Chinas demokratische Zukunft
Chinas wirtschaftlicher Aufstieg ist atemberaubend. Doch wo bleibt die politische Öffnung des
Landes? Minxin Pei, Leiter der China-Abteilung des Carnegie Endowment, eines der wichtigsten
Washingtoner Think Tanks, meint: Das Wirtschaftswachstum hat auf kurze Sicht die autoritäre
Staatsmacht gefestigt. Auf lange Sicht aber bleibt China keine andere Wahl, als entweder plötzlich
in einer Krise oder in einem gesteuerten evolutionären Prozess zur Demokratie überzugehen.
Der ökonomische Aufstieg Chinas in den vergangenen 25 Jahren ist eine unbestreitbare Tatsache – der Umfang der chinesischen Wirtschaft hat um mehr als 700 Prozent zugenommen, und das Land ist zur viertgrößten Handelsmacht der Welt nach den USA, Deutschland und Japan geworden. Doch ob Chinas schnelles Wirtschaftswachstum zu einem offeneren politischen System geführt hat, ist eine weit umstrittenere Frage. Diejenigen, die mehr die positive Seite sehen wollen, verweisen auf ermutigende Signale wie die Praxis von Dorfwahlen, Gesetzesreformen und eine wachsende Zivilgesellschaft; sie sehen diese Dinge als Indizien, dass die ökonomische Entwicklung von einem gewissen Maß an politischer Liberalisierung begleitet wurde. Pessimistischere Beobachter halten dagegen, dass solche Veränderungen nur kosmetisch sind und die zentrale institutionelle Verfasstheit eines autoritären Einparteien-Regimes kaum berührt haben.
Ganz sicher ist es nicht nur von akademischem Interesse, ob das chinesische System einen qualitativen Wandel – vom totalitären Regime zu einer liberalisierenden Autokratie – vollzogen hat. Denn diese Debatte hat entscheidende politische Auswirkungen sowohl für China als auch für die internationale Gemeinschaft.
Erfahrungen in anderen Entwicklungsländern wie Indonesien, Brasilien, Mexiko und Argentinien zeigen, dass andauernd hohes Wirtschaftswachstum ohne solide politische Grundlagen unmöglich ist. Eine davon ist der Rechtsstaat. In autoritären Ländern, wo der Rechtsstaat schwach ist und die herrschenden Eliten raffgierig sind, ist die Wirtschaftsentwicklung letztlich nicht aufrechtzuerhalten, weil räuberische Regime ohne Ausnahme plündern, stehlen und das Vertrauen der Investoren zerstören. Schnelles Wirtschaftswachstum ohne begleitende demokratische Reformen kann zusätzliche politische und soziale Risiken schaffen. In solchen Systemen können die herrschenden Eliten ihre Macht leicht in wirtschaftlichen Reichtum ummünzen und den Löwenanteil der Profite aus Wachstum und wachsender sozioökonomischer Ungleichheit an sich reißen. Die Konzentration des Reichtums in solchen Kleptokratien löst Volkszorn gegen derartige Herrscher aus und schafft soziale Spannungen. Letztlich sammelt sich politischer Unmut, und die Wahrscheinlichkeit ziviler Unruhen steigt. Für China sind diese zwei Lehren von unmittelbarer Relevanz: Wirtschaftswachstum ohne demokratische Reformen wird früher oder später in einer Sackgasse enden. Für die internationale Gemeinschaft ist es von äußerster geopolitischer Wichtigkeit, ob China friedlich zu einer neuen Demokratie heranreifen kann. In Anbetracht von Chinas wachsendem wirtschaftlichen Einfluss in der Welt kann jede Störung in der chinesischen Transformation weltweite Auswirkungen haben und zumindest zeitweilige Instabilität in den globalen Handels- und Finanzsystemen verursachen. Sollte sich die Übergangsinstabilität auf Chinas Nachbarn ausweiten, könnten die Konsequenzen noch dramatischer sein. Chinas demokratische Transformation wird, wenn wir der Theorie vom „liberalen Frieden“ Glauben schenken (die postuliert, dass liberale Demokratien keinen Krieg gegeneinander führen), die Sicherheitslage in Ostasien fundamental verbessern, indem sie eine echte sino-japanische Annäherung wahrscheinlicher und einen Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und China um Taiwan vollkommen unmöglich macht.
