht eine klarere Zielsetzung entwickelt, wird sie dem Untergang geweiht sein.“

„Die Atlantische Allianz ist in der ersten Phase einer möglicherweise tödlichen Krankheit. Die Allianz war schon häufiger in Schwierigkeiten, aber so schlimm war es noch nie.“

„Die NATO … befindet sich in einer tiefen, anhaltenden Krise und wird womöglich nicht einmal des Ende dieses Jahrzehnts erleben.“

Doch sie sind allesamt älter – viel älter. Henry Kissingers Kritik stammt aus dem Jahre 1961; der Economist sah die NATO 1982 im tödlichen Niedergang begriffen; und Christoph Bertram erlag 1994 der Versuchung, der NATO etwas voreilig den Totenschein auszustellen.

Angesichts von so viel „déjà vu“ könnte man die neuerlichen Abgesänge auf die Atlantische Allianz seit dem 11. September getrost als Sturm im Wasserglas abtun. Heute aber, so die Kritiker nach dem 11. September, ist alles anders. Dieses Mal, so die unterschwellige Aussage, handelt es sich nun wirklich um die finale Krise eines Bündnisses, das von der sicherheitspolitischen Realität nach dem 11. September überrollt wurde. Und so liest sich der Abgesang auf das Bündnis, glaubt man etwa einigen Autoren der April-Ausgabe 2002 von Internationale Politik, etwa wie folgt:

Die Ereignisse des 11. September hätten die Schwächen der NATO bei der internen Entscheidungsfindung, die sich bereits im Kosovo-Konflikt zeigten, nur noch bestätigt. Trotz der Ausrufung des Bündnisfalls hätten die USA einer „coalition of the willing“ den Vorzug gegeben und die NATO als politisch-militärischen Rahmen de facto ignoriert (Helga Haftendorn, S.49 ff.; Quentin Peel, S.11 ff.). Die unterschiedliche Bedrohungswahrnehmung auf beiden Seiten des Atlantiks werde ein Übriges tun, um den Ozean breiter zu machen: hier ein Europa, das sich auf die sozialen und politischen Ursachen des Terrorismus konzentriere, dort ein Amerika, das lediglich die Erscheinungsformen des Terrorismus bekämpfe und sich ansonsten daran mache, durch den Aufbau einer Raketenabwehr seine am 11. September verloren gegangene Unverwundbarkeit wiederzuerlangen (Peel, S. 14). Im neuen sicherheitspolitischen Ansatz der USA spiele die NATO daher nur noch eine untergeordnete Rolle.

Die durch die Vereinigten Staaten forcierte Aufnahme einer großen Zahl neuer Mitglieder zeige, dass die USA dem Bündnis eine gewisse Bedeutung bei der Erweiterung der europäischen Friedenszone einräumten, militärisch hingegen sei die NATO für Washington kaum noch relevant (Georg Schild, S. 41). Deshalb müsse die Europäische Union militärisch stärker werden, um eigene sicherheitspolitische Interessen unabhängig von den USA verfolgen zu können (Nicole Gnesotto, S. 46 ff.). Die NATO selbst werde zunehmend entmilitarisiert und europäisiert, ein Prozess, den es zu akzeptieren und durch entsprechende interne Anpassungen – Abschaffung der integrierten militärischen Struktur, intensivere Zusammenarbeit mit der Europäischen Union – zu steuern gelte (Haftendorn, S. 50 ff. ).

So weit, so schlecht. Doch auch diesmal kommen die Nachrufe zu früh. Denn bei näherem Hinsehen entpuppen sich viele der zentralen Prämissen der Kritiker als wenig stichhaltig. Dies gilt für die Analyse der sicherheitspolitischen Gesamtlage ebenso wie für einige der daraus abgeleiteten Reformvorschläge für das Nordatlantische Bündnis. Wie alle Therapien, die auf einer Fehldiagnose beruhen, laufen sie Gefahr, die Gesundheit des Patienten erst recht zu gefährden.

Mythos Nr.1: Marginalisierung der NATO

Diese Behauptung beruht auf der Annahme, die NATO habe durch die Ausrufung des Bündnisfalls eine zentrale Rolle für sich zu reklamieren versucht. Dem war jedoch nie so. Allen Beteiligten war stets bewusst, dass die Vereinigten Staaten als einzig unmittelbar betroffener (und militärisch bei Weitem stärkster) Partner ihre Antwort weitgehend nach eigenem Ermessen gestalten würden. Eine umfassende militärische Rolle der NATO verbot sich bereits auf Grund der Tatsache, dass viele Verbündete zu einer militärischen Operation in entlegenen Gebieten nur bedingt fähig und zudem mit ihrem Balkan-Engagement bereits an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gelangt sind. Den Verbündeten ging es daher zuerst und vor allem darum, den USA durch das stärkste politische Signal der Solidarität, Artikel 5, den Rücken zu stärken und sie – soweit militärisch möglich – zu unterstützen.

