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28. Febr. 2011

Das neue europäische Zauberwort

Die EU steht vor dem nächsten großen Integrationsschub – auch wenn er diesmal „Koordinierung“ heißt

Die Euro-Krise hat gezeigt: Wir brauchen mehr und nicht weniger Zusammenarbeit in der EU. Doch bis die Zeit reif ist für das große Ziel einer Politischen Union, müssen neue Kooperationsmodelle gefunden werden – die jedoch keine Vertragsänderungen erforderlich machen. Denn derzeit will niemand eine neuerliche Grundsatzdebatte über die Union.

Am Anfang war die Krise – und die Erschöpfung, wie immer in Europa. Als die EU-Staats- und Regierungschefs im Jahr 2009 nach langen Ratifizierungswirren in den 27 Mitgliedstaaten endlich wussten, dass der neue Vertrag von Lissabon am 1. Januar 2010 in Kraft treten konnte, schworen sich viele vor allem eines: Nach Jahrzehnten der ständigen Reformdebatten müsse nun endlich für lange Zeit Schluss sein mit neuen Institutionen- und Vertragsdebatten.

Doch der Vorsatz hielt angesichts der ausbrechenden Schuldenkrise in der Euro-Zone noch nicht einmal ein Jahr. Bereits ab Sommer 2010 wurde wieder auf den nächsten Schritt gepocht – ausgerechnet von dem Staat, dem zuvor mangelnder Integrationswillen vorgeworfen worden war, nämlich Deutschland. Wenn man schon einen völlig neuen Euro-Rettungsschirm, eine Art Solidarsystem unter den Euro-Staaten verabrede, müsse dies angesichts der Bedeutung auch im EU-Vertrag verankert werden, argumentierte die Bundesregierung aber mit Hinweis auf das misstrauisch wachende Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.

Nach wochenlangem politischen Tauziehen zwischen dem größten EU-Staat und seinen Partnern entstand ein auf den ersten Blick typischer EU-Kompromiss: Deutschland bekam seinen Willen und die Vertragsänderung. Diese wird mit ein paar zusätzlichen Zeilen in dem die Euro-Zone betreffenden Artikel 136 aber so gering ausfallen, dass in den nationalen Ratifizierungsprozessen nach jetziger Erwartung keine neuen Referenden notwendig sein werden.

Doch der kleine Kompromiss hat eine wesentlich größere Tragweite. Denn wenig beachtet oder verstanden wurde bisher, dass er den Auftakt für eine neue wichtige Integrationsstufe in der EU bedeutet – die aber auf einem völlig neuen Weg erklommen werden wird.

Fortschritt durch Vertrag

Der klassische Weg der europäischen Integration lief lange über die Änderung der zentralen Verträge, denen zuvor alle Mitgliedstaaten zugestimmt hatten. Der Europäischen Kommission war bei der Ausformung des Binnenmarkts eine Hauptrolle zugewiesen worden. Denn nur ihre Initiativgewalt in der Rechtssetzung, so der Hintergedanke, könnte die Kraft haben, die vielen nationalen Widerstände zur Bildung eines europäischen Wirtschaftsraums zu überwinden.

Der Weg war dabei durchaus erfolgreich – auch wenn der Binnenmarkt in zentralen Bereichen wie Dienstleistungen, Finanzen und selbst Energie noch lange nicht vollendet ist. Aber er hatte enorme politische Verwerfungen und eine wachsende „Europa-Müdigkeit“ zur Folge. Denn je sensibler die Aufgabe nationaler Besitzstände wurde, desto stärker wuchsen die Ablehnungsgefühle gegenüber einer als Moloch empfundenen Brüsseler Behörde – die dabei eigentlich nur die Rolle ausfüllte, die ihr zugewiesen worden war.

Dass diese Methode des Fortschritts in einer sich erweiternden Union ein Problem werden würde, war spätestens seit der umstrittenen Aufnahme Großbritanniens in die EU klar. Denn auf der Insel hängt man noch stärker an nationalen Kompetenzen als in vielen Staaten auf dem Kontinent.

Neue Form der Integration

Deshalb wurde schließlich nach nervenaufreibenden und die Entwicklung der EU massiv verzögernden Debatten eine neue Form der Integration entwickelt: der Vertrag außerhalb des Vertrags. Statt ewig auf die bremsenden Regierungen warten zu müssen, verabredeten die integrationsfreudigen EU-Staaten auf Feldern, die nicht zum EU-Binnenmarkt gehörten, ein Vorangehen und schlossen dafür Separatverträge. Seit den achtziger Jahren wurden diese Entwicklungen mit verschiedenen Schlagworten versehen. Die Gruppe der Integrationsfreunde wurde mit Begriffen wie „Kerneuropa“, „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“, „Avantgarde“ oder „Koalitionen der Willigen“ bedacht.

