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01. Juni 2009

Chaos am Horn von Afrika

Bürgerkrieg und organisierte Kriminalität sind die Ursachen der Piraterie

Die Ostküste Afrikas hat die asiatischen Meere als Hochburg der modernen Piraterie abgelöst. Die ständige Bedrohung verursacht Milliardenkosten und behindert den Welthandel. Wenn die internationale Gemeinschaft gegen die Freibeuter vorgeht, muss sie nicht nur die Symptome bekämpfen. Sie muss auch die tiefer liegenden Ursachen beheben.

Im Jahr 2008 wurden dem International Maritime Bureau in London (IMB) weltweit 293 Überfälle von Piraten auf zivile Schiffe gemeldet.1 Dies ist eine deutliche Steigerung im Vergleich zum Vorjahr mit 263 Überfällen sowie zu 2006 mit 239. Die Zahl der als Geiseln genommenen Seeleute belief sich 2008 auf insgesamt 889.

Insbesondere für den Golf von Aden und die Küste Somalias ist die Bilanz des Jahres 2008 verheerend. Mit 111 Überfällen fand über ein Drittel der weltweiten Attacken in den Gewässern vor Somalia statt. Im Vorjahr wurden nur 44 Überfälle gemeldet. Insgesamt wurden hier 42 Schiffe entführt und 815 der 889 Geiseln genommen. In den meisten Fällen mussten sie mehr als vier Wochen ausharren, bis sie freigelassen wurden. Die psychischen Belastungen, denen Seeleute in solchen Situationen ausgeliefert sind, schilderte der Kapitän der Le Ponant eindrücklich.2

Die Piraterie vor Somalia ist mit der asiatischen seit 1990 nicht vergleichbar. Letztere stützt sich zwar auf bestehende Strukturen der organisierten Kriminalität, hatte jedoch stets das Problem, nie über einen ungefährdeten Rückzugsraums zu verfügen. Denn in den asiatischen Staaten gab es durchgehend staatliche Strukturen – auch wenn diese erst zu Effizienz und zur internationalen Zusammenarbeit finden mussten, um die Piraterie durch wirksame Polizeiarbeit an Land und koordinierte Patrouillen auf See zurückdrängen zu können. Dies ist in der Malakka-Straße und im indonesischen Inselreich weitgehend gelungen. In Somalia jedoch haben die Piraten relativ sichere Häfen, und die Logistik zur Vorbereitung ihrer Raubzüge und zur Abwicklung der Lösegeldgeschäfte wird bisher lediglich durch Konkurrenten gefährdet.

Auch andernorts wird zur Kenntnis genommen, dass sich Piraterie lohnt. Das zeigt beispielsweise die Entführung mehrerer Besatzungsmitglieder eines französischen Ölplattformversorgers durch schwerbewaffnete Angreifer im Oktober 2008 vor der Küste Kameruns. Auch vor Nigeria kommt es seit längerem gehäuft zu vergleichbaren Vorgängen: Insgesamt 40 Überfälle resultierten in der Kaperung zweier Schiffe und der Entführung von 44 Seeleuten, die schließlich gegen Lösegeld freigesetzt wurden.

Positive Entwicklungen sind im Hinblick auf Bangladesch zu vermelden. Seit 2006 ist hier ein Rückgang in der Zahl der Überfälle zu verzeichnen. Wurden in dem Jahr noch 47 Überfälle gemeldet, waren es 2008 nur noch zwölf. Aus indonesischen Gewässern wurden im gleichen Jahr 28 Fälle gemeldet – im Vergleich zu 121 in 2003. Die Malakka-Staße und die Singapur-Straße glänzen mit nur noch acht gemeldeten Überfällen gegenüber 46 im Jahr 2004. Hier haben private Sicherheitsdienste und vor allem die koordinierten Patrouillen der Küstenwachen nachhaltig Wirkung gezeigt.

Piraterie vor Somalia: 2009

Im Gegensatz dazu wurden 100 Überfälle und 19 Entführungen allein zwischen Jahresbeginn und Mitte Mai 2009 im Golf von Aden und vor der Ostküste Somalias gemeldet.