Die Ausrufung des Bündnisfalls hatte aber noch ein anderes Ziel: Für die an der Terrorismusbekämpfung beteiligten Verbündeten schuf sie eine Legitimationsgrundlage von besonderer Qualität. Dies gilt auch und gerade für Deutschland, vergleicht man den schnell beschlossenen Einsatz deutscher Truppen in Afghanistan mit der langwierigen und kontroversen Debatte über den Einsatz in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien ein halbes Jahr zuvor. Und schließlich: mit der Ausrufung des Artikels 5 wurde der Bündnisfall auf terroristische Angriffe von „non-state actors“ ausgedehnt. Für die Entwicklung der Allianz wurden damit wichtige politische und militärische Weichen gestellt.

Mythos Nr.2: „War by Committee“

Die Behauptung, die Kosovo-Operation habe die Trägheit der NATO- Entscheidungsprozesse erwiesen, weshalb das Bündnis nun von den USA gemieden werde, hält keiner Überprüfung stand. Drei Faktoren werden geflissentlich übersehen: Erstens, die Luftoperationen gegen Belgrad waren kein Krieg im traditionellen Sinne, sondern der Versuch, die Belgrader Regierung durch stetig wachsenden militärischen Druck zum Abbruch ihrer Vertreibungspolitik zu zwingen. Die NATO erreichte dieses Ziel nach nur 78 Tagen, ohne eigene Verluste und mit nur geringen Verlusten auf der Gegenseite. Zweitens, selbst der von Kritikern gelegentlich als „Kronzeuge“ angeführte damalige NATO-Oberbefehlshaber, General Wesley Clark, hat klargestellt, dass die von ihm geschilderten Probleme bei der Operationsführung von widerstreitenden Fraktionen innerhalb der damaligen amerikanischen Regierung von Präsident Bill Clinton herrührten, nicht von der „consensus-machine NATO“. Drittens schließlich: Die NATO verfügt durchaus über Verfahren, um im Bedarfsfall schnell handeln zu können. Die Erteilung der „Activation Order“ (ACTORD), der Beschluss zum Einsatz militärischer Mittel in der Kosovo-Krise, erfolgte in innerhalb weniger Stunden. Selbst dort, wo noch schnelleres Handeln erforderlich war, hatte man durch die Delegierung bestimmter Befugnisse an den NATO-Generalsekretär vorgebeugt.

Auch die Zeitspanne zwischen einer politischen Entscheidung und ihrer militärischen Umsetzung ist weitaus kürzer, als viele Beobachter glauben: So vergingen nur wenige Tage bis zur Entsendung einer NATO- Truppe in die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, um einen Bürgerkrieg zu verhindern. Auch die nach der Ausrufung des Bündnisfalls getroffenen militärischen Maßnahmen waren praktisch über Nacht in Kraft gesetzt worden. Diese Geschwindigkeit ist Ergebnis eingespielter Verfahren des Bündnisses – woran auch die Erweiterung der NATO um neue Mitglieder nichts Grundsätzliches ändern dürfte.

Mythos Nr.3: Schwindende militärische Relevanz der NATO

Diese Aussage steht schon empirisch auf schwachen Beinen. Der Angriff auf die USA war ein singuläres Ereignis, das zudem den einzigen NATO-Verbündeten traf, der sich weitgehend selbst verteidigen kann. Ein Angriff auf jedes andere NATO-Land würde demgegenüber eine „klassische“ NATO-Operation in Gang setzen; mehr noch als in Kosovo von den USA militärisch dominiert, aber eben im Rahmen der etablierten militärischen Strukturen und Verfahren. Auch die NATO-Operationen auf dem Balkan, mit 60000 Mann und unter Beteiligung zahlreicher Nicht-NATO-Staaten, werden größtenteils im Rahmen dieser Struktur geführt. Deshalb will niemand diese Struktur missen – schon gar nicht die neuen und künftigen Mitglieder, für die die militärische Integration eine überragende politische und militärische Qualität hat. Dass es aber auch für das etablierte NATO-Mitglied Deutschland zahlreiche historische und militärische Gründe gibt, sich nicht aus der militärischen Integration zu verabschieden, sollte kaum der Erwähnung bedürfen.

