Buchkritik

01. Nov. 2021

Bücher des Jahres 2021

„Welches Buch zur internationalen Politik war in diesem Jahr das wichtigste für Sie und warum?“ Auch 2021 haben wir diese Frage an Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Journalismus gestellt. Die am häufigsten genannten Themen dieser beliebten Rubrik: die USA, China, Europa und die Folgen der Corona-Pandemie.

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Bild: Bücher auf einem Schreibtisch
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Stephanie Babst  

Beraterin, früher in Führungspositionen  bei der NATO



Es ist beruhigend zu wissen, dass sich in der Welt des politischen Dauergetöses auch weiterhin seriöse und gewichtige Stimmen durchsetzen können. Scheinbar mühelos verknüpft Albright klassische und neue außenpolitische Themen, alte politische Weggefährten, Jung­unternehmer und Studenten, Unternehmertum und Bürokratie. Eine Inspiration für alle, die inhaltliche und menschliche Vernetzungen leben wollen.

Madeleine Albright: Hell and Other Destinations. A 21st century memoir. Harper Collins Publishers 2020



Thomas Bagger  

Leiter der Abteilung Ausland, Bundespräsidialamt



Ein amerikanischer geopolitischer Thriller, schnell gelesen, nicht so schnell wieder vergessen. Beunruhigend plausibel imaginiert.

James Stavridis, Elliot Ackerman: 2034: A novel of the Next World War. Penguin Press 2019



Thorsten Benner

Mitgründer und Direktor des Think Tanks Global Public Policy Institute



Rush Doshi legt eine bestechende Analyse der Entwicklung der regionalen und globalen Ambitionen Chinas vor. Pflichtlektüre, auch weil Doshi jetzt in der Biden-Regierung selbst die China-Strategie mitgestaltet.

Rush Doshi: The Long Game. China’s Grand Strategy to Displace American Order. Oxford University Press 2021



Martin Bialecki

Chefredakteur der IP



Robinson schreibt die dunkelsten Negativ­szenarien der Klimaforschung zu einer beunruhigen Dystopie fort, um die globale Katastrophe dann in einem Mix aus Optimismus und menschlichem Können abwenden zu lassen. Beeindruckend detailreich, hervorragend geschrieben, wenn auch angreifbar in seiner Bejahung von Gewalt: faszinierende, hochpolitische Climate Fiction als mitreißende Vision für das größte Thema unserer Zeit.

Kim Stanley Robinson: The Ministry for the Future. Orbit 2020



Cathryn Clüver Ash­brook

Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik



Die Autoren heben hervor, wie wichtig es in einer globalisierten Welt ist, gesellschaftliche Funktionalität zu stärken. Ohne wirksame Institutionen, funktionierende Demokratie und Grundvertrauen in die Kapazitäten eines Systems wird es unmöglich sein, den ineinandergreifenden Herausforderungen durch Pandemien, Migrationsbewegungen, Klimawandel und technologischen Fortschritt auf eine menschenwürdige Art und Weise zu begegnen.

Colin Kahl, Thomas Wright: After­shocks. Pandemic Politics and the End of the Old International Order. St. Martin’s Press 2021



Bijan Djir-Sarai

Außenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion



Die Autoren zeigen eindrucksvoll und zugleich erschreckend, welche enormen Risiken der Einfluss der Kommunistischen Partei Chinas und ihr Expansionsstreben für die Sicherheit anderer Staaten darstellt. Faktenbasiert wird aufgezeigt, welche politischen und wirtschaftlichen Strategien China langfristig verfolgt und ­warum seine uneingeschränkte Be- teiligung an ausländischen Unternehmen kritisch bewertet werden sollte.

Clive Hamilton, Mareike Ohlberg: Die lautlose Eroberung. DVA 2020



Klaus-Dieter Frankenberger

FAZ, Autor



Was muss Europa angesichts der US-chinesischen Konfrontation und einer komplexen Welt tun, um nicht unter die Räder zu kommen? Daniela Schwarzer zeigt, was nötig ist: Die EU muss nach außen eine ambitionierte globale Agenda definieren und auf der großen Bühne eine selbstbewusste Rolle spielen.

Daniela Schwarzer: Final Call. Wie Europa sich zwischen China und den USA behaupten kann. Campus Verlag 2021

 

Sebastian Groth

Leiter Planungsstab, Auswärtiges Amt



Evan Osnos lebte von 2005 bis 2013 als Korrespondent des New Yorker in China. Anhand zahlreicher Porträts und Begegnungen beschreibt er den rasanten gesellschaftlichen und politischen Wandel, den er erlebte. Viele Entwicklungen haben sich seither weiter ins Negative gekehrt. Die Erzählweise des Autors und sein unverstellter Blick auf die damaligen Dynamiken machen seine Reportage aber immer noch sehr lesenswert.

