Interview

27. Juni 2022

„Das Korruptionsproblem? Das Demokratiedefizit“

Von Stunde Null an kennt und bekämpft die EU systemische Korruptionsrisiken. Die wahre Gefahr liegt nun in einer wachsenden Ungleichheit.

Ein Interview mit Michael Johnston

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Bild: Porträt Michael Johnston
Michael Johnston ist Professor (em.) der Colgate University im Bundesstaat New York. Er hat zahlreiche Bücher und andere Veröffentlichungen zur Korruption verfasst sowie Regierungen und Organisationen beraten.
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IP: Werfen wir einem Blick auf die globale Situation, bevor wir uns auf die Europäische Union konzentrieren. Hat das Problem der Korruption zuletzt eher zu- oder abgenommen?

Michael Johnston: Wir können Korruption nicht direkt messen, da es keine einheitliche Definition gibt, sie meist im Verborgenen stattfindet und es mehr Varianten gibt, als allgemein anerkannt wird. Aber sicherlich hat sich das öffentliche Bewusstsein für Korruption verstärkt, ebenso wie die Diskussionen und Debatten sowohl in der Wissenschaft als auch in der Verwaltung. Parallel dazu hat sich die Definition dessen, was eigentlich korrupt ist und was nicht, erheblich erweitert. Während sich viele akademische Arbeiten immer noch auf die einfache Bestechung konzentrieren, wurde eine ganze Reihe von Missbräuchen, Privilegien und Ungleichheiten – viele davon legal oder nicht eindeutig illegal – in den Mix aufgenommen.

 

Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?

Wir wissen zwar nicht, welche Trends der Korrup­tion zugrunde liegen, aber wir beobachten vielfach eine Zunahme von Korruptionsproblemen und -wahrnehmungen. Es gibt zahlreiche Gründe sowohl für das Fortbestehen der Korruption als auch dafür, dass das Bewusstsein für das Problem immer mehr wächst. Die steigende Ungleichheit in den Gesellschaften auch in der EU führt zu einer großen Skepsis gegenüber den Methoden, mit denen die Reichen noch reicher werden; in vielen Fällen ist diese Skepsis gesund und nützlich. Populismus ermutigt die Bürger, sich auf die Art und Weise zu konzentrieren, in der sie aus den Entscheidungsprozessen verdrängt und in der ihre Rechte und Rolle als Bürger missachtet zu werden scheinen. Das gilt sowohl für die aggressiveren Ausprägungen des Populismus (Orbán, Trump, Bolsonaro, Duterte usw.) als auch für seine sanfteren Varianten. Ich würde auch die zahlreichen Beispiele von Datenleaks wie die Paradise Papers anführen, außerdem die neue, gute Sichtbarkeit von Oligarchen in verschiedenen Teilen der Welt. All das trägt dazu bei, das Bewusstsein für Korruption zu schärfen. Ein weiterer Faktor sind die zahlreichen Erklärungen von Regierungen und Organisationen, dass sie die Korruption „bekämpfen“ und vielleicht „Nulltoleranz“ praktizieren wollen. Für mich ist letzteres allerdings ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich nicht im Detail mit Korruption auseinandergesetzt haben. Denn trotz aller solch hochtrabender Erklärungen scheinen sich die Dinge für die meisten Bürger nicht zu verbessern. Mit der Zeit entpuppen sich einige vermeintliche Reformkreuzzüge als Vorwand, um die Oppositionsführer einzusperren.

 

Wie hat sich die Korruption im Laufe der Zeit verändert, und was sind aktuell ihre wichtigsten Merkmale?

Ich würde sagen, dass immer mehr Korruption legale oder institutionelle Formen annimmt. Es geht um Aktivitäten, die legal oder nicht eindeutig illegal sind und die im Rahmen – und oft unter dem Schutz – etablierter Gesetze und Institutionen durchgeführt werden, anstatt sie zu missachten. Lawrence Lessig und Dennis Thompson haben hervorragende Arbeiten zu diesem Phänomen verfasst. In gewisser Hinsicht ist die Korruption parallel zum Anstieg der Ungleichheit in der Welt verlaufen.