Die See vor den Küsten Somalias, Kenias und Tansanias ist weit. Überfälle finden nicht mehr nur im Golf von Aden statt. Die Piraten fahren seit Anfang März 2009 deutlich häufiger als zuvor weit hinaus in den Indischen Ozean und entfernen sich dabei bis zu 1000 Seemeilen von ihren Basen bis vor die Küsten Kenias und Tansanias. Der Überfall auf das Kreuzfahrtschiff MSC Melody Ende April spielte sich rund 645 Seemeilen südöstlich von Mogadischu ab. Die Piraten bedienen sich wieder verstärkt kleinerer hochseefähiger Schiffstypen als Mutterschiffe, die die schnellen für die Angriffe genutzten Skiffs weit hinaus auf hohe See schleppen. Von den zehn Meter langen Dhows bis zu gekaperten Fischtrawlern von gut 50 Metern Länge, die mit Radar und Automatic Identification System (AIS) ausgerüstet sind, wird alles genutzt, was in der Region verbreitet und entsprechend unauffällig ist.

Die Banden – die Expertengruppe des UN-Beauftragten für Somalia geht von zwei Hauptgruppen in Eyl und Haradere aus – lernen ständig dazu und werben fortlaufend neue Helfer an. Eine Vielzahl kleinerer Gangs operiert u.a. von Bossasso, Quandala, Caluula, Bargaal, Hobyo, Garad und Mogadischu aus. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon warnt vor der wachsenden Macht der beiden großen Banden, die es mittlerweile mit der militärischen Schlagkraft einiger Bürgerkriegsparteien aufnehmen können. Immer häufiger kommen gezahlte Lösegelder einerseits den Privatvermögen der Beteiligten zugute, die mittlerweile in Nairobi und anderen Städten Immobilien erwerben. Sie werden auch zur Finanzierung neuer Ausrüstung verwendet oder dienen der Aufrüstung der in den Hauptorten der Piraterie herrschenden Bürgerkriegsmilizen, die die Banden decken. Der Seeweg zum Jemen – auch „Heroin-Highway“ genannt – und die offene Grenze zu Kenia sind zudem ideale Schmuggelrouten für alle technischen Ausrüstungsgegenstände, die von den Piratenbanden benötigt werden: Waffen, Satellitentelefone, GPS-Geräte und neuerdings angeblich auch AIS-Anzeigegeräte, wie sie normalerweise auf privaten Yachten eingesetzt werden.

Nach der Befreiung des Kapitäns der Maersk Alabama durch die US-Marine am 12. April wurden erstmals auch Vergeltungsrufe laut, die von islamistischer Propaganda durchdrungen waren. Den Banden selbst geht es dennoch nur um Lösegeld. Geldtranfers an die islamistischen Milizen Somalias sind weniger der gegenseitigen Sympathie als vielmehr der Bürgerkriegs-arithmetik geschuldet. Fakt ist jedoch, dass islamistische Milizen zumindest mittelbar von der Piraterie profitieren. Das Bemühen der somalischen Zentralregierung, den Aufbau einer funktionierenden Staatsgewalt mit Streitkräften, Küstenwache und Polizei voranzutreiben, wird mit jeder Lösegeldzahlung untergraben. Wer den somalischen Staat wieder aufbauen will, muss daher die Piraterie entschlossen bekämpfen.

Gefährdung des Welthandels

Doch die Situation hat auch Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Der beinahe ausschließlich auf den Seeverkehr gestützte europäisch-asiatische Handel kommt um das Befahren der somalischen Küstengewässer nicht umhin. Jährlich passieren zwischen 16 000 und 20 000 Schiffe der Größenordnung von über 500 BRZ 3 den Golf von Aden.