Die Empfehlung, die integrierte Militärstruktur der NATO auf „militärische Dienstleistung“ zu reduzieren oder gar aufzulösen (Haftendorn, S. 54) ist daher schlicht abwegig, insbesondere dann, wenn man der NATO weiterhin die Verantwortung für die kollektive Verteidigung ihrer Mitglieder geben will. Die Terrorismusbekämpfung und der Schutz vor Massenvernichtungswaffen werden die militärische Bedeutung der NATO als multinationalen militärischen Handlungsrahmen eher stärken als schwächen. Es ist diese Fähigkeit zur militärischen Implementierung politischer Entscheidungen, die die NATO zum wirksamen politischen Bündnis werden lässt. Eine NATO ohne militärische Relevanz wäre auch politisch unbedeutend.

Mythos Nr.4: Die USA verlieren das Interesse an der NATO

Auch diese Behauptung entspringt dem Fehler, das singuläre Ereignis des 11. September über Gebühr zu verallgemeinern. Die von den Kritikern konstatierte Vernachlässigung der NATO durch Washington hat mehr mit der notwendigen Konzentration der USA auf den Antiterrorkampf zu tun als mit einer Absage an die NATO. Als zentraler Legitimationsrahmen für amerikanische Macht in Europa bleibt die NATO für die USA ohne Alternative. Mehr noch: Die Vereinigten Staaten haben ihre privilegierte Stellung innerhalb der Atlantischen Allianz bislang mit großem Geschick dazu genutzt, die Chance zu einer dauerhaften demokratisch-marktwirtschaftlichen Ordnung, die sich nach 1989 auch für die östliche Hälfte des Kontinents bot, umfassend wahrzunehmen. Die Rolle des Bündnisses auf dem Balkan, der Erweiterungsprozess nach Mittel- und Osteuropa und die stetig ausgebauten Partnerschaftsbeziehungen mit Nicht-NATO-Staaten im gesamten euro-atlantischen Raum sind deutliche Belege hierfür. Der amerikanische Gestaltungswille bei der Neuordnung der europäischen Sicherheitslandschaft ist ungebrochen und wird nach wie vor von einem allgemeinen Konsens der beiden großen politischen Parteien in den USA getragen. Amerika ist deshalb auch nach dem Ende des Kalten Krieges eine „europäische“ Macht geblieben.

Aber auch die militärischen Aspekte der Allianz werden in den USA nicht unterschätzt. Im Gegenteil: die militärische Umgestaltung des Bündnisses ist seit dem Ende des Kalten Krieges maßgeblich von den Vereinigten Staaten vorangetrieben worden. Auch die Ausrichtung des Bündnisses auf neue Herausforderungen, wie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, wurde von den USA lange vor dem 11. September initiiert. Die USA werden daher auch militärisch in der NATO engagiert bleiben, wenn amerikanische Rufe nach fairer Lastenteilung im Bündnis künftig lauter werden. Wer die Quasientmilitarisierung und Europäisierung der NATO fordert, muss sich die Frage gefallen lassen, weshalb sich die Vereinigten Staaten in einer solchen NATO noch nennenswert engagieren sollten. Und er muss die Frage beantworten, wie eine Allianz ohne maßgebliche amerikanische Rolle überhaupt noch die allseits geforderten Funktionen als kollektives Verteidigungsbündnis, bei der Terrorismusbekämpfung und als „Europe’s pacifier“ wahrnehmen soll.

Mythos Nr.5: Die ESVP löst die NATO ab

Bei dieser Aussage ist häufig der Wunsch der Vater des Gedankens. Denn wie immer, wenn es um Fragen nach der Zukunft Europas geht, eilt die Rhetorik der Wirklichkeit weit voraus. Analysiert man hingegen die zahlreichen politischen, finanziellen und nicht zuletzt militärischen Hürden einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, so wird deutlich, dass die militärische Rolle der EU auf absehbare Zeit wesentlich bescheidener ausfallen wird, als es im sicherheitspolitischen Feuilleton gelegentlich den Eindruck hat. Forderungen nach einer Definition europäischer strategischer Interessen oder gemeinsamer Finanzierung der Verteidigung (Gnesotto, S. 47) sind bislang bloße Forderungen geblieben. Erst die vollständige Umsetzung der Beschlüsse zur Schaffung einer autonomen EU-Fähigkeit zur Krisenbewältigung könnte darüber Aufschluss geben, wie weit Europa in der Lage ist, als eigenständiger militärischer Akteur zu handeln.