 

Kommen wir nun zur EU. Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation vor dem Hintergrund, dass Korruption eine der größten Bedrohungen für die Rechtsstaatlichkeit darstellt?

In der EU gibt es einige innovative Gesetze, aber ähnlich wie in den USA waren die wichtigsten Initiativen technokratische, auf die Durchsetzung und Einhaltung des Rechts ausgerichtete Ansätze. Sie haben die Notwendigkeit vernachlässigt, sozialen Widerstand gegen Korruption zu entwickeln und zu kanalisieren – das heißt zum Beispiel, Initiativen zur Korruptionsbekämpfung dabei zu helfen, Legitimität, einen guten Ruf und eine starke soziale „Eigenverantwortung“ zu erwerben. Das bedeutet mindestens zwei Dinge: Zum einen müssen die Bemühungen zur Korruptionsbekämpfung mit Fragen der Lebensqualität und der Leistungsfähigkeit der Regierung verknüpft werden, die die Bürger tagtäglich betreffen. Zweitens müssen die demokratischen Verpflichtungen, die der EU-Mitgliedschaft angeblich zugrunde liegen, ernst genommen werden. Ungarn unter Viktor Orbán setzt diese Verpflichtungen ernsthaft unter Druck; wird die EU darauf in maßgeblicher Weise reagieren? Das Problem wird sich nicht dadurch auflösen, dass man wegsieht.

 

Gibt es aus Ihrer Sicht spezifisch europäische Probleme in Sachen Korruption?

In einigen Bereichen, wie der Gemeinsamen Agrarpolitik, sind Korruptionsrisiken wohl schon lange sozusagen systemisch eingebaut – obwohl man fairerweise sagen muss, dass die Agrarpolitik in jeder fortgeschrittenen Wirtschaft problematisch ist. Meiner Meinung nach, und das ist eine Meinung, die von vielen anderen Analysten angezweifelt werden könnte, ist das europäische Korruptionsproblem, das größerer Aufmerksamkeit bedarf, das Demokratiedefizit im weitesten Sinne, das ich oben skizziert habe.

 

Was wären die wichtigsten Maßnahmen im Kampf gegen die Korruption?

Transparenz wird oft als Allheilmittel angesehen, aber sie ist zunächst ja nur ein Ausgangspunkt. Damit Transparenz effektiver wird, muss es unabhängige Gruppen geben, Nichtregierungsorganisationen, die Zivilgesellschaft, die Medien und viele mehr, die ein Interesse daran haben, Transparenz und die Informationen, die sie freisetzt, offensiv politisch zu nutzen. In gewisser Weise entstehen die meisten Korruptionsprobleme, wenn sich jemand dagegen wehrt, was die Eliten mit ihrem Reichtum und ihrer Macht anstellen. Diese Einwände können ohne eine organisierte soziale und politische Basis weder als selbstverständlich angesehen werden, noch kann man erwarten, dass sie wirksam sind. Ich würde auch sagen, dass die transnationale und regionale Zusammenarbeit immer wichtiger wird. Das Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Korruption (UNCAC) ist breit angelegt, aber in vielerlei Hinsicht oberflächlich – eine aggressive Zusammenarbeit über regionale Blöcke hinweg kann effektiver sein. GRECO ist ein gutes Beispiel ...

 

… eine Staatengruppe des Europarats, die 1999 gegründet wurde, um die Korruption europaweit zu bekämpfen, und die heute 50 Mitglieder hat, davon 48 europäische Staaten und die USA …

… und es gibt eine Reihe anderer Initiativen, die nicht speziell auf Korruption ausgerichtet sind, aber großes Potenzial haben – die Open Government Partner­ship ist hier zu nennen. Es gibt auch eine Reihe kleinerer Staaten, die sich der Korruptionsbekämpfung verschrieben haben und unsere Hilfe verdienen. Hier kommt mir Georgien in den Sinn, Ghana hat einige positive Veränderungen vorgenommen, und die Ukraine hatte vor dem 24. Februar, dem Beginn des russischen Angriffskriegs, ebenfalls positive Anzeichen gezeigt.

