Das Ende ist nicht nah
Europas Sozialdemokratie erlebt einen Niedergang, aber er ist umkehrbar
Nicht nur die SPD steckt im Dauertief, in ganz Westeuropa tun sich Sozialdemokraten schwer, bei den Wählern anzukommen. Doch ihre Werte und Politikansätze werden weiterhin gebraucht. Und ein Comeback ist nicht ausgeschlossen, wenn sie Lösungen für zwei Schlüsselthemen anbieten können: Wirtschaftskompetenz und Identitätspolitik.
Seit einem Jahrzehnt erleben die sozialdemokratischen Parteien Westeuropas einen schmachvollen Niedergang. Der Absturz der gemäßigten Linken ist beispiellos: Selbst da, wo Sozialdemokraten – meist in Koalitionen mit anderen Parteien – in den vergangenen Jahren an die Macht kamen, machten sie oft eine unglückliche Figur und wurden bald wieder abgewählt. Viele Kommentatoren haben die sozialdemokratische Bewegung deshalb für tot erklärt und schreiben den offenbar unaufhaltsamen Abstieg ihrer schwindenden ideologischen Wirkungskraft zu.
Welche Faktoren haben zum Abstieg der Sozialdemokratie – und dem gleichzeitigen Aufstieg populistischer Bewegungen in ganz Europa – geführt? Wie könnte sich die Linke gegen den Niedergang stemmen? Und wie könnte eine zukunftsträchtige sozialdemokratische Politik in Europa aussehen?
Die neuen politischen Landschaften
Die Rahmenbedingungen, unter denen sozialdemokratische Parteien und Regierungen ihre politische Arbeit heute betreiben, sind unsicher und fragil. Das betrifft nicht nur die Finanz- und Euro-Krise, eine der schlimmsten ökonomischen Krisen in der Geschichte des Westens. Das gesamte kapitalistische System befindet sich in einem grundlegenden Wandel: Die immer schnellere Folge technologischer Innovationen und der zurückgehende Anteil klassisch-industrieller Fertigung weisen darauf hin, dass sich die hochentwickelten Ökonomien an der Schwelle zu einer „dritten“ industriellen Revolution befinden. Diese könnte einschneidende Folgen haben und die etablierten politischen und wirtschaftlichen Institutionen untergraben.
Außerdem geraten Staatsfinanzen und Wohlfahrtssysteme aufgrund der durch die Finanzkrise entstandenen haushaltspolitischen Zwänge in bislang unbekanntem Maße unter Druck – so sehr, dass die künftige Verfasstheit des Staates als solche zur Disposition steht. Die „Nachwehen“ der Krise verstärken den Effekt langfristiger demografischer Entwicklungen wie Alterung oder Geburtenrückgang. Der globale Wandel wird weiter befeuert durch die wachsende wirtschaftliche Macht der aufstrebenden Schwellenländer und den relativen Bedeutungsverlust des Westens. Just in diesem Moment ist der Sozialdemokratie das Gefühl abhandengekommen, ihre Existenz sei ein Produkt historischer Vorsehung, der sie im späten 19. Jahrhundert ihre Entstehung verdankte. Zur Überraschung vieler ist das Pendel der Geschichte gegen die gemäßigte Linke ausgeschlagen.
In den entwickelten kapitalistischen Ländern wird heute über Ungleichheit, über globale Unordnung durch entfesselte Finanzmärkte und über die fragwürdige Moralität des Kapitalismus diskutiert. Hinzu kommt die immer aktuelle Sorge über die Auswirkungen des technologischen Wandels und die Automatisierung des Arbeitsmarkts. Eigentlich sollten Sozialdemokraten leichtes Spiel haben, mit ihren Rezepten gegen die Krisen des Kapitalismus zu punkten.
Paradoxerweise scheinen die Krisen aber vor allem den Konservativen und den Rechtspopulisten zu nützen. Geschickt setzen beide die Austeritätspolitik für ihre Zwecke ein. Die moderate Rechte tut das, indem sie Mitte-Links-Parteien als verschwenderisch und ökonomisch inkompetent darstellt. Gleichzeitig werden die gemäßigten Konservativen vor allem in Nordeuropa von noch weiter rechts stehenden populistischen Parteien herausgefordert, die Ängste und durch die Globalisierung bedingte Unsicherheiten befeuern. So war es bei den Wahlen in Dänemark im vergangenen Jahr die rechtspopulistische Dänische Volkspartei und nicht die Konservative Volkspartei, die zur Ablösung der linken Koalition von Ministerpräsidentin Helle Thorning-Schmidt beitrug.
