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01. März 2021

Das Ende der Wirtschaft, wie wir sie kennen

Wir sollten Corona zum Anlass nehmen, Kapitalismus und Staat neu zu erfinden – und dabei mit ein paar Strukturen aus vergangenen Jahrhunderten aufzuräumen.

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Bild: Männer in der Londoner City auf dem Weg zur Arbeit, 1987
Vorwärts in die Vergangenheit: Wenn wir unsere Lektion aus der Pandemie gelernt haben, dann wird die Arbeits- und Lebenswelt von morgen anders werden – gerechter, innovativer, nachhaltiger.
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Das Jahr 2020 liegt wie ein öder, bracher Kontinent hinter uns. Die Pandemie hat eine geistige, emotionale, finanzielle Leere erzeugt, und die kommende Dekade erscheint wie ein großes Fragezeichen. Werden wir – wer auch immer dieses „Wir“ ist – es schaffen, die Herausforderungen zu meistern, die notwendig sind, um den Planeten nicht vollständig zu ruinieren? Wie also wird sich die Zukunft aus dem ergeben, was sich kaum wie Gegenwart anfühlt?



Am Anfang der Pandemie, im Frühjahr 2020, war das Grundgefühl ein anderes. Damals gab es Stimmen, die von der Hoffnung getragen waren, der Corona-Schock würde zeigen, dass Gesellschaft anders und besser möglich wäre, dass Veränderungen, die sich über Jahre und Jahrzehnte ankündigten, auf einmal plausibel erscheinen – und dass Wirtschaft und Arbeiten, das System, das wir Kapitalismus nennen, auf dem Prüfstand steht.



Es schien, als brauche es diesen Schock, um das allgemeine Denken zu beschleunigen. Und das, obwohl die Gedanken längst da waren, obwohl sich die Bewegungen und Proteste formiert hatten, seit Occupy Wall Street 2011 die demokratiegefährdenden Exzesse der Finanzwirtschaft attackiert hatte, seit Fridays for Future die planetaren Grenzen des Wachstums zum Generationenthema gemacht hatte und seit Thomas Piketty die Genese der gegenwärtigen Ungleichheit beschrieben hatte. Branko Milanović hatte längst seine Studien zu Armut und Einkommensunterschieden weltweit veröffentlicht und Elinor Ostrom den Wirtschaftsnobelpreis für ihre Forschung zu den „Commons“ erhalten – gemeinsam hergestellte, gepflegte und genutzte Produkte und Ressourcen. Esther Duflo, Abhijit Banerjee und Michael Kremer hatten den Nobelpreis für ihre Arbeit an einer nicht auf Ausbeutung beruhenden ökonomischen Ordnung bekommen, Emmanuel Saez und Gabriel Zucman hatten daran erinnert, dass Steuern ein immer noch ziemlich brauchbares Instrument für wirtschaftliche Gerechtigkeit und sozialen Zusammenhalt sind, Mariana Mazzucato hatte den Staat als Innovationsmotor beschrieben – und die Liste ist längst nicht vollständig.



Die Pandemie traf also auf eine Welt, die bereit war. Das Nachdenken über ein bedingungsloses Grundeinkommen fügt sich ein in ein anderes Verständnis von Gemeinschaft und Teilhabe, wie es Corona geschärft hat. Fragen wie die nach Fürsorge, Pflege, Gesundheit und Glück stehen im Mittelpunkt eines Wirtschaftskonzepts, das als „Wellbeing Economy“ bekannt geworden ist. Die digitale Revolution sorgt dafür, dass über das Ende der Arbeit diskutiert wird, während sich gleichzeitig zahlreiche neue Möglichkeiten der Kommunikation und des Arbeitens ergeben. Die Pandemie ist wie ein Prisma, durch das sich das Neue betrachten lässt.