Evan Osnos: Age of Ambition. Chasing Fortune, Truth, and Faith in the New China. Farrar, Straus & Giroux 2015



Ulrike Guérot  

Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung



Das politische Buch 2021 kann zum 20. Jahrestag von 9/11 nur dieses sein. Damit einher geht die 1184 Seiten starke Dokumentation „11.9.: 20 Jahre danach – Einsturz einer Legende“. Kaum ein politisches Ereignis der jüngeren Zeitgeschichte hat die Welt so stark verändert. Kaum ein anderes bedarf dringender einer kritischen, retrospektiven Einordnung. Wer eine solche beginnen möchte, wird hier sicher fündig.

Mathias Bröckers: Mythos 9/11. Die Bilanz des Jahrhundertverbrechens – 20 Jahre danach.  Westend 2021



Emily Haber

Deutsche Botschafterin in den USA



Eine Analyse der vielen durchgehend gescheiterten Versuche der USA, im Nahen Osten „regime change“ herbeizuführen. Gordon baut auf eigenen Erfahrungen auf. Die Warnung vor der Hybris, Veränderung von außen erzwingen und schlüsselfertige Demokratie exportieren zu können, durchzieht das Buch. Das Buch wurde vor dem Rückzug aus Afghanistan veröffentlicht und erfährt durch diesen natürlich eine so rasch nicht erwartete Bestätigung.

Phil Gordon: Losing the Long Game. The False Promise of Regime Change in the Middle East. St. Martin’s Press 2021



Anna Herrhausen  

Geschäftsführerin der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft



Hartmut Rosa bringt uns dazu, uns mit der Art und Weise zu beschäftigen, wie wir auf die Welt schauen und wie wir mit ihr umgehen. Nur wenn wir dies erkennen und es uns auch eingestehen, können wir etwas ändern.

Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Residenz Verlag 2021



Wolfgang Ischinger

Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz



Bob Zoellick ist einer der scharfsinnigsten außen- und sicherheitspolitischen Denker. Er beschreibt in diesem Werk seine tiefen Einblicke in den außenpolitischen Maschinenraum der USA und vermittelt dabei ein wichtiges Verständnis für die anstehenden transatlantischen Herausforderungen.

Robert B. Zoellick: America in the World. A History of U.S. Diplomacy and Foreign Policy. Grand Central Publishing 2020

 

Manuela Kasper-Claridge

Chefredakteurin der Deutschen Welle



Wie tickt Chinas Diplomatie? Dieser Frage geht der Journalist und ehemalige China-Korres­pondent Peter Martin nach. Angesichts zunehmender Droh- gebärden chinesischer Diplo- maten spricht er von „Wolfskriegern“, die aggressiv auftreten und sich auch vor Beleidigungen nicht scheuen. Eine lesenswerte Lektüre für alle, die Chinas Strategie und Diplomatie verstehen wollen.

Peter Martin: China’s Civilian Army. The Making of Wolf Warrior Diplomacy. Oxford University Press 2021

 

Thomas Kleine-Brockhoff

Leiter des German Marshall Fund in Berlin



John Lough beschreibt Beweg- gründe und Illusionen deutscher Russland-Politik. Er legt dar, wie Deutschland eine enge, manchmal symbiotische Beziehung zu Russland gepflegt hat und nach den Verbrechen des 20. Jahrhunderts ein besonderes Verständnis für das Land zu entwickeln versuchte. Eine kenntnisreiche Betrachtung eines Außenstehenden, der eine emotionale Beziehung unvoreingenommener betrachtet als mancher Betroffene.

John Lough: Germany‘s Russia Problem. The Struggle for Balance in Europe. Manchester University Press 2021

 

Stefan Kornelius

Ressortleiter Außenpolitik, Süddeutsche Zeitung



Naß’ Buch kommt zu einem kritischen Zeitpunkt: Die neue Bundesregierung wird prinzipielle und wohl schmerzhafte Entscheidungen über ihre China- Politik und die Auswirkung auf das Allianzgeflecht des Landes treffen müssen. Da schaden ein paar Fakten als Grundlage nicht. Naß konzentriert sich auf die wichtigsten Stränge: Hongkong, Taiwan, der Rückfall in die Diktatur. Das Buch muss man schnell lesen – weil sich China noch schneller verändert.