Das zerstörte Vertrauen in den Kapitalismus und die Rückkehr staatlicher Markteingriffe auf die politische Agenda haben der Linken wenig neuen Aufwind beschert. Die Europawahlen 2014 hätten für das Mitte-Links-Lager kaum schlechter laufen können; seit 1979 waren seine Parteien nicht mehr so schwach im Europaparlament vertreten. In Deutschland erzielte die SPD ihre miserabelsten Ergebnisse seit den 1890er Jahren. In Spanien erlitt die Sozialistische Arbeiterpartei (PSOE) herbe Rückschläge; in Irland halbierte sich der Stimmenanteil der Labour Party von 14 auf 7 Prozent. In den Niederlanden landete die Partei der Arbeit (PvdA) in Umfragen bei unter 10 Prozent. Auch in Frankreich, wo die Sozialisten regieren, sieht es derzeit alles andere als gut aus.
Die britische Labour Party erlebte 2010 und 2015 ihre größten Niederlagen seit 1918. In Schweden, einem der Kernländer der europäischen Sozialdemokratie, verlor das Mitte-Links-Lager erstmals seit über einem Jahrhundert zwei Parlamentswahlen in Folge, bevor die Sozialdemokraten im vergangenen Jahr wieder an die Macht kamen. Lediglich Italien gibt Anlass zu sozialdemokratischem Optimismus: Die Demokratische Partei von Ministerpräsident Matteo Renzi errang bei den Wahlen 2014 über 40 Prozent der Stimmen. Bei den Regionalwahlen zeigte sich allerdings kürzlich die altbekannte Unbeständigkeit der italienischen Politik: Renzis Partei erlitt einen Rückschlag, der deutlich machte, dass es noch ein weiter Weg bis zu einer tragfähigen linken Koalition ist.
Gewiss, die häufig regierenden Mitte-Rechts-Parteien haben ebenfalls Einbußen hinnehmen müssen. Da sich die Politik schwer tut, die langfristigen Folgen der Finanzkrise in den Griff zu bekommen, wächst allgemein die Ablehnung etablierter Parteien. Das schlechte Abschneiden der Sozialdemokraten lässt sich natürlich zum Teil durch deren schwache Führungen, ihr fehlendes Angebot an glaubhaften Alternativen (vor allem in der Wirtschaftspolitik) und durch interne Querelen in instabilen Koalitionsregierungen erklären. Doch die Sozialdemokraten verlieren nicht nur Wahlen. Angesichts wachsender ökonomischer Turbulenzen und explodierender Staatsverschuldung fragen sich viele, ob sich die Sozialdemokratie überhaupt jemals wieder erholen werde. Kritiker argumentieren, das Mitte-Links-Lager lasse ein überzeugendes Wahlprogramm und ein stimmiges ideologisches Konzept vermissen. Zum Regieren habe es keine glaubwürdige Strategie. Daher ist es nicht völlig unmöglich, dass wir gerade den Untergang der Sozialdemokratie erleben.
Angewiesen auf den Primat der Politik
Verschlimmert werden die genannten Probleme durch strukturelle Verschiebungen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, die den Wählerstamm der sozialdemokratischen Parteien schrumpfen lassen. Mit dem Wandel der politischen Landschaft werden auch sozialdemokratische Ideen infrage gestellt, die seit dem Zweiten Weltkrieg in den meisten europäischen Staaten tief verankert waren. So wurden der Universalismus des Wohlfahrtsstaats und sein Versprechen, materielle Bedürfnisse zu befriedigen, durch die Idee der Eigenverantwortung ersetzt. Sozialdemokratische Überzeugungen scheinen als immer weniger legitim wahrgenommen zu werden. Und auch in Zukunft werden die großen sozialen und ökonomischen Trends die Politik transformieren.
