IP

01. März 2013

Das Ende der Biederkeit

Welche Regionalforschung braucht die außenpolitische Beratung?

Für eine „biedere Regionalwissenschaft“ sprachen sich Eberhard Sandschneider und Sylke Tempel zum Debattenauftakt über außenpolitische Entscheidungen in der IP aus. Nichts wäre verfehlter: Bei der Politikberatung wären traditionelle Landeskundler restlos überfordert. Plädoyer für einen neuen Typus von Regionalforschung.

Weitgehend plausibel beschreiben Sandschneider und Tempel in der IP-Ausgabe 6/2012 („Vom Management des Nichtwissens“) die wachsende Komplexität der Außenpolitik in einer Ära, in der nicht nur Staaten, sondern auch Konzerne, Ratingagenturen und NGOs wichtige Akteure einer Weltinnenpolitik geworden sind. Nachvollziehbar ist auch ihre Darstellung der Kompetenzen, die Regionalexperten aufweisen müssen, ausgehend von „Sprach- und Regionalkenntnis“ sowie von der Beherrschung der „Methoden ihrer Disziplinen“, um „globale und regionale Zusammenhänge“ zu erfassen.

Umso mehr erstaunt ihr nostalgisches Schlussplädoyer für eine „biedere Regionalforschung“, aus der angeblich die guten Regionalexperten hervorgehen. Denn ihnen zufolge werden nämlich wissenschaftliche Regionalexpertise und die Vermittlung von neuen theoretischen Debatten als gegensätzliche Ausbildungsziele gesehen. Nur: Das Gegenteil ist der Fall. Ohne fundierte Kenntnis neuer Fachdebatten fehlt dem Regionalexperten die Begrifflichkeit, um die Verflechtungen in den – und zwischen den – Weltregionen zu deuten. Dieses Ar­gument möchten wir anhand eines ­kurzen Abrisses zu Stand und Perspek­tiven der Regionalforschung in Deutschland erläutern.

Forschungszusammenhänge

Der Konsolidierungsgrad der in Deutschland existierenden Regionalforschung unterscheidet sich stark nach Disziplin und untersuchter Region: In der Regel wird die Beschäftigung mit Nordamerika und Europa sowohl in den Kultur- als auch in den Sozialwissenschaften viel breiter mit Professuren und Forschungsmitteln unterstützt als die Erforschung anderer Weltregionen. Über diese Ausgangsungleichheit hinaus lassen sich jedoch ähnliche Arbeitsformen in der Beschäftigung mit den unterschied­lichen Regionen feststellen. Die bestehenden Lehr- und Forschungszusammenhänge können idealtypisch in drei Formate gegliedert werden:

a) Landeskunde: In der Regel ist dieser Arbeitsmodus durch einen Lehrstuhl verkörpert, in dem ein Fachgeneralist über allgemeine Informationen zu Gesellschaft und Kultur eines Landes bzw. einer Region verfügt und diese in der Regel gewissenhaft vermittelt. Meist wird dabei aber kein eigenes Fachwissen produziert und veröffentlicht, da Forschung im Sinne der konsequenten Verfolgung einer innovativen Fragestellung dort nicht stattfindet. Auch der Anschluss an aktuelle theoretische Debatten sowie an die fachdisziplinäre Methodenentwicklung fehlt. Das scheint dem Modell der „biederen Regionalforschung“ zu entsprechen, worauf Sandschneider und Tempel abheben.

Der Nutzen dieser Form der Regionalforschung für die Politikberatung ist jedoch angesichts komplexer überregionaler Verschränkungen, etwa zwischen Lateinamerika und Asien, begrenzt. Der Außenpolitiker braucht schließlich mehr als eine Zustandsbeschreibung unterschiedlicher Länder. Er muss Länder im globalen Kontext einordnen und Interessenverflechtungen nachvollziehen, die an den nationalen Grenzen keinen Halt machen. Der traditionelle Landeskundler ist hier restlos überfordert

b) Scheinkomparatistik: Einige Wissenschaftler bevorzugen es, meistens in monodisziplinären Forscherteams große Ländervergleiche zu ziehen, in denen beispielsweise die Finanzinstitutionen, die Konsolidierung der Demokratie oder die Korruptionsanfälligkeit in mehreren Ländern nebeneinander gestellt werden. Diese Art von Forschung wird in der Regel prominent publiziert. Ihre Brauchbarkeit ist allerdings eingeschränkt, da die Vergleichsvariablen oft in selbstreferenziellen Laboren von oben nach unten erfunden und auf aufgeblähte Modelle übertragen werden. Die Befunde sagen meistens nichts über die konkreten Lebenszusammenhänge in den betreffenden Ländern aus. Auch die Einbindung der Vergleichseinheiten in größere Verflechtungs­gefüge wird dabei ausgeblendet. Wir erfahren zwar, dass ein Land X nach den ausgesuchten Modellvariablen das anfälligste der Welt für Korrup­tion ist, aber nichts darüber, wie dies historisch bzw. durch gegenwärtige globale Prozesse beeinflusst wird. Das ist nicht die Art von Regionalforschung, die produktiv in die außenpolitische Beratung einfließen kann.