Jahrzehnte der Verirrungen

Zentral ist bei all dem die Reflexion über ein Wirtschafts- und Wertesystem, das mindestens die vergangenen vier Jahrzehnte bestimmt hat: der Neoliberalismus. Entstanden aus dem Denken von Ökonomen wie Friedrich Hajek und Milton Friedman, wurde der Neoliberalismus durch die Politik von Margaret Thatcher und Ronald Reagan in den Jahren nach 1980 befeuert – Jahrzehnte, die im Rückblick wie eine Zeit der offensichtlichen Verirrungen erscheinen. Betrachtet man die radikale Beschleunigung des Klimawandels in jenen Jahren, die Spaltung der Gesellschaft in die „Haves and Have-Nots“ (Branko Milanović), die Ausweitung ökonomischen Denkens in so gut wie alle Bereiche der Gesellschaft oder das Auslagern von weiten Teilen der Produktion und Dienstleistungen und damit verbunden das Outsourcen von Verantwortung, dann erkennt man einen Verfallsprozess, als dessen wesentliche Frage sich folgende auftut: Welche Bedeutung soll eigentlich das Wort „Ökonomie“ noch haben, das ja ursprünglich einmal die Sorge um den guten Haushalt meinte, nicht die Einteilung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer?



Wenn man hier anfängt, mit der Frage nach dem Guten, nach dem Richtigen, nach dem Notwendigen – dann kommt man zu ganz anderen Antworten darauf, wie ein Wirtschaftssystem aussehen könnte, das den Notwendigkeiten des 21. Jahrhunderts gerecht wird. Da geht es darum, die planetaren Grenzen zu respektieren und den Menschen in ihrer Mehrzahl ein Leben in Würde zu ermöglichen. Es stellen sich Fragen wie die, ob Wachstum sein muss oder überhaupt sein kann, wenn wir die Klimakatastrophe noch abwenden wollen.

Und es stellen sich Fragen nach der Rolle des Staates. Wenn wir den Staat als Investor und Innovator betrachten, dann können wir uns auf eine Verbindung zweier Denkschulen stützen: der Modern Monetary Theory, wonach der Staat einigermaßen frei darin ist, was er an Geld zur Verfügung hat, und dem Ansatz der italienisch-amerikanischen Ökonomin Mariana Mazzucato, die den unternehmerischen Staat in den Mittelpunkt ihrer Theorie stellt. Nimmt man den Gedanken von Roberto Mangabeira Unger zur Wissensökonomie dazu, so ergibt sich eine Perspektive, die weit mehr ist als das Ende des Neoliberalismus.



Die beiden treibenden Faktoren sind dabei die Corona-Pandemie und die Klimakrise. Denn die Frage nach der Stärkung und Unterstützung von Bereichen der Wirtschaft, die durch die Pandemie besonders stark gelitten haben, vollzieht sich vor dem Hintergrund des notwendigen Endes des fossilen Zeitalters. Erdöl und Kohle müssen so schnell wie möglich und am besten sofort ersetzt werden durch erneuerbare Energien. Wie schwer sich die deutsche Politik hierbei noch tut, lässt sich am besten anhand der Erdgaspipeline Nord Stream 2 beschreiben.



Das Denken, das dahintersteht – Deutschlands „unabhängige Energieversorgung“ –, beruht auf Prämissen des 20. Jahrhunderts. Die Financial Times hat vor Kurzem sehr gut beschrieben, wie sich die neuen geopolitischen Machtverhältnisse danach sortieren werden, welche Länder jetzt handeln und ganz auf erneuerbare Energien setzen. Alte Technologien wie Erdgas sind damit nicht nur für die Umwelt schädlich, sondern auch für den Standort Deutschland im globalen Kontext.