Während nur wenige die moralische Erwünschtheit und die praktischen Vorzüge von Chinas Demokratisierung bestreiten würden, zeigt die Wirklichkeit im China von heute, dass dank der Entschlossenheit der Kommunistischen Partei, ihr politisches Monopol zu behalten, der ökonomische Erfolg seit den späten siebziger Jahren es dem Land nicht leichter gemacht hat, sich zu demokratisieren. In mancher Hinsicht könnte er das sogar erschwert haben. Als Folge davon bleiben die Ungleichgewichte zwischen dem liberalisierenden Wirtschafssystem und dem verknöcherten politischen System gravierend und nehmen sogar noch zu. Wenn sich das nicht ändert, wird diese sich ausdehnende „Systemlücke“ zunehmende Spannungen in der chinesischen Gesellschaft hervorrufen. Wenn China dann endlich seinen Übergang zur Demokratie unternimmt, wird der Prozess wahrscheinlich sprunghaft sein.
Wie stark hat sich China demokratisiert?
Wenn man sagt, China habe sich nicht demokratisiert, bedeutet das nicht, dass im vergangenen Vierteljahrhundert ökonomischer Reform gar keine politischen Veränderungen stattgefunden hätten. In vielen wichtigen Bereichen hat China einen entschlossenen Bruch mit seiner totalitären maoistischen Vergangenheit vollzogen. Verschwunden sind die politischen Kampagnen, der Klassenkampf, die unablässigen Säuberungen und die Praxis des Massenterrors. Verglichen mit der dunklen Zeit unter der Herrschaft Mao Zedongs ist China heute – um es mit Präsident George H. W. Bushs berühmten Worten zu sagen – eine „freundlichere, sanftere“ Nation. Das bedeutet jedoch nur, dass das politische System selbst vom Totalitarismus zum Autoritarismus übergegangen ist, auch wenn das Maß an Repression signifikant abgenommen hat. Diese Transformation – autoritäre Institutionalisierung – hat die chinesische Politik und Gesellschaft sogar ohne eine echte politische Liberalisierung schon erheblich verändert.
Zu den wichtigsten institutionellen Reformen, die diesen Prozess ausmachen, gehört die Formalisierung und Reglementierung des Elitenverhaltens, ein mäßiger Grad an institutionellem Pluralismus, der allmähliche Rückzug des Staates aus der Privatsphäre und sorgfältig zurechtgestutzte Experimente mit der Ausdehnung politischer Partizipation, vor allem auf lokaler Ebene. Die Nach-Mao-Führung unternahm diese Schritte politischer Institutionalisierung anfänglich, um eine weitere „Kulturrevolution“ zu verhindern und ihr zentrales Ziel der Wirtschaftsreformen zu unterstützen. Deng Xiaoping verstand, dass begrenzte politische Reformen – keine westliche Demokratisierung – sein Programm ökonomischer Liberalisierung flankieren mussten. Deshalb setzten sich Deng und seine Kollegen, Hardliner eingeschlossen, konsequent für die Zwangspensionierung von Amtsinhabern ein (um den Aufstieg jüngerer Führungspersönlichkeiten zu erleichtern), und sie führten ein stärker leistungsbetontes Karrieresystem ein, um pragmatischen Technokraten den Zugang zu Regierungspositionen zu ebnen.
Um Auslandsinvestitionen anzulocken und den Handel zu erleichtern, beschleunigte die Nach-Mao-Führung das Tempo rechtlicher Reformen, verabschiedete zahlreiche Wirtschaftsgesetze (rund 40 Prozent aller nach 1979 verabschiedeten Gesetze hatten mit ökonomischen Transaktionen zu tun) und etablierte den grundlegenden Rechtsrahmen für eine Marktwirtschaft. Da die chinesische Führung sich bewusst war, die Regierungspraxis effizienter und weniger beliebig gestalten zu müssen, verabschiedete sie eine Reihe von Verwaltungsgesetzen wie das administrative Strafgesetz, das administrative Überprüfungsgesetz, das administrative Prozessgesetz, das Lizenzgesetz sowie das Staatsentschädigungsgesetz, die Verwaltungsabläufe regulieren, die Grenzen der Regierungsmacht abstecken und begrenzte Entschädigungsansprüche für Bürger definieren. Um die Arbeitsaufteilung innerhalb der Regierung zu klären, hat die Kommunistische Partei die legislative Abteilung gestärkt, den Nationalen Volkskongress, der nach und nach mehr Bedeutung im politischen Prozess erlangt hat. Als Reaktion auf den Zusammenbruch der alten administrativen Strukturen der Volkskommunen, die durch die Landwirtschafsreform in den frühen achtziger Jahren obsolet geworden waren, hat die Regierung dörflichen Kommunen gestattet, Dorfkomitees zu wählen und sich so auf der Graswurzelebene selbst zu regieren. In der Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft war die wichtigste Veränderung die allmähliche Erosion der staatlichen Kontrolle über das Privatleben chinesischer Bürger. Persönliche Freiheiten wie Reise-, Arbeits-, Niederlassungs-, Eheschließungs und Lebensführungsfreiheit haben stark zugenommen. Viele zivile Organisationen sind so entstanden, meistens professionelle Vereine und Freizeitgruppen (etwa Hobbyclubs).
