Das Wachsen der Anderen: Wirtschaftliche Demokratisierung
Südkorea müsste endlich die Macht der Konglomerate einschränken
Redet man mit Südkoreanern über die Schuldenkrise in Europa und den USA, kommt das Gespräch schnell auf die Goldsammlung von 1997. Damals bedrohte die Asien-Krise das „Wirtschaftswunder am Han-Fluss“, das Land stand kurz vor dem Bankrott. In einem Verzweiflungsakt rief die Regierung die Bevölkerung auf, ihren Goldschmuck abzuliefern und die Welt damit zu überzeugen, dass Südkorea seine Schulden zurückzahlen werde. Tatsächlich standen die Südkoreaner Schlange, um mit ihren Familienschätzen das Land zu retten. Die kollektive Aufopferung verfehlte ihre Wirkung nicht. Das Vertrauen in die südkoreanische Wirtschaft war bald wiederhergestellt. Derartige Solidarität sei typisch für Südkorea, sagen die Koreaner stolz und empfehlen den heutigen Krisenstaaten eher ironisch die gleiche Medizin, wohl wissend, dass kaum ein anderes Volk dazu bereit wäre.
In der gegenwärtigen Krise hat das Land keine neue Goldkollekte ausrufen müssen. Auch darauf ist man in Südkorea stolz. Wenige Staaten haben den globalen Turbulenzen nach der Lehman-Pleite besser getrotzt. 2012 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um 2 Prozent. Für dieses Jahr erwartet die Regierung 2,6 Prozent. Das ist zwar deutlich weniger als in Vorkrisenzeiten, aber besser als in vielen anderen Industrienationen.
Dennoch ist man ist Südkorea kaum weniger nervös als im Rest der Welt, denn die Statistiken sind so eindeutig positiv nicht. Für die Exportindustrie, die rund die Hälfte der südkoreanischen Wirtschaftskraft ausmacht, ist jede Erschütterung der internationalen Konjunktur ein neuer Test ihrer Flexibilität und Widerstandskraft. Und die im Februar angetretene Präsidentin Park Geun-hye muss erst noch zeigen, ob sie eine grundlegende Reform des Wirtschaftssystems tatsächlich durchsetzen kann, von dessen Notwendigkeit man in Südkorea weitgehend überzeugt ist. Optimisten und Pessimisten finden in den aktuellen Wirtschaftskennzahlen gleichermaßen Bestätigung. Zu den positiven Daten gehört die Entwicklung der Industrieproduktion, die im April zum ersten Mal seit vier Monaten wieder ein Wachstum verzeichnete. Die Exporte steigen ebenfalls leicht an und lagen im Mai immerhin 3,2 Prozent über Vorjahresniveau. Auch die Verbraucher zeigen sich noch zuversichtlicher. Das Stimmungsbarometer der Bank of Korea stieg von 102 im April auf 104 im Mai (Werte oberhalb von 100 bedeuten eine optimistische Grundhaltung).
Pessimistischer stimmt dagegen der Einkaufsmanagerindex. Der wichtige Indikator für die mittelfristige Entwicklung der Industrie zeigt, dass die Auftragseingänge in koreanischen Fabriken im Mai leicht rückgängig waren. Ein Grund könnten Währungsverwerfungen sein: Südkoreas Exporteure klagen über den Kursverfall des japanischen Yen, der seit Ende vergangenen Jahres gegenüber dem Dollar rund 20 Prozent an Wert verloren hat. Der Won hat seinerseits gegenüber dem Yen um fast ein Drittel zugelegt. Da koreanische und japanische Unternehmen in vielen Branchen direkte Konkurrenten sind, bringt die Kursveränderung den Koreanern deutliche Wettbewerbsnachteile.
Sorgen verursachen auch Südkoreas fallende Immobilienpreise. In Seoul ist der Preis für Wohnungen seit 2008 um rund 15 Prozent gefallen und sinkt weiter. Viele Familien sind dadurch in eine Schuldenfalle geraten. Kurzfristig versucht die Regierung, die Negativtrends mit einem Konjunkturprogramm aufzufangen. Präsidentin Park brachte als eine ihrer ersten Amtshandlungen einen 5,3 Billionen Won (3,6 Milliarden Euro) schweren Sonderhaushalt auf den Weg. Drei Viertel des Stimulus sollen bis Ende Juni ausgegeben werden.
Damit versucht Park, sich Zeit zu verschaffen, um ihr wichtigstes Wahlversprechen anzugehen: die „wirtschaftliche Demokratisierung“, ein Slogan, mit dem auch ihre Konkurrenten auf Stimmenfang gegangen waren. Gemeint ist damit die Einschränkung der Macht von Koreas mächtigen Industriegruppen, den „Chaebol“. Die zehn größten Konglomerate erzeugen rund 70 Prozent der koreanischen Wirtschaftsleistung. Zwar erkennen die Koreaner an, dass Unternehmen wie Samsung oder Hyundai die Träger des Aufschwungs sind, die das Land in den vergangen Jahrzehnten von einem der ärmsten Länder der Welt zu einer wohlhabenden Industrienation machten. Doch inzwischen werden sie auch für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich verantwortlich gemacht. Zahlreiche Korruptionsskandale haben den Koreanern vor Augen geführt, dass ihre Unternehmen nicht nur die Interessen der Allgemeinheit verfolgen.
Park hat versprochen, die Konglomerate zu „mehr sozialer Verantwortung“ zu zwingen; wie sie das erreichen will, bleibt unklar, schließlich ist sie mit den Chaebol eng verbunden. In den sechziger und siebziger Jahren war es ihr Vater, der Militärherrscher Park Chung-hee, der dem Aufstieg der Konglomerate den Weg ebnete. Bis heute ist Parks konservative Partei eng mit den Chaebol vernetzt. Das weckt Zweifel, ob die Präsidentin den mächtigen Unternehmerclans tatsächlich die Stirn bieten kann. Bisher fordert sie von diesen nur vorsichtig „Selbstbeschränkung“. Ob das den Koreanern genug ist, scheint ungewiss. Als sie in der Asien-Krise ihr Gold abgaben, taten sie dies in der Überzeugung, dass ihre politische Führung sich für das Land nicht weniger aufopferte als sie. Heute ahnen viele Koreaner, dass die Realität komplizierter ist.
Wachstumsrate: 3,7 %
BIP pro Kopf: 24.590 $
Inflationsrate: 2,9 %
Arbeitslosenquote: 3,2 %
Haushaltsbilanz (% BIP): 2,6
Bernhard Bartsch berichtet aus Peking u.a. für die Frankfurter Rundschau, die NZZ und brand eins.
Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 32-34