Scheitern der alten Strukturen

Die naheliegenden und spürbaren Verschiebungen durch die Pandemie betreffen erst einmal den Arbeitsalltag vieler Menschen – und die Frage, wie wichtig Präsenz ist, wie dank Digitalisierung kollaborativ anders gearbeitet werden kann und wie nachhaltig diese neuen Arbeitsprozesse sein werden. Schon haben viele Unternehmen begonnen, ihre Büroräume zu kündigen, weil sie damit rechnen, dass das Homeoffice auch nach der Pandemie ein fester Bestandteil der Arbeitsrealität vieler Menschen sein wird. Eine zweischneidige Entwicklung, weil sie den schmalen Grat beschreibt zwischen Freiheit und Verantwortung und letztlich auch die sozialen Aspekte von Arbeit ausblendet. Ist man also frei, wenn man seinen Arbeitsplatz wählen kann, weil man sich digital von überall her einwählen kann? Oder wird einem damit Verantwortung aufgeladen, die eigentlich beim Arbeitgeber liegt, weil der Küchentisch letztlich doch nicht der geeignete Arbeitsplatz ist?



Letztlich ist diese Diskussion aber eher ein Oberflächenzucken. Die Grundlagen der digitalisierten Wirtschaft können und werden andere sein – und es bietet sich die Chance, ganz neue Formen von Freiheit und Verantwortung, Anreiz, Planung und Experiment zu schaffen. Roberto Mangabeira Unger beschreibt das eindrucksvoll in seinem Buch über die Wissensökonomie: Die fortschrittlichste Produktionsweise gebe das Tempo und die Richtung für den Rest der Wirtschaft vor; die Probleme entstünden vor allem dann, wenn dieser Fortschritt ungleich verteilt sei.



Konkret meint Unger: Die Arbeitsweise, wie sie die Digitalindustrie und vor allem das Silicon Valley ausgeprägt hat, kleinteilig, experimentell, mit flachen Hierarchien und transparenten Verantwortungsstrukturen, sollte zum Modell dafür werden, nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den Staat zu reformieren. Er meint damit nicht, dass McKinsey den Staat schlank macht, im Gegenteil; und er meint auch nicht, dass der monopolistische und ausbeuterische Datenkapitalismus des Silicon Valley das Modell ist. Er meint, dass die digitale Arbeits- und Denkweise letztlich emanzipatorisch sein kann und wird.

Es ist dieser Optimismus, der nicht nur Ungers Nachdenken über die neuen Arbeits- und Wirtschaftswelten antreibt – auch jemand wie Kate Raworth treibt ihre Thesen über die Doughnut Economy mit diesem positiven Veränderungsgeist voran. Sie sucht nach dem richtigen Verhältnis von Konsum und Verschwendung mit Blick auf die planetaren und persönlichen Grenzen, ein Balanceakt, der ganz andere Maßstäbe an Produktion und Bruttosozialprodukt anlegt.



Der Staat als Innovator

Auch Mariana Mazzucato überwindet die alte und, wie sie zeigt, künstliche Dichotomie von Staat und Kapital zugunsten einer veränderten Vorstellung von Staat. Es ist nicht der Staat, der allein die rechtlichen, regulatorischen und steuerlichen Bedingungen schafft, um Innovation voranzutreiben: Es ist der Staat, der selbst diese Innovationen befeuert, siehe iPhone. Der Staat, so gedacht, ist eine Hybridinstitution, die sich nicht starr und konträr zur Wirtschaft verhält, sondern elastisch und flexibel reagiert. Aber auch hier: Es ist kein schlanker Staat, kein neoliberaler Schrumpfstaat, sondern im Gegenteil ein Staat, der selbstbewusst agiert, zum Wohl und im Dienst der Bürgerinnen und Bürger.



Der Staat ändert dabei seine Funktion und sein Selbstverständnis. Er wird zugänglicher, offener, experimenteller, die Verwaltung arbeitet in Teamstrukturen, mit anderen Anreizen und flexibleren Hierarchien. Die Pandemie ist ein Beispiel für das Scheitern der alten Strukturen, in fast jeder Hinsicht: Eine Bürokratie aus dem 19. Jahrhundert trifft auf ein Europa, das in den Konstruktionsweisen des 20. Jahrhunderts festhängt, und einen Föderalismus, der vor allem Verwirrung schafft und Verantwortlichkeiten verunklart.