Diese Methode des Voranschreitens war trotz anfänglicher Anfeindungen extrem erfolgreich und bescherte der Europäischen Union zentrale Errungenschaften wie den Euro und das Schengen-Abkommen, um den Traum eines kontrollfreien grenzüberschreitenden Reisens in den Kernländern der EU zu gewährleisten. Und das Kalkül ging auf: Weil sich beide Projekte als erfolgreich erwiesen, folgen nach und nach auch zögernde EU-Staaten. Die Sonderverträge sind mittlerweile Teil des gemeinsamen EU-Vertrags. Wer allerdings wie etwa Schweden oder Großbritannien beim Euro nicht mitmachen will, muss dies auch weiter nicht tun. Das Ergebnis waren ein Europa „à la carte“ – und neue Ängste.

Zwar hat der Lissabonner Vertrag erstmals die Möglichkeit eines Voranschreitens einer Gruppe von EU-Staaten vorgesehen. Aber auch dies erfordert zunächst immer die Zustimmung aller anderen. Und das ist ein Problem: Denn bezeichnenderweise ist die Angst in Staaten wie Großbritannien paradoxer Natur. Einerseits fürchtet man dort Kompetenzübertragungen auf die EU-Ebene. Andererseits sorgt man sich, von einer integrationistischen Avantgarde abgehängt zu werden. Es war das große Verdienst von Tony Blair, sein Land immerhin ein paar der größeren Rückstände aufholen zu lassen – auch wenn kein britischer Premierminister mutig genug scheint, seinen Landsleuten die Angst vor dem Euro zu nehmen.

Hinzu kommt die Sorge, dass das Voranschreiten der anderen Staaten Vertragsänderungen für alle Länder notwendig machen könnte. Die Bekämpfung der Euro-Krise hat gezeigt, dass diese Sorge durchaus berechtigt ist: Denn obwohl der Euro-Rettungsschirm nur die Euro-Staaten betrifft, müssen auch alle anderen die von Deutschland gewünschte Vertragsänderung ratifizieren und dafür neue innenpolitische Auseinandersetzungen riskieren.

Der dritte Weg

Bereits in der Debatte über eine EU-Verfassung haben sich weitere Probleme gezeigt. Denn offenbar war die Einsicht in die Notwendigkeit einer engeren Zusammenarbeit in vielen EU-Staaten nicht groß genug, um eine öffentliche Debatte über die Finalität der EU zu ertragen. Deshalb haben wir heute einen Lissabonner „Vertrag“ und keine „Verfassung“ – weil dieser Begriff für viele zum Symbol dafür wurde, dass sich die EU tatsächlich in einen von ihnen abgelehnten Bundesstaat verwandelt. Inhaltlich ist diese sprachliche Unterscheidung Unsinn, weil der Europäische Gerichtshof längst klar gemacht hat, dass er die gemeinsamen Verträge sehr wohl auch als normstiftende Grundlage für das Zusammenleben in Europa ansieht und diese Normen notfalls auch gegen Nationalstaaten durchzusetzen gedenkt.

Als Reaktion auf die öffentliche Debatte und das Erstarken der Europaskeptiker haben sich die meisten Regierungen stillschweigend darauf geeinigt, jede Finalitätsdebatte zu vermeiden und den notwendigen Integrationsprozess sprachlich zu verkleistern. Denn „Enddebatten“ über das zukünftige Europa, über die geografischen „Grenzen“ der Union und ihren endgültigen „Charakter“ lösen nur reflexartige Ablehnung und politische Versteifung aus.

Man kann es als Krisenzeichen deuten, dass nun auch der Begriff „Integration“ auf den Index zu geraten scheint, weil man den europaskeptischen Kräften in vielen Staaten nachgibt. Denn so wie „Verfassung“ das falsche Ziel beschreibt, steht „Integration“ aus Sicht der Europagegner für den Weg hin zu dem abgelehnten Konstrukt, das irgendwann wohl einem Zwitter zwischen Bundesstaat und Staatenbund ähneln wird.

Weil die Euro-Krise aber gezeigt hat, dass mehr und nicht weniger Zusammenarbeit in der EU und vor allem in der Euro-Zone notwendig ist, hat die Bundesregierung ein neues Zauberwort erfunden: Europäische Integration heißt ab sofort nicht mehr Integration, sondern „Koordinierung“. Formal ist dies zunächst sogar richtig. Denn als neuer dritter Weg, die EU voranzubringen, schwenkt man nun über zu einer Methode, die keine Vertragsänderung mehr nötig machen soll. Künftig sollen politische Beschlüsse der EU- oder Euro-Gipfel sowie darauf aufbauende fixierte Selbstverpflichtungen die Basis für eine sehr viel engere Zusammenarbeit bilden. Der Weg voran zielt also nicht mehr auf eine Vergemeinschaftung von Kompetenzen, sondern auf eine engere Zusammenarbeit, die auf weiter national bleibenden Zuständigkeiten basiert.