Zwei grundlegende Veränderungen von historischer Dimension haben der Sozialdemokratie seit Ende des Kalten Krieges das Leben besonders schwer gemacht. Die erste ist die Globalisierung, die nicht nur die weltweite Integration der Märkte brachte, sondern auch Deregulierung und Liberalisierung. Diese stärkten das Kapital auf Kosten der Arbeiter und der demokratischen Regierungen. Die zweite Veränderung betrifft die Abwertung der Politik gegenüber den Märkten und anderen sozialen Kräften. Für eine Bewegung wie die Sozialdemokratie, die existenziell auf den Primat der Politik angewiesen ist, bedeutet das eine gefährliche Entwicklung.
Die globalen Handelsliberalisierungen und die Schwächung der Politik haben erhebliche Auswirkungen. Globalisierung revolutioniert – mit einschneidenden Konsequenzen für die etablierten Institutionen. Sie hat zu einem bis dato ungekannten Wirtschaftswachstum und deutlich höheren Lebensstandards geführt, aber ihre Errungenschaften wurden nicht gleichmäßig verteilt. Heute scheint die Globalisierung ihr Versprechen nicht mehr halten zu können, die Lebenssituation der Menschen jenseits der wirtschaftlichen und politischen Eliten zu verbessern. Folgerichtig erleben wir eine heftige politische Gegenreaktion, die in der weit verbreiteten Ablehnung einer liberalen Migrationspolitik und der europäischen Integration am sichtbarsten ist. Weltoffenheit wird nun von einer wachsenden Fremdenfeindlichkeit bedroht, die von neuen Unsicherheiten bezüglich nationaler Identität und Zugehörigkeit genährt wird.
Gleichzeitig erscheinen die politischen Institutionen immer weniger in der Lage, mit diesen Problemen umgehen zu können. Rund-um-die-Uhr-Berichterstattung und soziale Medien haben die Politik transparenter, aber auch anfälliger gemacht. Öffentliches Misstrauen gegenüber Politikern und Institutionen hat deren Legitimität geschwächt, was sinkende Wahlbeteiligungen belegen. Die Wähler wollen schnelle Ergebnisse, obwohl politischer Wandel oft das braucht, was der Soziologe Max Weber „ein starkes, langsames Bohren von harten Brettern“ genannt hat. Auch das Vertrauen in die EU-Institutionen war nie niedriger. Obwohl Regierungen mit immer mehr globalen Herausforderungen zu kämpfen haben, fehlen die transnationalen Mechanismen, die mit der Interdependenz umgehen könnten und gleichzeitig demokratische Legitimität gewährleisteten.
Ist die sozialdemokratische Mission erledigt?
Was sind die strukturellen Schwächen der sozialdemokratischen Parteien? Kurz vor der Jahrtausendwende rief der Soziologe Ralf Dahrendorf das „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ aus. Für ihn waren der „Dritte Weg“ oder andere „revisionistische“ Projekte bloß verzweifelte und meist ergebnislose Versuche, in einer veränderten politischen Landschaft relevant zu bleiben. Diese Sicht schwingt bei jenen mit, die die sozialdemokratische Mission für erledigt halten, da heute Mitte-Links-Programme mit Mainstream-Politik praktisch deckungsgleich seien. Die Sozialdemokratie stelle den Status quo nicht mehr infrage.
Eine weniger bequeme Lesart ist, dass die Sozialdemokratie schon seit der globalen Öffnung nach dem Ende des Kalten Krieges einen aussichtslosen Kampf führt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein Modell nationalstaatlicher Sozialdemokratie entstanden, bei dem nationale Solidarität über das internationale Klassenbewusstsein ging. Diese Periode wurde von der Absicht geprägt, die Verhältnisse der Arbeiterklasse innerhalb nationaler Grenzen zu verbessern, vor allem mithilfe von Umverteilung und neuen Sozialleistungen. Durch die fortschreitende europäische und globale Integration nach dem Kalten Krieg ersetzte jedoch – genährt vom Zuwachs internationaler wirtschaftlicher Konkurrenz und von Migration – eine neue protektionistische Denkweise den transformativen Charakter der Sozialdemokratie. Mitte-Links-Parteien wurden konservativer und verlegten sich auf das Ziel, ihre Errungenschaften aus der Nachkriegszeit lediglich zu verteidigen.