Nach und nach haben diese positiven Schritte in Richtung Institutionalisierung und sozialem „Druckablass“ die repressivsten Züge des chinesischen politischen Systems eliminiert, aber sie haben es nicht demokratischer gemacht. Institutionalisierung – die Formalisierung und Durchsetzung von Regeln – darf nicht mit Demokratisierung verwechselt werden, die in der Teilnahme normaler Bürger am Entscheidungsprozess besteht. Mit Ausnahme der Dorfwahlen haben praktisch alle Reformen der Nach-Mao-Führung die formalen Institutionen der Kommunistischen Partei und des chinesischen Staates gestärkt, ohne Kanäle oder Verfahren demokratischer Mitwirkung für das chinesische Volk zu schaffen. Konsequenterweise sind solche Reformen auf die technischen Aspekte von Rechts- und Staatsverwaltung beschränkt. Sie mögen die Gesetze und Verwaltungsbestimmungen klarer gemacht und besser formuliert haben, zudem leichter um- und durchzusetzen. Aber sie haben der Machtausübung durch die Regierung und die Kommunistische Partei keinerlei substanzielle Zügel angelegt. Zum Beispiel hat die chinesische Regierung sich beharrlich geweigert, Reformen zu verabschieden, die die Unabhängigkeit der chinesischen Gerichte erhöhen würden – obwohl juristische Unabhängigkeit entscheidend für den Rechtsstaat ist. Heute sind chinesische Gerichte finanziell und verwaltungsmäßig von den Regionalregierungen abhängig: Richter werden von der Regionalregierung ernannt, was im Allgemeinen mehr von ihrer Verwaltungsposition und politischen Loyalität als von ihrer juristischen Qualifikation abhängt. Die Kommunistische Partei hat auf jeder Verwaltungsebene ein Sonderkomitee, „Politik- und Rechtskomitee“ genannt, das die Arbeit der Gerichte überwacht. Dieses Komitee mischt sich oft in die Arbeit der Gerichte ein und kann ihnen seinen Willen aufzwingen. Sogar die Stärkung der nationalen Gesetzgebung hat das Entscheidungsmonopol der Kommunistischen Partei nicht bemerkenswert beschnitten. In den vergangenen 25 Jahren hat der Kongress nur einmal ein von der Regierung vorgeschlagenes Gesetz blockiert und nur zwei Mal die Verabschiedung zeitweise verzögert. Die meisten hauptamtlichen Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften waren pensionierte Regierungsbeamte und Mitglieder der Kommunistischen Partei. Mehr als 70 Prozent der Delegationen im Volkskongress sind Parteimitglieder. In zwei Drittel der Provinzen leitet der Provinzparteichef auch die örtliche Legislatur.
Viele Beobachter haben die Herausbildung von Dorfwahlen als den ersten Schritt zur Ausdehnung der Demokratie in China angesehen. Aber seit dem Beginn dieses Graswurzelexperiments im Jahr 1989 hat es gemischte Ergebnisse gegeben. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass solche Wahlen nur in einem Viertel der Dörfer wirklichen Wettbewerb produzieren. Zudem werden die gewählten Dorfkomitees oft an der Ausübung ihres Volksauftrags gehindert. Die Kader der Kommunistischen Partei mischen sich häufig in die Arbeit der Dorfkomitees ein. Die nicht gewählten Gemeinderäte, die direkte Überwachungsmacht über die Dörfer haben, greifen auch direkt in die Arbeit der Dorfkomitees ein, und es wird von vielen Fällen berichtet, in denen sie gewählte Dorfvertreter gegen das Gesetz entlassen haben. Weil nach der chinesischen Verfassung Dorfkomitees selbstverwaltete Zivilorganisationen sind, keine lokalen Regierungen, besteht der Lackmustest für die Bereitschaft der Kommunistischen Partei zu echten demokratischen Reformen darin, ob sie die Ausweitung der Wahlen auf die Gemeinden zulässt, die niedrigste Stufe lokaler Regierungen. Bisher hat die Partei – mit Ausnahme einiger Ad-hoc-Experimente in einigen Gegenden – diese Ausweitung blockiert, die einen Meilenstein in Chinas politischer Evolution dargestellt hätte.