Die Corona-Pandemie hat also zweifelsfrei die Notwendigkeit für grundlegende Veränderungen gezeigt. Auch die Produktion und Verteilung der Impfstoffe wirft die Frage auf, wie stark der Markt ein für das Allgemeinwohl so wesentliches Gut wie die Gesundheit kontrollieren soll oder darf. Es ist eine grundlegende Debatte, die auch die Frage nach der Fürsorge betrifft – Stichwort „Care Economy“ –, also den Stellenwert der zwischenmenschlichen Begegnung und Arbeit in einem Wirtschaftssystem, das bislang vor allem auf materielle Wertschöpfung ausgerichtet ist.



Dieser andere Staat, der offener, durchlässiger, menschlicher sein könnte, wird auch angetrieben durch das Nachdenken darüber, wie Daten eine neue Form von Partizipation und Repräsentation ermöglichen und eine andere Form von Wirtschaft und Teilhabe. Etwa, indem die Daten der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr den Monopolisten vor allem aus den USA zugehen, sondern für die Allgemeinheit oder für klein- und mittelständische Wirtschaftsförderung genutzt werden können.



Auf der anderen Seite zeigt sich, dass sich die Außenhaut des Staates, die Nation, auch als Reaktion auf eine für viele Menschen fehlgeleitete Globalisierung verhärtet. Protektionismus und nationale Interessen werden ökonomisch wie politisch wieder stärker. Auch hier können andere Zuordnungen und Zuschreibungen als jene, die die dichotomische Weltsicht der Moderne geprägt haben, von Nutzen sein. Staat und Individuum sind genauso wenig notwendigerweise Gegensatzpaare wie global und national.



Wenn man all die Elemente einer möglichen neuen Form von Kapitalismus zusammennimmt: mehr Gerechtigkeit und Gleichheit, mehr Staat, anderer Staat, mehr Innovation, demokratische Innovation, mehr Klimaschutz, mehr Digitalisierung, weniger Konsum und Wachstum, bessere Fürsorge, andere Markt- und Eigentumskonzepte – dann kommt man ziemlich nah bei dem heraus, was der Green New Deal für die USA vorschlägt. Und bei dem, was auch im europäischen oder deutschen Kontext diskutiert wird, etwa bei der paneuropäischen Bewegung Democracy in Europe Movement 2025. Es unterscheidet sich wesentlich vom Green Deal der EU, der sehr stark auf Eigentums- und Subventionsstrukturen des 20. Jahrhunderts setzt. Der Green New Deal liefert in mancherlei Hinsicht das, was dem Kapitalismus derzeit fehlt: eine Geschichte, die überzeugend von Gleichheit und Emanzipation handelt, von Vernunft und Verantwortung – statt von Spekulation, Gier und Umweltzerstörung.



Wer die neue Wirtschaft definiert und umsetzt, dem gehört die Zukunft. Der Übergang hat längst begonnen. Die Notwendigkeit radikalen Handelns verbunden mit der Vision einer anderen Arbeitswelt oder einer anderen Form von Wirtschaft: Das war lange vor Corona da. Die Pandemie bietet nun die Chance, den Wandel gemeinsam umzusetzen. Die Dringlichkeit der Klimakrise ist nicht kleiner geworden.



Die fröhliche und zornige Veränderungseuphorie von Fridays for Future ist dem grimmigen Corona-Protest gewichen. Es braucht nun eine andere Geschichte, es braucht die Vorstellung, dass auch ein Weniger einen Mehrwert hat, es braucht Politikerinnen und Politiker, die diese Geschichte glaubhaft verkörpern. Diese Dekade entscheidet nicht nur darüber, ob wir den Klimawandel noch stoppen können; sie entscheidet auch darüber, ob Deutschland im internationalen Kontext ein Land bleibt, das Fortschritt menschlich definiert. Oder sich im Fossilen verliert. 

 

Georg Diez ist Chefredakteur des Think Tanks The New Institute. Davor hat er u.a. für die Süddeutsche Zeitung, die FAS, Die Zeit und als politischer Kolumnist für Spiegel Online gearbeitet.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2021, S. 16-21

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