Darüber hinaus hat die neue Welle der Globalisierung und des Marktkapitalismus kollektive Institutionen geschwächt und zu einer stärker individualistisch ausgerichteten Gesellschaft mit sinkender Klassenidentifikation und schwindender Solidarität beigetragen. Daher markiert das Ende des Kalten Krieges das Ende ambitionierter sozialdemokratischer Visionen, obwohl es diese Phase war, die den Sozialdemokraten die Möglichkeit gab, sich links der Mitte von den Exzessen des Staatssozialismus abzugrenzen. Durch die abnehmende Bedeutung von Klassen vergrößerten sich soziale Unterschiede in Bezug auf Migration und Identität, was neue Populisten links wie rechts hervorbrachte.
Migration, Integration und Identität
Soziale und demografische Veränderungen werfen Fragen über die Zukunft, Nachhaltigkeit und Struktur des europäischen Wohlfahrtssystems auf. In der ganzen EU wachsen Bedenken über die sozialen Auswirkungen von Zuwanderung, trotz der wirtschaftlichen und kulturellen Vorteile, die Einwanderung den Mitgliedstaaten bringt. Als die äußerste Rechte bei den Wahlen zum EU-Parlament 2014 Erfolge mit einer ausgesprochen migrationsfeindlichen Agenda feierte, was das so etwas wie das Testament der untergehenden Sozialdemokratie.
Die wachsende Schere zwischen Arm und Reich vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass Migration eines der politischen Hauptprobleme werden wird. Die steigende Arbeitslosigkeit trägt zu neuer innereuropäischer Migration bei. Teilweise beunruhigende politische Entwicklungen und Spannungen, die während der Finanzkrise verebbt waren, erschüttern das „neue“ Europa. Die Osterweiterung der EU, kombiniert mit der Stagnation der südeuropäischen Ökonomien, hat neue politische Kräfte geweckt, die den politischen Mainstream gefährden.
In ganz Europa sind populistische Parteien auf dem Vormarsch. Während einige Parteien von links kamen, wie Syriza und Podemos, sind andere schwieriger einzuordnen, wie die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien. Ein Großteil der populistischen Parteien, die Wahlerfolge verzeichnen konnten, kommt allerdings aus dem rechten Spektrum. In drei wichtigen EU-Staaten – Dänemark, Großbritannien und Frankreich – haben Populisten hohe Umfragewerte.
Viele dieser Parteien, die linken Protestparteien eingeschlossen, beziehen ihre Unterstützung von Bürgern, die sich der Europäischen Union entfremdet haben. Diese Entfremdung hat viele Gründe. Es mangele der EU an Legitimität, so die Kritik, sie fördere die unkontrollierte Mobilität von Arbeitskräften und habe den Menschen einen übertriebenen Sparkurs aufoktroyiert. Tatsächlich hat die Austeritäts- und Euro-Rettungspolitik den Populisten rechts und links Wählerstimmen zugetrieben; im Süden tendieren die Wähler zu den Parteien, die die Einsparungen und Haushaltkonsolidierung zurückschrauben wollen; viele im Norden denken dagegen, bereits genug für südliches „Über-die-eigenen-Verhältnisse“-Leben gezahlt zu haben.
Mit Ausnahme von Spanien und Griechenland hat es die europäische Linke jedoch verpasst, Profit aus der Krise zu schlagen, so wie es die Rechte getan hat. Für die grünen Parteien gilt das ebenfalls. Das einzige Land, in dem die Grünen in jüngster Zeit erfolgreich waren, ist Portugal, wo die Demokratische Einheitskoalition und die Bewegung der Partei der Erde gemeinsam eine Minderheitsregierung bilden konnten.
Dies passt in ein größeres Muster des Aufkommens linker Parteien in Südeuropa. Schaut man sich das Abschneiden grüner Parteien in Europa insgesamt an, stellt man Stagnation fest. In den meisten Ländern gibt es keine Veränderungen bei der Anzahl ihrer Sitze in den Parlamenten. Wichtiger ist, dass die steigende Unterstützung für radikale und populistische Parteien die Unterstützung für traditionelle sozialdemokratische Parteien aufbricht. Der Aufstieg der Populisten gefährdet die Hegemonie, die Mitte-Links-Parteien seit dem Zweiten Weltkrieg innehatten. Obwohl es mehr linksgerichtete als rechtsgerichtete Regierungen in Europa gibt, sind gemäßigte Linke in wachsendem Maße gezwungen, Koalitionen einzugehen. Wurde dies einst noch als vorübergehendes Nebenprodukt der Arithmetik von Wahlen angesehen, so werden Große Koalitionen, die beide Flügel der Mitte abdecken, jetzt immer mehr zur Norm. Und in Zukunft werden womöglich nur sie in der Lage sein, sich der populistischen Flut entgegenzustellen. Die politische Landschaft in Europa hat sich dramatisch verändert.