Warum nur so wenig Wandel?
Der Mangel an Fortschritt in Sachen Demokratisierung in China seit den späten siebziger Jahren hat mehrere Ursachen. Wer an die Wichtigkeit der vorherrschenden sozioökonomischen Bedingungen als Negativfaktoren glaubt, könnte Chinas geringen Grad ökonomischer Entwicklung und die Kleinheit der Mittelschicht anführen (nach einem führenden chinesischen Soziologen konnten 2003 nur 15 Prozent der angestellten Chinesen als Mitglieder der Mittelschicht bezeichnet werden). Aber die Rolle struktureller Faktoren sollte nicht überbewertet werden. Zum Beispiel hatte China im Jahr 2002 nach den Human-Development-Indikatoren der UN, die wahrscheinlich die besten Kriterien für die generelle sozioökonomische Situation unterschiedlicher Länder liefern, einen höheren Grad sozioökonomischer Prosperität als neue Demokratien wie Südafrika, Mongolei, Ghana, Botsuana und Guatemala und etablierte Demokratien wie Indien und Bangladesh. Sogar innerhalb Chinas hat ökonomischer Wohlstand keinen direkten Einfluss auf demokratische Reformen. Das zeigt etwa die Umsetzung von Dorfwahlen: Guangdong, der Pionier in Sachen Wirtschaftsreform und eine der am höchsten entwickelten Provinzen, war die letzte Provinz, die diese demokratische Reform übernahm, während Jilin, Shandong und Fujian, alle ärmer als Guangdong, viel besser dastehen, was wirklich kompetitive Dorfwahlen angeht.
Daher könnte die Erklärung für Chinas Mangel an demokratischem Fortschritt eher mit den bewussten Entscheidungen zu tun haben, die Chinas herrschende Elite getroffen hat. Veröffentlichte Reden von Deng Xiaoping, dem Architekten der chinesischen Wirtschaftsreformen, zeigen, dass er echte demokratische Reformen nicht nur als Bedrohung für die Überlegenheit der Kommunistischen Partei betrachtete, sondern auch für die Modernisierung des Landes. Er setzte Demokratie mit politischem Chaos gleich und fürchtete ganz offen, dass politischer Aufruhr die unausweichliche Folge sei, wenn in einem Land mit mehr als einer Milliarde Einwohnern demokratische Reformen veranstaltet würden. Zwar forderte Deng durchaus begrenzte politische Reformen, aber das Maß, das er persönlich zuließ, sollte eher die Autorität der Kommunistischen Partei erhöhen, die Regierung effizienter machen und die marktorientierten Reformen unterstützen. Aus dieser Perspektive betrachtet, könnte Chinas tatsächlicher ökonomischer Erfolg der vergangenen 25 Jahre kurzfristig negativen Einfluss auf die Demokratisierung gehabt haben. Wirtschaftswachstum mag auf lange Sicht für die Entstehung von Demokratie günstige Bedingungen schaffen, aber kurzfristig kann es entschieden ungünstige Bedingungen herstellen. Denn der wachsende Wohlstand hat der Kommunistischen Partei eine neue Quelle politischer Legitimität verschafft; damit reduziert er den Demokratisierungsdruck. Historisch gesehen wurden die meisten autoritären Regimes durch eine Krise oder den Verlust ihrer Legitimität zu demokratischen Reformen gezwungen. In einigen Fällen, etwa in der früheren Sowjetunion unter Michail Gorbatschow, sprachen sich die politischen Eliten erst dann für Reformen aus, als ihre wirtschaftlichen Reformversuche gescheitert waren. Daher hat Chinas wirtschaftlicher Erfolg perverserweise den Druck auf die Kommunistische Partei zur Systemöffnung vermindert, zumindest kurzfristig.
Wie wird der Wandel daherkommen?