Doch diese Umsetzung braucht Zeit und Geld. So bedeutet etwa das vielbeschworene „Headline Goal“ von 60 000 Mann nicht nur die Bereitstellung von rund 15 Brigaden. Unter dem Gesichtspunkt der Rotation der Streitkräfte macht die Vorgabe, eine solche Truppe über ein Jahr lang im Krisengebiet stationieren zu können, das Äquivalent von 45 Brigaden erforderlich. Hinzu kommen Kampfunterstützung, Logistik sowie Luft- und Marineeinheiten, Hauptquartiere und nicht zuletzt umfassende Führungs- und Kommunikationseinrichtungen. Inzwischen geht kaum noch jemand davon aus, dass das gesamte Spektrum dieser Fähigkeiten bis zum ursprünglich angepeilten Termin 2003 vorhanden sein wird.

Die europäischen Verteidigungsausgaben sind mit unter zwei Prozent des Bruttosozialprodukts auf einem historischen Tiefstand, und es bestehen gegenwärtig auch kaum Aussichten auf eine wesentliche Trendwende. Ungeachtet einer erfreulichen Entwicklung zu mehr innereuropäischer Rüstungszusammenarbeit wird der militärische Abstand zu den Vereinigten Staaten weiter wachsen – und damit auch die militärische Abhängigkeit Europas von den USA. Zumindest bei Konflikten hoher Intensität bleibt den Europäern kurz- und mittelfristig jedenfalls keine Alternative, als gemeinsam mit den Vereinigten Staaten zu handeln.

Die EU und die NATO sind daher auf enge Zusammenarbeit angewiesen – und die regelmäßigen Konsultationen zwischen beiden Organisationen weisen bereits den Weg. Einen institutionellen „merger“ wird es jedoch nicht geben: Die NATO als Verbund souveräner Nationalstaaten ist und bleibt nun einmal anders konstruiert als die EU. Vorschläge, den NATO-Rat um den Hohen Repräsentanten der GASP und den Hohen Repräsentanten für Außenbeziehungen zu erweitern (Haftendorn, S. 54), sind daher schon im Ansatz verfehlt.

In der NATO entscheiden einzig die Mitgliedstaaten; es gibt im Bündnis – aus guten Gründen – keine Kommission oder ähnliche supranationale Dimension. Für die Vereinigten Staaten wäre ein solcher Vorschlag hingegen der wahrgewordene Alptraum des „European Caucus“ in der NATO. Auch die Nichtmitglieder der EU, von denen es nach der nächsten Runde der NATO-Erweiterung sehr viele geben wird, werden sich wohl kaum einem Veto von Javier Solana oder Chris Patten im NATO-Rat beugen. In ihrem vergeblichen Mühen um Originalität sind solche Vorschläge einmal mehr Beleg dafür, wie weit Politikwissenschaft und Politik auseinander klaffen.

„Déjà vu all over again“

Der Terrorangriff des 11. September hat die internationale Sicherheitsdebatte dramatisch verändert, das Atlantische Bündnis hat er jedoch nicht obsolet werden lassen. Denn wie in vergangenen „finalen Krisen“, die dem Bündnis in seiner mehr als 50-jährigen Geschichte attestiert wurden, entsprechen die Lagebeurteilungen der Kritiker nur bedingt der Realität. Um relevant zu bleiben, muss die NATO weder zum internationalen Terroristenjäger mutieren, noch muss sie ihre militärische Rolle zugunsten „politischer“ Funktionen zur Disposition stellen. Wer die Vorbereitungen der Allianz für den Prager Gipfel im November verfolgt, wird erkennen, warum es eine solche „Kursänderung“ nicht geben kann und wird. Die Einladung neuer Mitglieder, Sonderverhältnisse mit Russland und der Ukraine, vertiefte Beziehungen mit Nicht-NATO-Staaten, ein neues militärisches Konzept zur Terrorismusbekämpfung und eine intensivierte Zusammenarbeit bei der Verteidigung gegen Massenvernichtungswaffen zeigen, dass der Agenda der NATO eine politisch-militärische Balance zu Grunde liegt – organisch gewachsen, „bedarfsorientiert“ und damit modern genug, um auch künftig eine substanzielle transatlantische Zusammenarbeit sicherzustellen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2002, S. 51 - 56.

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