Prioritäten der Erneuerung
Europas Sozialdemokraten mögen einer trostlosen Zukunft entgegensehen, was Wahlergebnisse angeht – sie sollten aber ihre Hoffnung nicht verlieren. Die Welt braucht weiterhin die Werte und Programme von Mitte-Links-Parteien. Was sollten also die Prioritäten bei der Erneuerung sein?
Vor Kurzem wurden traditionsreiche Parteien wie die britische Labour Party oder die US-Demokraten Zeugen des Aufstiegs einer neuen aufrührerischen Bewegung von links: In Amerika verbindet man dies mit der Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders, in Großbritannien mit dem Aufstieg von Jeremy Corbyn, der 2015 überraschend zum Labour-Vorsitzenden gewählt wurde. Beide sind Symbole für die wachsende Entfremdung vom politischen Establishment und für den Wunsch nach einer Rückbesinnung der Parteien auf ihre Wurzeln als Anwälte der Schwachen und Besitzlosen. Eine breite Mehrheit ihrer Unterstützer ist überzeugt, dass beide Anführer die steigende Gefahr der populistischen Kräfte in westlichen Demokratien bekämpfen können. Weniger sicher ist jedoch, ob sie eine schlüssige Agenda zum Regieren entwickeln können – besonders angesichts der schwerwiegenden Probleme, denen alle progressiven Parteien gegenüberstehen: von wachsender Abneigung gegenüber Umverteilungspolitik bis hin zum Aufruhr gegen Massenzuwanderung. Daraus ergeben sich zwei große Fragen, denen sich Sozialdemokraten stellen und für die sie Lösungen finden müssen: Wirtschaftskompetenz und Identitätspolitik.
Ende der Selbstschwächung
In den neunziger Jahren schwächten sich die Mitte-Links-Regierungen des „dritten Weges“ selbst, indem sie eine Politik betrieben, die dem Marktliberalismus gefährlich nahe kam. Nach dem Fall der Berliner Mauer kamen sie zu dem Schluss, dass der westliche Kapitalismus triumphiert habe. Um an die Regierung zu kommen, mussten die Sozialdemokraten also beweisen, dass sie eine Marktwirtschaft genauso gut managen konnten wie die Konservativen – eine ideologische Kapitulation. Viele der direkt nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten Regelungsmechanismen und Institutionen wurden überhastet aufgegeben.
Da die linken Parteien ihr Verhältnis zu den Märkten verbessern mussten, um ihre Regierungsfähigkeit zu beweisen, war das keine völlig fehlgeleitete Politik. In einer globalisierten Weltwirtschaft mussten zudem einige Rezepte keynesianischer Theorie revidiert werden. Das Problem war nur: Als 2007/08 die Finanzkrise begann, erschien die gemäßigte Linke plötzlich als Komplizin jener Politik, die zum Crash geführt hatte. Sozialdemokraten hatten vor allem ihren Kampf für effektive Regulierung und Aufsicht über den Finanzsektor aufgegeben, ganz zu schweigen von der Idee, die Ökonomie durch strategische Eingriffe wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Mehr denn je muss die Linke heute ihren wirtschaftspolitischen Ansatz überdenken, um einen faireren, widerstandsfähigeren und nachhaltigeren Kapitalismus zu schaffen. Dabei muss sie der Behauptung, dass Regierungen sich nicht in die Märkte einmischen sollten, klar widersprechen.
Eine andere Lehre ist, dass Widerspruch gegen die Austeritätspolitik allein nicht ausreicht, um Wahlen zu gewinnen. Natürlich haben voreilige Kürzungen Wachstum und Jobs gekostet. In Südeuropa droht diese Politik in eine soziale Katastrophe zu führen. Dennoch müssen die sozialdemokratischen Parteien zeigen, dass sie auch kompetente Krisenmanager wären. Sie brauchen einen klaren Plan für den Umgang mit Schulden: nicht nur für die Nettoverschuldung des öffentlichen Sektors über einen Konjunkturzyklus hinweg, sondern vor allem auch für nicht nachhaltige Verschuldung der Haushalte und des Finanzsektors.