 

Wie stufen Sie die EU in ihrem Kampf gegen die Korruption im weltweiten ­Vergleich ein?

Ich gebe ihr auf politischer und technokratischer Ebene gute oder bessere Noten, aber es gibt das Problem des Demokratiedefizits – sowohl allgemein als auch speziell in Bezug auf Ungarn und möglicherweise andere östliche Mitgliedstaaten. Die EU ist so etwas wie ein schlafender Riese, was ihren potenziellen Einfluss angeht, sowohl dank der Größe ihrer Wirtschaft als auch ihrer Innovationsfähigkeit. In diesem Sinne könnte die Förderung einer gewissen Experimentierfreudigkeit bei der Korruptionsbekämpfung unter den Mitgliedstaaten zu überraschenden Ergebnissen führen … Zugegebenermaßen wäre dies eine Art kultureller Wandel!

 

Gibt es beispielhafte europäische Maßnahmen, die anderen Ländern als Vorbild dienen könnten? Gehört zum Beispiel OLAF dazu, das europäische Amt für Korruptionsbekämpfung?

OLAF sollte man aufmerksam beobachten, ja. Ich denke auch, dass die Überwachung und Durchsetzung der jüngsten Sanktionen gegen Russland ein Bereich für wichtige Innovationen sein sollten. Ob das tatsächlich so kommt, werden wir sehen.

 

Modellrechnungen zufolge kostet die Korruption allein Deutschland weit über 100 Milliarden Euro im Jahr. Worauf ­führen Sie das zurück?

Zur Wahrheit gehört, dass diese Zahl für wegen der schieren Größe der deutschen Wirtschaft so hoch ist. Der legendäre amerikanische Kriminelle Willie Sutton wurde gefragt, warum er Banken ausraubte; seine Antwort war „weil dort das Geld ist“. Außerdem beruht der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands auf einer engen Zusammenarbeit und Verflechtung öffentlicher und privater Einrichtungen und Funktionen, was zwar offensichtlich erfolgreich ist, aber auch zu einem gewissen Maß an Absprachen und Korruption führen kann. Es hat eben immer alles zwei Seiten.



Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind untrennbar miteinander verbunden. Kann der offensichtliche Rückzug einiger Länder vom Prinzip der guten Regierungsführung zu einer existenziellen Frage für die EU werden?

Ja, auf jeden Fall. Hier würde ich Ungarn sehr genau beobachten, zusammen mit Ländern wie Polen, Bulgarien, Rumänien und einigen der unappetitlicheren politischen Formationen, die als Reaktion auf die wirtschaftlichen Probleme Griechenlands Anfang des 21. Jahrhunderts entstanden sind. Und natürlich Frankreich: In den USA haben einige Beobachter behauptet, dass der jüngste Sieg Macrons einen Triumph der Demokratie über den Rechtsextremismus darstellt; aber ich glaube, dass Frankreich in dieser Hinsicht noch große Probleme hat. Ich glaube, wenn die Rechtsstaatlichkeit – im Hinblick auf Korruption und eine Reihe anderer Herausforderungen – nachhaltig sein soll, muss sie auf einer soliden demokratischen Basis stehen, das heißt alle Teile der Gesellschaft und der politischen Arena müssen ein starkes Interesse an ihrem Erfolg haben. Hier geben uns die jüngsten Entwicklungen in vielen Ländern Anlass zur Sorge. Aber, seien wir fair, die Vereinigten Staaten von Amerika sind in diesen Tagen auch kein wirklich ermutigendes Beispiel.    

 

Interview und Übersetzung: Martin Bialecki

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2022, S. 28-31

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