Die Kommunistische Partei kann ihr politisches Monopol durchaus erfolgreich verteidigt haben, indem sie die politische Liberalisierung blockiert hat, aber die daraus resultierende Stagnation des politischen Systems hat neue Probleme geschaffen und die Risiken für künftige Reformen erhöht. Die Kombination aus halbreformierter Wirtschaft und autoritärer Politik produziert allgegenwärtige Korruption und eine gefräßige Form von Vetternwirtschaftskapitalismus. Ohne die durch die Wählerschaft, die Zivilgesellschaft, freie Medien oder Oppositionsparteien ausgeübte Kontrolle degeneriert eine monopolistische Regierungspartei unvermeidlich in ein räuberisches Regime. Dieser Prozess der Regierungsdegeneration hat bereits eine sehr destruktive Dynamik kreiert: die herrschenden Eliten interessieren sich immer stärker für die Selbstbereicherung als für die Förderung wirtschaftlicher Entwicklung. Erfahrungen aus anderen Regionen zeigen, dass solche Korruption wirtschaftliches Wachstum antreiben und irgendwann das autoritäre Regime zerstören wird. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass China die Ausnahme von der Regel sein wird. Zudem hat sich die Kommunistische Partei große Teile der chinesischen Gesellschaft, vor allem Arbeiter und Bauern, entfremdet, weil sie die Massen nicht am politischen Prozess beteiligt und ihnen keine Mitbestimmung bei den Entscheidungen gegeben hat. Der Ausschluss dieser Gruppen von den Wohltaten des Wirtschaftswachstums wird zunehmende soziale Frustrationen und Spannungen schaffen, die sich in gewalttätigen Formen kollektiven Protests oder in wachsender Kriminalität ausdrücken werden. Zusammengenommen zeigt diese Analyse, dass das derzeitige chinesische Modell – autoritäre Entwicklung – schlicht nicht aufrecht zu erhalten sein wird.
Doch die Reform eines solchen Systems, vor allem wenn es durch den Verlust ideologischer Attraktivität und interne Korruption stark geschwächt ist, bringt enorme Risiken mit sich. Obwohl der wünschenswerteste Weg zur Demokratie in friedlichem evolutionärem Regimewechsel besteht, wie er in Taiwan, Südkorea und Thailand stattfand, rückt die hartnäckige Weigerung der Kommunistischen Partei, jede substanzielle Reform in Angriff zu nehmen, die zur Beschneidung ihrer Macht oder der Entstehung von Oppositionskräften führt, die Option evolutionären Regimewechsels zunehmend in weite Ferne. Tatsächlich haben die meisten Wechsel von autoritären Regimen zur Demokratie im Kontext gründlicher Delegitimierung und des Autoritätsverlusts des Ancien Regime gestanden. Anders gesagt, ist der evolutionäre Pfad eher die Ausnahme als die Regel.
Daher bleibt nur der Weg der Transformation in einer Krise, der am meisten beschrittene, aber auch gefährlichste Weg zu demokratischer Transformation in den Entwicklungsländern. Im Fall Chinas bedeutet das, dass ein Übergang zur Demokratie unwahrscheinlich ist, wenn nicht eine größere politische oder ökonomische Krise das derzeitige System erschüttert und das Ancien Regime total diskreditiert. Die Krise könnte entweder eine ökonomische sein (wobei ein Crash des Finanzsystems die wahrscheinlichste ist) oder eine politische (Machtkämpfe auf höchster Ebene). Aber kriseninduzierte Übergänge zur Demokratie bringen das Risiko politischer Wirren und Gewalt mit sich. Falls in China eine solche Krise zum Zusammenbruch der Kommunistischen Partei führt, wird die Wahrscheinlichkeit nationaler Wirren, einschließlich des Anwachsens separatistischer Bewegungen in Tibet, Xinjiang Uygur und der Inneren Mongolei, dramatisch zunehmen. Natürlich würde dann auch Taiwan in die Versuchung geraten, Chinas innere Schwäche auszunutzen und die Unabhängigkeit zu erklären – und so einen Krieg mit dem Mutterland auslösen.
In Anbetracht der unakzeptablen Risiken und Kosten, die eine durch Zusammenbruch ausgelöste Transformation Chinas verursachen würde, scheint es so, als ob den Interessen der chinesischen Nation und der internationalen Gemeinschaft am besten gedient wäre, wenn die chinesische Kommunistische Partei irgendwie dazu gebracht werden könnte, schrittweise politische Reformen zuzulassen, die die Option des evolutionären Übergangs wahrscheinlicher machen könnten. In der Tat hat der Westen seit 25 Jahren versucht, genau dieses zu tun. Trotz der mageren Resultate dieser Investition in Chinas politische Evolution hat der Westen – wie auch die Chinesen selbst – wohl keine andere praktische Alternative, um Chinas 5000jährige Tradition der Autokratie zu beenden.
Internationale Politik 9, September 2004, S. 9‑15
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