Das Rollenverhältnis zwischen EU-Kommission und Nationalstaaten unterscheidet sich auf diesen neuen Feldern damit fundamental von jenem etwa in Angelegenheiten des Binnenmarkts. Denn die Brüsseler Behörde wird vor allem die Aufgabe einer Überwachungsstelle haben, die als „neutrale“ Instanz auch Sanktionen aussprechen können soll, wenn sich die Staaten nicht an ihre Selbstverpflichtungen halten. So wurde es zumindest in der Bundesregierung in dem „Pakt für Wettbewerbsfähigkeit“ erwogen, für den das Kanzleramt im Januar dieses Jahres ein erstes Ideenpapier vorgelegt hat.

Diese Entscheidung für ein stärkeres intergouvernementales Vorgehen, das bereits beim Euro-Rettungsschirm sichtbar wurde, ist aber alles andere als ein Beweis für die angebliche „Renationalisierung“ der Europapolitik, die angesichts des Inkrafttretens des Lissabonner Vertrags und der Stärkung des Europäischen Parlaments ohnehin nur eine Schimäre ist. Im Gegenteil eröffnet nur der „dritte Weg“ ein völlig neues Spielfeld, auf dem die Europäer viel enger zusammenarbeiten werden als bisher. Denn plötzlich kann eine Abstimmung über Themen ins Visier genommen werden, über die bisher auf nationaler Ebene eifersüchtig gewacht wurde. Geht es nach Angela Merkel, gehören dazu die Sozial- und Rentenpolitik, die Haushalts- und Steuerpolitik, aber auch der Blick auf investive Ausgaben, Bildung und sogar Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst. Ein Voranschreiten wird möglich, gerade weil die Zuständigkeit formal auf nationaler Ebene verbleibt. Das mindert die Ängste.

Angesichts der Finanzkrise und der Sorge der verschuldeten Euro-Staaten ist es sehr wahrscheinlich, dass dieser Weg auch beschritten werden kann. Denn die hochverschuldeten Südstaaten oder Irland brauchen Deutschlands Hilfe, um ihre Glaubwürdigkeit an den Finanzmärkten wieder herstellen zu können. Zudem ist es in der globalisierten Welt nicht mehr notwendig, dass eine „Koalition der Willigen“ voranmarschiert – heute reicht es, wenn dies die größte EU-Volkswirtschaft tut. Denn ohne dass die Bundesregierung es so geplant hatte, hat die Einführung der nationalen Schuldenbremse dazu geführt, dass alle anderen EU-Partner plötzlich unter Druck gerieten. Anleger weltweit fragen sich, ob selbst französische Anleihen weniger sicher sind, weil ähnlich ehrgeizige Sparziele wie in Deutschland fehlen. Selten war deshalb die Chance so groß wie jetzt, die nationalen Irrwege in der Finanz und Wirtschaftspolitik vieler EU-Staaten radikal zu korrigieren.

Auch wenn die Debatte unter dem unschuldig klingenden Schlagwort „Koordinierung“ geführt werden sollte: Das Ergebnis wird ein Quantensprung für die EU sein. In die Köpfe der Europäer sickert langsam ein, dass Frankreich mit seinem jahrelangen Mahnen Recht hatte, dass der Euro automatisch eine „europäische Wirtschaftsregierung“ erfordert. Seit einem Jahr nimmt nun auch die deutsche Kanzlerin diesen Begriff in den Mund – ohne dass dies einen großen Aufschrei verursachen würde. Im Gegenteil werfen ihr SPD und Grüne vor, sie schwenke viel zu zögerlich auf diesen Kurs ein.

Auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos hat Angela Merkel im Februar 2011 davon gesprochen, dass „mehr politische Zusammenarbeit und politische Koordinierung“ notwendig seien – der verbale Schritt zu einer Politischen Union, die schon Helmut Kohl als Voraussetzung für eine Gemeinschaftswährung angesehen hatte, scheint nur noch klein.

Nun werden die Geburtsfehler des Euro korrigiert – wenngleich auf einem anderen Weg als damals gedacht. Aber auch die „Koordinierung“ wird letztlich einen weiteren großen Integrationsschub bringen. Die wohl entscheidende Frage wird sein, ob sich diesmal die Euro-Zone ein erhebliches Stück vom Rest der EU abkoppelt – oder ob die von Merkel gewünschte Offenheit für alle anderen EU-Staaten einen neuen Ansturm auf die Gemeinschaftswährung und die damit verbundene Politische Union auslösen wird.

Dr. ANDREAS RINKE ist Publizist in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, April 2011, S. 66-70

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