Die Piraterie stellt Reedereien vor ernstzunehmende Probleme. Wegen der Wirtschaftskrise gestaltet sich die Aufrechterhaltung vieler transkontinentaler Güterliniendienste mit ihren rigiden Fahrplänen ohnehin schwierig. In einer solchen Situation stellt eine Verlängerung der Reisezeit um zehn bis 18 Tage durch die Umschiffung Afrikas – die mittlerweile von einigen Reedereien in Kauf genommen wird – eine Herausforderung für das Management der Versorgungskette dar. Nach Berechnungen des US-Department of Transportation reduziert sich die Zahl der Fahrten, die ein Öltanker jährlich zwischen dem Nahen Osten und Europa bewältigen kann, von sechs auf fünf, wenn die Passage durch den Suez-Kanal gemieden wird. In Krisenzeiten geht dies zu Lasten der Reedereien. Sobald die Konjunktur wieder an Fahrt aufnimmt, wird die Verknappung von Schiffsraum zu stark steigenden Frachtraten führen. Dies wird letztlich auf die Endverbraucherpreise umgeschlagen werden – und somit auf die Konjunktur zurückwirken.

Die genauen Kosten für die Schifffahrt sind schwer zu beziffern, werden von Experten aber auf bis zu 16 Mrd. Dollar allein für 2008 geschätzt. Dies ist insbesondere auf die gestiegenen Versicherungskosten für das betroffene Fahrtgebiet zurückzuführen. Diese sind im Verlauf des letzten Jahres um den Faktor zehn gestiegen. Seit Anfang 2009 hat sich die Prämienhöhe nochmals verdreifacht. Der Versicherer Lloyds of London stuft die Region mittlerweile als „War-Risk-Zone“ ein.

Neben dem Welthandel sind auch die Staaten der Region in besonderer Weise betroffen. Kenia etwa wickelt seinen Außenhandel überwiegend an der Ostküste Afrikas und über den Golf von Aden ab. Dschibuti hat sich zu einem wichtigen regionalen Umschlaghafen entwickelt und Ägypten ist auf die Einnahmen aus dem Suez-Kanal angewiesen.

Deutschland: Not braucht Mittel

Auch Deutschland ist als Exportnation stark auf den seewärtigen Warenaustausch angewiesen. Entsprechend viele deutsche Schiffe befahren den Golf von Aden. Insgesamt waren daher deutsche Reeder überdurchschnittlich stark von der Piraterie betroffen, denn 41 Schiffe deutscher Eigentümer wurden 2008 von Piraten angegriffen – darunter die Hansa Stavanger, die die Bundesregierung gewaltsam befreien wollte.

Für den Einsatz der GSG-9 waren die Rechtsgrundlagen vorhanden. Doch die Situation – 24 Geiseln mit 30 Bewachern auf einem rund 170 Meter langen Schiff mit seiner Vielzahl von Gängen, Räumen und Verstecken – stand der Prognose einer sicher machbaren Befreiung entgegen. Man hätte schneller vor Ort sein müssen, denn ursprünglich hatte nur eine Handvoll Piraten das Schiff gekapert. Die von Innenminister Wolfgang Schäuble losgetretene Debatte über eine Änderung des Grundgesetzes zielte primär auf die schon lange geforderte Klarstellung über die Befugnisse der Bundeswehr im Innern – hatte also keinen faktischen Bezug zum eigentlichen Problem. Was der Bundesrepublik aber tatsächlich für einen effektiven Befreiungseinsatz fehlte, war die Fähigkeit, 200 GSG-9-Beamte mit Hubschraubern und weiterem Gerät innerhalb von zwei Tagen an den Ort des Geschehens zu bringen. Zudem fehlte eine mobile Basis, etwa ein Hubschrauberträger, vor den Küsten Somalias. Andere europäische Nationen verfügen bereits über eine derartige Infrastruktur: Ein Beispiel sind die Niederlande mit den Docklandungsschiffen Rotterdam und Johan de Witt, die jeweils mindestens sechs Hubschrauber dauernd aufnehmen können. Ein noch größeres Unterstützungsschiff ist ebenfalls in Planung und bereits bewilligt.

Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert

Die Geschichte der europäischen Seemächte vom 17. bis 19. Jahrhundert lehrt die Vorteile des Fahrens im Konvoi. Sie lehrt aber auch, dass Piraterie nur beendet werden kann, wenn Piraten offensiv bekämpft und ihnen die Basis an Land genommen wird. Zugleich müssen zivile Zukunftsperspektiven eröffnet werden. Das Zahlen von Lösegeldern allein ist auf Dauer keine Alternative, denn es drohen Nachahmereffekte in anderen strategisch wichtigen Regionen.