c) Wissensartikulierung: Die Regionalforschung kann auch die Wissensproduktion und -vermittlung aus unterschiedlichen Zusammenhängen artikulieren, wobei hier Artikulation im Anschluss an den britischen Soziologen Stuart Hall eine situative Verbindung von zwei oder mehreren Elementen bedeutet. Diese Art von Regionalforschung artikuliert zunächst Wissensproduktion zwischen den Disziplinen im Rahmen ihrer interdisziplinären Verfassung. Damit kann sie komplexe Phänomene und neue Interpenetrationen zwischen den Gesellschaftsbereichen besser als die Einzeldisziplinen erfassen, deren rigide Arbeitsteilung eher dem Positivismus des 19. Jahrhunderts als dem heutigen Wissensstand über die Moderne entspricht. Die Regionalforschung ermöglicht vor allem jedoch Wissensartikulationen zwischen den Einzeldisziplinen und der Wissensproduktion über die und aus den Weltregionen selbst. Über eine Internationalisierung des hiesigen Wissenschaftsstandorts wirkt sie auf die Methoden- und Theoriebildung in den Disziplinen.

Die etablierten Sozial- und Kulturtheorien, die bis vor wenigen Jahren noch auf den Erfahrungen von wenigen national verfassten, modernen Gesellschaften in Europa und Nordamerika basierten, werden durch andere Erfahrungen mit der Moderne erweitert und verbessert. Peu à peu entstehen so durch Wissensaustausch Ansätze, die an den erkenntnistheoretischen Herausforderungen einer globalen Moderne nicht länger scheitern. Deshalb ist der sich herausbildende Typus einer vernetzten Regionalforschung, der profunde regionale Kenntnisse und Wissensproduktionen mit der Analyse transregionaler und lokaler Prozesse verbinden kann, auch fähig, für die Außenpolitik nutzbares Wissen zu produzieren.

Wiederbelebte Regionalforschung

Die oben skizzierten Idealtypen der Regionalforschung sind Standorten oder Disziplinen in Deutschland nicht eindeutig zuzuordnen. Nichtsdestotrotz lässt sich eine klare Tendenz des Verschwindens der klassischen Landeskunde zugunsten der Regionalforschung als Wissensartikulierung feststellen. Die Scheinkomparatistik genießt dagegen stabile Aufmerksamkeit. Die verheerende Tendenz der achtziger und neunziger Jahre, als überall Professuren und ganze Institute zusammengestrichen oder abgewickelt wurden, konnte jedoch umgekehrt werden. In den vergangenen zehn Jahren sind mehrere Einrichtungen und Förderlinien entstanden, die die Revitalisierung der Regionalforschung in Deutschland unterstützen. Wären die noch bestehenden Lücken nicht so evident, könnte man heute fast von Aufbruchstimmung sprechen.

Eine wichtige Zäsur sind hier die 2006 vom Wissenschaftsrat verabschiedeten „Empfehlungen zu den Regionalstudien (area studies) in den Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen“. Die wachsende Rolle der Regionalforschung für die Erfassung von grenz- und regionsübergreifenden Phänomenen wird dabei prägnant formuliert und nachdrücklich unterstützt. Unter den Förderinstitutionen reagiert vor allem das Bundesministerium für Bildung und Forschung auf den Appell des Forschungsrats durch die entsprechende Förderung der „area studies“. Bundesländer wie Berlin und einzelne Universitäten unterstützen ebenfalls die Rolle des neuen Typus von Regionalforschung.

Was fehlt?

Nicht alles am neuen Glanz der Regionalforschung ist Gold. Ein großer Teil der Forschungs- und Ausbildungsmöglichkeiten wird heute durch relativ neuartige Förderformate im Drittmittelbereich finanziert. Wenn sie auslaufen, sind die klassischen Fördereinrichtungen und die Hochschulen gefragt, Professuren und Forschungsnetzwerke dauerhaft mit den notwendigen Ressourcen auszustatten. Auch die Vermittlung zwischen der anspruchsvollen wissenschaft­lichen Wissensproduktion und der außenpolitischen Beratung könnte sicherlich noch besser funktionieren. Das wird aber nicht durch Selbstbescheidenheit erreicht. Die Rückkehr der Biederkeit würde die Regionalforschung in eine untergeordnete Position als Landeskunde und Hilfswissenschaft zurückwerfen. Wem könnte das nutzen?

Unter den Zwängen des täglichen Politikgeschäfts entsteht keine gute Wissenschaft. Das heißt natürlich nicht, dass die Wissenschaft nicht zur Lösung politischer und sozialer Probleme beitragen soll. Dies leistet sie aber nur, indem sie auf eine ausgezeichnete Grundlagenforschung zurückgreifen kann. Ohne anspruchsvolle Begriffe und die entsprechende Methodenstringenz produziert die Regionalforschung keine für die Politikberatung verwertbaren Ergebnisse. Hier kann sie gewiss besser mit der existierenden Politikberatung zusammenarbeiten, ersetzen kann und sollte sie sie jedoch nicht.

Marianne Braig ist Professorin für Politikwissenschaft an der FU Berlin und Co-Sprecherin des Forschungsnetzwerks desiguALdades sowie des Graduiertenkollegs Zwischen Räumen, Sérgio Costa ist Professor für Soziologie an der FU Berlin und Co-Sprecher des Forschungsnetzwerks desiguALdades.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 108-111

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