Defense-Tech in der Ukraine: Das etwas andere Ökosystem
Wenn soziale Medien die einzige Informationsquelle über das Leben in Kyjiw sind, mag man vor dem inneren Auge ein Kaleidoskop ständiger Luftangriffe hier und immer voller Nachtclubs dort haben. Beide Facetten sind nicht völlig falsch, aber einseitig. Und eine wichtige Dimension fehlt völlig: Kyjiw gilt als Hauptstadt der europäischen Innovation in der Verteidigungstechnologie.
Kyjiw ist nicht nur das politische Zentrum eines angegriffenen Landes, sondern auch die Heimat von Brave1. Dieser staatlich geförderte Cluster unterstützt Startups der Verteidigungstechnik auf dem Weg von der Idee bis zur staatlichen Beschaffung. Ende Februar fand dort das Brave1 Defense Tech Innovations Forum statt, zu dem Gäste aus aller Welt in die Ukraine gereist waren. Der riesige Konferenzsaal war so voll, dass man kaum zwischen den Kamerastativen hindurch kam. In Deutschland dagegen fand die Veranstaltung kaum Beachtung. Dieses Manko ist bezeichnend für das unterentwickelte Interesse der deutschen Öffentlichkeit an Strategie und Verteidigung.
Die Brave1 brachte alle Akteure des lebendigen Defense-Tech-Ökosystems der Ukraine zusammen: Startup-Gründer, Investoren, Wissenschaftler, Regierungsvertreter und vor allem die Endnutzer, die ukrainischen Soldaten. Schließlich hängt ihr Leben davon ab, wie Innovationen auf dem Schlachtfeld funktionieren und nicht im Labor.
Deutsche Unternehmen vor Ort
Die auf der Veranstaltung vertretenen Unternehmen beschränkten sich nicht auf ukrainische Start-ups. Auch deutsche Unternehmen waren anwesend, darunter Quantum Systems, das Starrflügler-Drohnen baut, ARX Robotics, der Hersteller unbemannter Bodenfahrzeuge, oder Valofly, ein Startup, das sogenannte angebundene UAVs entwickelt, unmanned aerial vehicles, unbemannte Luftfahrzeuge. Auch das Münchner Unternehmen Alpine Eagle, das derzeit in der Ukraine sein luftgestütztes UAV-Abwehrsystem testet, und Helsing, eines der größten europäischen Start-up-Unternehmen in der Verteidigungstechnik, waren anwesend.
Die Zusammenarbeit zwischen Brave1 und deutschen Akteuren befinde sich in der Anfangsphase und habe großes Wachstumspotenzial, sagte ein Sprecher des Clusters auf Anfrage.
Vor Ort waren aber aus Deutschland nicht nur Start-ups. Der erste Tag der Veranstaltung begann mit einem Panel zu Innovationen in der Luftverteidigung. Auf der Bühne: der Rheinmetall-Vizepräsident und Head of Digitalization Daniel Scheer; die Rheinmetall-Luftverteidigungssysteme Gepard und Skynex werden seit 2022 in der Ukraine eingesetzt.
Systeme kooperieren nicht ausreichend
Ein großes Problem, da waren sich die Podiumsteilnehmer einig, ist nicht nur der Mangel an Fähigkeiten, sondern auch die noch unzureichende Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Systemen. Diese Zusammenarbeit ist unerlässlich, da die gegnerischen Offensivfähigkeiten nicht nur aus großen und teuer produzierten Marschflugkörpern bestehen, sondern auch aus kleinen und relativ billigen Drohnen wie der iranischen HESA Shahed 136. Um etwa einen Angriff von Dutzenden Drohnen abzuwehren, die aus verschiedenen Richtungen auf unterschiedliche Ziele anfliegen, brauche man ein umfassendes Luftlagebild, das unter anderem auf Grundlage vernetzter Radare gezeichnet wird, argumentierte Daniel Scheer.
