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07. Juli 2015

Das Problem ist die Realität

Was in der Debatte zur „Bekämpfung der Fluchtursachen“ ungesagt bleibt

Die Antwort der deutschen und europäischen Politik auf das Migrations- und Flüchtlingsdrama auf dem Mittelmeer könnte einhelliger nicht sein: Unisono reagierten politische Entscheidungsträger, Medien und zivilgesellschaftliche Organisationen auf die schockierenden Bilder mit der Aufforderung, nun vordringlich "die Fluchtursachen zu bekämpfen". Doch Entwicklungszusammenarbeit ist vieles – aber kein Wundermittel gegen eine akute Flucht- und Migrationskrise von epischen Ausmaßen.

Die Bundeskanzlerin, das Auswärtige Amt, die Entwicklungscommunity, die Kirchen, die Parteien, der Deutsche Gewerkschaftsbund, das Europäische Parlament, ja selbst David Cameron und Matteo Renzi sind sich einig – und  Entwicklungsminister Gerd Müller bringt es in der aktuellen Ausgabe der IP auf den Punkt: Es gehe jetzt darum, "das Leid in den Herkunftsländern zu bekämpfen". "Wer Fluchtursachen verringern will", müsse "dort hingehen, wo die Not am größten ist". Dort müsse man "in Entwicklung investieren. Es geht um den Aufbau von Infrastruktur, die Einrichtung von Schulen und Krankenhäusern, die Schaffung von Ausbildungs- und Beschäftigungsprogrammen, um Wirtschaftsförderung, um Einkommen - eben um bessere Lebensperspektiven."

In diesem Programm kann sich der Minister auf überwältigende öffentliche Unterstützung verlassen. So verweist eine Umfrage in derselben Ausgabe der IP darauf, dass volle 78 Prozent der Bundesbürger "umfangreichere Hilfeleistungen an die Ursprungsländer der Flüchtlinge" für die geeignetste Reaktion auf die Krise halten – und zwar parteiübergreifend.

Zumindest in der Theorie ist daran nichts auszusetzen. Es ist offensichtlich, dass eine weitgehende Angleichung globaler Lebensbedingungen globale Migrationsanreize erheblich reduzieren würde. Eine solche materielle Konvergenz auf planetarer Ebene würde nicht nur Push-, sondern auch Pull-Faktoren globaler Wanderungsbewegungen ausschalten. Fluchtbewegungen als Reaktion auf ausbrechende Konflikte ließen sich damit zwar nicht ausschließen, doch jeder ökonomischen Motivation für Migration wäre der Boden entzogen.

Soweit die Theorie. Das Problem ist die Realität. Denn selbst durch eine Vervielfachung entwicklungspolitischer Anstrengungen wird sich eine tatsächliche Angleichung der Lebensbedingungen zwischen den globalen Sende- und Empfangsländern nicht in Jahren, sondern bestenfalls in Jahrzehnten herstellen lassen – wenn überhaupt. Das belegt nicht nur die bisherige reichlich durchwachsene Bilanz klassischer Entwicklungszusammenarbeit, sondern auch die des Entwicklungsprozesses seit der Vereinigung beider deutscher Staaten. Bekanntlich startete die Bundesrepublik mit dem Fall der Mauer ein beispielloses Aufbauprogramm. Mit Entwicklungsminister Müller könnte man sagen, Ziel des als "Aufbaus Ost" bezeichneten Ansatzes war der "Aufbau von Infrastruktur, die Einrichtung von Schulen und Krankenhäusern, die Schaffung von Ausbildungs- und Beschäftigungsprogrammen" – nur eben nicht auf dem afrikanischen Kontinent, sondern in der Uckermark und in der Lausitz. Heute, im 25. Jahr dieses gesellschaftlichen Megaprojekts ist die Bilanz noch immer durchwachsen.

Sicher, die bislang investierten geschätzten 2 Billionen Euro (Klaus Schroeder) wurden nicht in den Sand gesetzt. "Blühende Landschaften", so könnte man sagen, sind mancherorts Realität. Zugleich aber belegen Statistiken (etwa der Beauftragten der Bundesregierung für die Neuen Länder), dass "die ostdeutschen Flächenländer und Berlin von 1991 bis 2012 im Saldo eine Abwanderung von 1,1 Millionen in die westlichen Bundesländer" hinnehmen mussten. Nicht einmal die historisch einmaligen Investitionen in Ostdeutschland, das Äquivalent zur aktuell geforderten "Bekämpfung der Fluchtursachen", und die konzertierte Ausrichtung der öffentlichen Wirtschaftspolitik auf "gleichwertige Lebensbedingungen" zwischen beiden Landesteilen konnten Migration verhindern. Nicht einmal nach Jahrzehnten. Nicht mit hunderten von Milliarden von Euros und nicht einmal innerhalb eines demokratischen Rechtsstaats, in dem politische Verfolgung als Push-Faktor keine Rolle mehr spielte.

Weshalb? Weil der Bezug zwischen Lebensbedingungen und Migration nicht so schwarz-weiß ist, wie in der öffentlichen Debatte oftmals dargestellt. Migration ist nicht so sehr eine Reaktion auf absolute, sondern auf die relative Abwesenheit von Lebenschancen. So wird auch deutlich, weshalb eine Anhebung von Lebensbedingungen in den aktuellen Entsendeländern Migration in einer Anfangsphase nicht nur nicht eindämmt, sondern sogar beflügeln kann.

All das ist kein Plädoyer für ein Einstellen der Entwicklungszusammenarbeit. Es ist auch kein Plädoyer für eine Politik der geschlossenen Tür gegenüber Menschen, die einen Rechtsanspruch darauf haben, vor Verfolgung wegen  ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion, ihrer Nationalität, ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung geschützt zu werden. Doch es ist ein Plädoyer für mehr Realismus in der Debatte über Möglichkeiten und Grenzen westlicher Politik.

Der quasi über Nacht entstandene europaweite politische Konsens, nun als Reaktion auf die Migrationskrise rasch die "Fluchtursachen zu bekämpfen", ist verlockend. Er übersetzt ein ethisches Dilemma in einen moralisch unkontroversen Ansatz des politischen Handelns. Damit mag er den Handlungsdruck der beteiligten Öffentlichkeiten reduzieren. Doch der Migrationsdruck nach Europa wird sich damit nicht wirksam regulieren lassen. Entwicklungszusammenarbeit ist vieles – aber kein Wundermittel gegen eine akute Flucht- und Migrationskrise von epischen Ausmaßen. 

Michael Bröning leitet das Referat Internationale Politikanalyse der Friedrich-Ebert Stiftung und ist verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft

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