Sozialdemokraten müssen zeigen, wie sie trotz geringerer Spielräume für Staatsausgaben nach einer Rezession regieren und gegen Stagnation ankämpfen würden. Dafür braucht es eine Strategie für die Regulierung der Finanzmärkte mit dem Ziel, das Gemeinwohl zu fördern, systemische Risiken zu beheben und Banken zu reformieren, die „too big to fail“ sind. Ein Modernisierungsplan für die Industrie würde unsere Ökonomien neu ausbalancieren: Ihre Abhängigkeit vom Finanzsektor würde zugunsten von wissensintensiven Produkten und Dienstleistungen abgebaut. Was eine Reform des Steuersystems angeht, ist ein hartes Durchgreifen gegen grenzüberschreitende Steuerhinterziehung fällig. Progressive Steuersysteme sollten neue Ungleichheiten beheben.
Die zweite Aufgabe betrifft die Identitätspolitik. Die Linke darf sich nicht beirren lassen, sich starken politischen Grundströmungen entgegenzustellen. Die Parteien links der Mitte verlieren Stimmen, weil die Wähler den Politikern nicht zutrauen, die Lebensverhältnisse gegen die unsichtbaren Kräfte des globalen Wandels verteidigen zu können. Europa hat einen Rechtsruck erlebt – nicht nur hin zu den christdemokratischen und konservativen Parteien, sondern zu neuen Kräften, die Ängste vor wirtschaftlicher Unsicherheit und Migration sowie Feindschaft gegenüber der EU schüren; siehe Österreich, wo der FPÖ-Präsidentschaftskandidat nur denkbar knapp unterlag.
Die Linke verliert also auch aufgrund nationaler Identitätspolitik. Der Versuchung aber, die Zugbrücke hochzuziehen, muss sie widerstehen. Mit restriktiver Einwanderungspolitik zu liebäugeln, mag oberflächlich verlockend erscheinen, wenn Populisten Zulauf haben, jedoch würden willkürliche Begrenzungen wirtschaftlichen Schaden anrichten und von politischer Charakterlosigkeit zeugen. Andersherum würde ein Schuh draus: Arbeiter mit geringem Einkommen müssen in der ganzen EU beschützt werden. Die Ausbeutung von Niedriglöhnern aus Osteuropa untergräbt die Idee des europäischen Projekts. Mehr Sicherungen gegen Leiharbeit und Arbeit auf Abruf sind nötig.
Die Sozialdemokratie muss ihre eigene Vision einer solidarischen Gesellschaft formulieren, die auf einem Souveränitätsverständnis basiert, wonach der Nationalstaat tragende Säule in Sachen Sicherheit und Zugehörigkeit ist. Nur wenn sie das Vertrauen und die Gefolgschaft der Bürger innerhalb des Nationalstaats gewinnt, kann die gemäßigte Linke im Kampf für internationales Engagement und Kooperation bestehen – den Grundpfeilern der liberalen Weltordnung.
Europas Sozialdemokratie ist in den kommenden Jahren nicht zum Untergang verdammt. Die Wahlniederlagen seit den neunziger Jahren waren schmerzhaft, die langfristig sinkenden Stimmenanteile sozialdemokratischer Parteien mögen ernüchternd wirken. Trotzdem können Europas Sozialdemokraten auf einer Fülle von Argumenten für die Vision einer alle einschließenden sozialen Wirtschaft aufbauen und kraftvoll für Gerechtigkeit und Gleichheit werben. Die Unterstützung der Schwächsten in der Gesellschaft in Verbindung mit einer vernünftigen Politik für den Mittelstand war schon immer das Kernstück der linken Mitte. Sie muss sicherstellen, dass die Last des Wandels und sozialer Reformen nicht allein von den Schwächsten getragen wird. Diese Erkenntnis ist heute, angesichts der harten Zeiten, in denen wir uns befinden, wichtiger denn je.
Dr. Patrick Diamond lehrt Politikwissenschaften an der Queen Mary University of London. Er ist zudem Vorsitzender und Forschungsdirektor des Thinktanks Policy Network.
Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 120-127