Matthias Naß: Drachentanz. Chinas Aufstieg zur Weltmacht und was er für uns bedeutet. C.H.Beck 2021

 

Jörg Lau

Außenpolitischer Koordinator, DIE ZEIT



Mein Buch des Jahres ist Daniela Schwarzers „Final Call“, weil es konzentriert die zentrale Herausforderung beschreibt, vor der jede neue deutsche Regierung stehen wird: Deutschland und Europa in einer Welt des Großmachtkonflikts zwischen den USA und China zu positionieren.

Daniela Schwarzer: Final Call. Wie Europa sich zwischen China und den USA behaupten kann. Campus Verlag 2021

 

Kristina Lunz  

Deutschlanddirektorin des Centre for Feminist Foreign Policy



Das Buch zeigt eindringlich auf, weshalb die internationale Sicherheitsarchitektur, die auf patriarchalen Normen wie Dominanz und Gewalt fußt, die meisten Menschen in Unsicherheit hält und wie wir durch Aktivismus (wie der vom Friedensnobelpreis gekrönten Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen /ICAN) ein progressives Völkerrecht sowie eine Weltordnung schaffen können, die für alle funktioniert.

Ray Acheson: Banning the Bomb, Smashing the Patriarchy. Rowman & Littlefield Publishers 2021

 

Heiko Maas

Bundesminister des Auswärtigen



Marshall öffnet bei seiner Betrachtung von aktuellen und künftigen Krisenregionen auf der Erde ausgehend von den jeweiligen geographischen Ge- gebenheiten die Perspektive auch auf den Weltraum. Dies mag zunächst überraschen – doch es ist ein Raum, der bei der Bewertung geopolitischer Veränderungen immer stärker in den Blick genommen werden muss.

Tim Marshall: Die Macht der Geographie im 21. Jahr-hundert. dtv 2021

 

Claudia Major

Leiterin Forschungsgruppe Sicherheitspolitik, SWP



Nukleare Themen haben Konjunktur: Bruch des INF-Vertrags, Nordkorea, China, Iran, nukleare Teilhabe Deutschlands, Tornado-Nachfolge, NATO, Macrons Ideen und möglicherweise eine neue US-Doktrin. Gerade in Deutschland sind das schwierige Themen; es braucht eine nukleare Grammatik, um sie einordnen und bearbeiten zu können. Das Buch von Roche ist der beste Wegweiser. Aber wann kommt die deutsche oder englische Übersetzung!?

Nicolas Roche: Pourquoi la dissuasion. Puf 2017

 

Hanns W. Maull

Senior Fellow des Mercator Institute for China Studies und der SWP



Wie prekär die Sicherheit Europas inzwischen geworden ist und wie groß die Gefahr des Kollapses einer überforderten NATO in der nahen Zukunft,  zeigt dieses Buch ebenso eindringlich auf wie die Schlussfolgerungen, die daraus von den Regierungen  auf beiden Seiten des Atlantiks gezogen werden sollten. Leider fällt es schwer sich vorzustellen, wie diese ambitionierte Agenda im Bündnis politisch umgesetzt werden sollte.

John R. Allen, F. Ben Hodges, Julian Lindley-French: Future War and the Defence of Europe. Oxford University Press 2021

 

Almut Möller

Bevollmächtigte Hamburgs beim Bund, der EU und für Auswärtige Angelegenheiten



In Zeiten epochaler Veränderungen ist es gelegentlich nützlich, sich historischen Beispielen zu widmen und zu fragen, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielen sich internationale Zusammenarbeit und Kooperation entwickeln und erfolgreich festigen können. Wie die Hanse als eine auf Freiwilligkeit angelegte Kooperation zumindest zeitweise eine solche Bindekraft entwickeln konnte, verdient auch heute unsere Aufmerksamkeit.

Carsten Jahnke: Die Hanse. Reclam 2014

 

Nora Müller

Leiterin des Hauptstadtbüros der Körber-Stiftung



„Re-Read“ aus gegebenem Anlass: Ahmed Rashids 2000 erstmals veröffentlichtes Buch ist inzwischen ein Standardwerk über die radikalislamische Bewegung. Der Autor zeichnet Entstehung und Aufstieg der Taliban nach – auch mehr als 20 Jahre später noch eine eben- so lehrreiche wie spannende Lektüre. Wer die Zukunft Afgha- nistans mitgestalten will, sollte Rashid lesen.