Es ist an der Zeit für ein offensives Vorgehen. Jeder Monat, der ungenutzt verstreicht, verschlimmert die Situation. Asymmetrische Bedrohungen sind eine wesentliche Herausforderung für die Sicherheitspolitik im 21. Jahrhundert – hierzu gehört auch die Piraterie. Zunehmend müssen Staaten kooperieren, um die Bedrohungen ihrer Interessen und Bürger durch nichtstaatliche Akteure einzudämmen.

Zwei wesentliche nichtstaatliche Akteure treten gegen die Staaten, die Staatengemeinschaft und ihre Rechtsordnungen an: Terrornetzwerke und organisierte Kriminalität. International vernetzte, gut organisierte kriminelle Strukturen untergraben Recht, Sicherheit und Freiheit, egal, ob sie als Drogenkartell auftreten, als illegale Menschen- und Waffenhändler, als Schutzgelderpresser oder neuerdings als Drahtzieher der Piraterie.

Somalia ist kein Präzedenzfall in der Geschichte der Piraterie des 21. Jahrhunderts. Hier wäre zunächst einmal Südostasien zu nennen, mit der Malakka-Straße, Indonesien, Indien und den Philippinen, aber auch das Gelbe Meer und die Küste Chinas. Somalia ist vielmehr das Fanal der alten und der Ausgangspunkt für eine neue Entwicklung, die gerade erst beginnt. Die direkte Ursache der Piraterie in Somalia ist im somalischen Bürgerkrieg zu suchen. Milizionäre, Clans und Warlords entdeckten das lukrative Geschäft von Kaperung und Geiselnahme zur Finanzierung des Bürgerkriegs.

Der Erfolg und die zunehmenden Dimensionen des Geschäfts – und damit verbunden des Bedarfs an Ausrüstung und an umfangreicheren Geldtransfers – haben international organisierte kriminelle Strukturen auf Somalia aufmerksam gemacht. Mittlerweile gibt es Hinweise aus nachrichtendienstlichen Quellen, dass die somalischen Banden Unterstützung durch Terrornetzwerke und deren Logistik erhalten, aber auch durch halbseidene Geldgeber, die von den üppigen Renditen dieses „Geschäfts“ profitieren wollen. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht konsequent reagiert, wird die Piraterie am Horn von Afrika kein Ende finden. Mehr noch: Die international vernetzten Hintermänner des Geschäfts werden sich demnächst weitere Küstengebiete für ihr „Venture Capital“ suchen. Es gibt genug Küsten auf dieser Welt, die sich durch schwache Staatsmacht, Gewalt, Rechtlosigkeit und Armut auszeichnen. Willige Handlanger werden sie vielerorts finden – Menschen, die nichts zu verlieren haben, aber alles gewinnen wollen. Menschen, die sich in Nussschalen auf die Hohe See wagen, unter Gefahr für das eigene Leben bei Seegang und schneller Fahrt hohe Bordwände entern und vor Geiselnahme, Erpressung und Mord nicht zurückschrecken.

Piraterie kann nicht nur auf Hoher See oder in ihren Stützpunkten bekämpft werden. Das Problem der organisierten Kriminalität im Hintergrund muss mehr Beachtung finden. Vor allem aber muss die internationale Gemeinschaft der Piraterie ihren Nährboden entziehen, indem sie Armut und Gewalt den Kampf ansagt.

Dr. MICHAEL STEHR ist Redakteur der Zeitschrift Marine Forum und Autor des Buches „Piraterie und Terror auf See“ (2004).

  • 1Der Jahresbericht kann beim IMB per E-Mail bestellt werden (www.icc-ccs.org).
  • 2Patrick Marchesseau: Geiselnahme auf der Le Ponant, Hamburg 2009.
  • 3Das Volumenmaß BRZ (Bruttoraumzahl) ersetzt die früher gebräuchlichen Bruttoregistertonnen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2009, S. 63 - 67.

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