Wie können unter den komplexen Umständen eines Einsatzes im Kampf richtige Entscheidungen schnell gefällt werden? Hochentwickelte Raketen, wie sie im Luftverteidigungssystem MIM-104 Patriot verwendet werden, gegen eher plumpe Drohnen abzufeuern, wäre absolut ineffektiv, sagte Oleksandr Bornyakov, stellvertretender Minister für digitale Transformation der Ukraine. Daher müssten nicht nur die Radare in ein digitales System eingebunden werden, sondern auch kostengünstige und mobile Luftabwehrfähigkeiten.
Um die Produktion solcher Fähigkeiten zu steigern, braucht Europa nicht nur Geld, sondern auch Reformen in den Beschaffungsprozessen. Die Hersteller brauchten Planungssicherheit, argumentierte Scheer.
Oleksandr Bornyakov zeichnete ein düsteres Bild von den Folgen ausbleibender Reformen: „Die baltischen Länder würden in drei bis fünf Tagen vernichtet, wenn die Russen morgen angriffen. Die Russen haben von den Ukrainern gelernt, wie man Drohnen einsetzt, während die Europäer sich auf die alte Art und Weise verteidigen werden.“
Keine typische Waffenmesse
Die Brave1-Veranstaltung war keine typische Waffenmesse. „Die gezeigten Systeme unterscheiden sich deutlich von Produkten, wie man sie etwa auf der Eurosatory in Paris findet – weniger Hochglanz, mehr gefühlte Effektivität und Skalierbarkeit“, sagte Daniel Stahlmann, Gründer von Valofly. Daniel Scheer von Rheinmetall stimmte weitgehend zu: Das Forum sei ein Schmelztiegel für Innovation mit einer sehr pragmatischen Ausrichtung auf den aktuellen Bedarf.
Apropos aktueller Bedarf: Nach der Rede von US-Vizepräsident J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2025 wurde im Gespräch mit den ukrainischen Start-ups und Anwendern sehr deutlich, dass europäische Sicherheit auch in Europa hergestellt werden muss. So zeigte sich Daniel Stahlmann überzeugt: Alle wichtigen Komponenten müssten vor Ort produziert werden.
Eine Blaupause?
Die Brave1 erfuhr Lob auch von berufener Seite. General David Petraeus, Ex-Befehlshaber der ISAF in Afghanistan, sagte, die in Kyjiw gezeigte Technologie gehe weit über das hinaus, was er zuvor gesehen habe, auch in den USA. Umso bemerkenswerter, dass deutsche zivilgesellschaftliche Akteure der ukrainischen Verteidigungstechnologie so wenig Aufmerksamkeit schenken. Das gilt auch für die deutschen Verteidigungsinnovatoren: „Auch unser Technologie-Cluster wie der Cyber-Innovation Hub der Bundeswehr ist im Zivilen kaum bekannt“, sagte Stahlmann.
Das Defense-Tech-Ökosystem der Ukraine ist bis heute von einer speziellen Vernetzung gekennzeichnet, die womöglich ein Vorbild sein kann.
- Die Armee macht Eingaben zu Bedürfnissen und gibt Feedback zur Leistung der Produkte;
- Start-ups entwickeln Technologien und machen sie wirtschaftlich lebensfähig;
- die Regierung erhöht die Geschwindigkeit der Produktentwicklung durch die Liberalisierung des Marktes und verringert die Risiken für die Start-ups durch die Straffung der Beschaffung;
- Wissenschaft und die Medien erstellen aus den öffentlich zugänglichen Daten ein nachvollziehbares Bild.
Sicherheit und Verteidigung dürfen nicht länger Themen bleiben, über die die Deutschen gar nicht oder erst dann reden, wenn es zu spät ist. Sollten die USA sich tatsächlich aus Europa zurückziehen, bedarf es eines viel breiteren Ansatzes, um diese gewaltige Lücke zumindest zum Teil zu schließen.
Internationale Poltitik, Online-Veröffentlichung; 19. März 2025
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