Ahmed Rashid: Taliban. Afghanistans Gotteskämpfer und der neue Krieg am Hindukusch. C.H.Beck Paperback 2011

 

Omid Nouripour

Außenpolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion



Mohammad Yousafs „Bear Trap“ beschreibt sehr genau das Scheitern der sowjetischen Truppen in Afghanistan. Dieses Buch hätten alle politischen Entscheidungsträger lesen sollen – und zwar vor 20 Jahren schon.

Muhammad Yousaf: Afghanistan: The Bear Trap. The Defeat of a Superpower. Casemate Pub & Book Dist Llc 2001

 

Janka Oertel

Programmleiterin Asien des European Council on Foreign Relations, Berlin



Shum zeichnet ein faszinierendes Bild der Abläufe in den innersten Zirkeln der Kommunistischen Partei Chinas. Wer versucht, das China Xi Jinpings zu verstehen, sollte dieses Buch lesen.

Desmond Shum: Red Roulette. Simon & Schuster Ltd 2021

 

Jana Puglierin  

Büroleiterin des ­European Council on Foreign Relations, Berlin



Mit persönlichen Anekdoten gespickt und sehr unterhaltsam erzählt dieses Buch von den Schattenseiten unserer vernetzten Welt. Leonard argumentiert, dass wechselseitige Abhängigkeiten nicht nur stabilisierend und deeskalierend wirken, sondern sie auch verletzlich und erpressbar machen. Er fordert konventionelles Denken heraus, indem er zeigt, wie viele Dinge, von denen wir dachten, sie würden uns zusammenbringen, uns letztendlich auseinandertreiben.

Mark Leonard: The Age of Unpeace. How Connectivity Causes Conflict. Bantam Press 2021

 

Nils Schmid

Außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion



Dem Autor gelingt es mit leichter Hand, grundsätzliche Zusammenhänge zwischen Demokratie und Gesellschaft auszuleuchten. Beeindruckend erklärt er, weshalb Ungewissheit, insbesondere über den Ausgang von Wahlen, konstitutiv für die Demokratie ist und weshalb demokratische Systeme stets offen für Neuerungen und neue Akteure bleiben müssen.

Jan-Werner Müller:  Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit. Wie schafft man Demokratie? Suhrkamp 2021

 

Daniela Schwarzer  

Executive Director, Europe and Eurasia bei der Open Society Foundations



Der Wirtschaftshistoriker seziert die Schockwellen, die von Covid-19 und der folgenden Wirtschaftskrise ausgingen und jeden Winkel der Welt erfassten. Die Lehre daraus: Politik und Gesellschaft, unser Wirtschafts- und Finanzsystem, unser Denken und Handeln waren auf eine derartige Krise nicht vorbereitet – und sind es auf die nächste wohl auch nicht.

Adam Tooze:  Shutdown. How Covid Shook the World’s Economy. Viking 2021



Constanze Stelzenmüller

Inhaberin des Fritz-Stern-Chair bei der Brookings Institution



In „Aftershocks“ analysieren der Chefplaner des US-Verteidigungsministeriums Colin Kahl und mein Brookings-Kollege Thomas Wright das Scheitern der Weltordnung in der Pandemie: Wer Deutschland und Europa nach der Bundestagswahl auf die nächsten weltweiten Schocks vorbereiten will, tut gut daran, es zu lesen.  

Colin Kahl, Thomas Wright: ­Aftershocks. Pandemic Politics and the End of the Old International Order. St Martin’s Press 2001

 

Jürgen Trittin

MdB, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss



Geert Mak schreibt 20 Jahre nach seinem großen Europa- Buch die Zeitgeschichte des Kontinents fort. Wir erfahren, wie sich aus einer neoliberalen Ideologie Nationalismus und neue Spaltungen entwickeln – innerhalb und zwischen den europäischen Gesellschaften.

Geert Mak: Große Erwartungen. Siedler 2020

 

Almut Wieland-Karimi

Direktorin des Zen­trums für Internationale Friedenseinsätze



Machen wir aus freien Zügen, was Chinas Regierung von oben mit dem Sozialkredit-System verordnet hat? Ständiges soziales Vermessen, Quantifizieren, Statuseinordnen, Selbstopti­mieren? Transparenz und Offenheit durch Teilen unserer Daten oder Überwachung – ein schmaler Grat. Mau diagnostiziert eine Technologisierung der Kontrolle, aber auch den gesellschaftlichen Nutzen von  Daten. Auf einen Spaziergang ohne Handy!

Steffen Mau: Das metrische Wir. Über die Quantifizierung des Sozialen. Suhrkamp 2018

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2021, S. 120-127

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