Britisches Vorbild
Was die nächste Bundesregierung vom Vereinigten Königreich über kritische Selbstreflexion und außenpolitisches Handeln lernen könnte.
Nur ein Narr glaubt an das Lernen aus eigener Erfahrung. Ich ziehe es vor, selbst gar keine Fehler zu machen, weil ich aus den Erfahrungen der anderen lerne.“ Versionen dieses Zitats wurden Otto von Bismarck zugeschrieben, populär wurde es durch die deutsche Übersetzung eines französischen Buches über Napoleon III. von 1872. Aber das Lernen von anderen Ländern ist in der Praxis nicht so einfach. Werden überhaupt Lehren gezogen, so rühren diese meist vom Nachdenken über die eigenen Fehler und Missgeschicke. Westdeutschland hat nach 1945 beispielsweise ungeheuer davon profitiert, aus den eigenen moralischen, politischen und militärischen Fehlern der Nazizeit lernen zu können.
Ohne den Schmerz und die Scham selbst begangener Fehler fällt es Gesellschaften schwer, unangenehme Lehren zu ziehen. Die politische Führung mag das Lernen zwar grundsätzlich unterstützen, aber politische und bürokratische Widerstände sind nie fern. Wenn Politiker die Kosten des Lernens von anderen fürchten, findet ihr so motiviertes Denken häufig die verschiedensten Gründe, warum andere Länder so anders sind, dass ihre Lehren unter keinen Umständen auf das eigene Land angewandt werden können und dürfen. So hätte Deutschland schon 2007 aus dem estnischen Umgang mit russischen Cyberangriffen wertvolle Lektionen für die eigene Cybersicherheit lernen können. Hätte Europa aus den SARS-, H1N1- und MERS-Pandemien von 2003, 2009 und 2015 dieselben Lehren gezogen wie ostasiatische Staaten, hätte es Covid-19 wohl deutlich besser abgewehrt und heute weniger Opfer und einen geringeren wirtschaftlichen Schaden zu beklagen.
Die Offenheit zu lernen, ist nie höher als zu Beginn einer Legislaturperiode, wenn eine neue Regierungskoalition und diesmal auch ein neuer Kanzler oder eine neue Kanzlerin ihre Arbeit beginnen. Das bietet Deutschland eine einmalige Gelegenheit, jenseits der eigenen Grenzen nach Lehren zu suchen, wie künftig unangenehme Überraschungen in der Außen- und Verteidigungspolitik vermieden oder zumindest entschärft werden können. Das Vereinigte Königreich ist ein gutes Beispiel.
Die Inselnation steht seit über zwei Jahrhunderten an vorderster Front im Ringen um internationalen Frieden und Sicherheit, mit Licht und Schatten, 75 Jahre davon als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat. In dieser Zeit hat das Vereinigte Königreich manche Überraschung erlebt: Man denke an die Suezkrise 1956 und den Abschied vom British Empire, den diese nach sich zog. Andere Ereignisse wiederum resultierten aus fehlerhafter Geheimdienstarbeit, auch wenn das häufig durch erfolgreiches Krisenmanagement wettgemacht werden konnte – so beim Überfall Argentiniens auf die Falkland-Inseln. In jüngerer Zeit haben u.a. die unauffindbaren Massenvernichtungswaffen im Irak nach der Invasion 2003 zu Kontroversen und kritischer Selbstreflexion geführt.
In den Geheimdiensten und der außenpolitischen Community des Vereinigten Königreichs hat sich die Tradition des „Post mortem“ etabliert – der nachträglichen Untersuchung, um Lektionen, die aus diesen Überraschungen und Fehlern gelernt werden können, zu identifizieren und anschließend auch zu beherzigen. Diese Unterfangen stützen sich in der Regel auf umfassenden Zugang zu geheimem Material wie auch auf umfangreiche Interviews mit Zeugen. Einige dieser „Post mortem“ sind noch heute unter Verschluss. Öffentliche Meilensteine waren der Franks-Report von 1983 über den Falkland-Krieg, die Butler-Review von 2004 über die Geheimdienstarbeit in Sachen Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak sowie der dreibändige Chilcot-Report von 2016, der sich mit den Entscheidungs- und Planungsprozessen vor und während des Irak-Kriegs beschäftigte. Außerdem eröffnen das britische Ober- und Unterhaus häufig schon kurz nach den Geschehnissen weniger umfangreiche, aber dafür oft schnellere Untersuchungen mit weniger Zugang zu Aktenmaterial, aber längeren Zeugenbefragungen. Ein Beispiel hierfür ist der Bericht des House of Lords über die EU-Russland-Beziehungen nach der Annexion der Krim oder der Report des Intelligence and Security Committee über Geheimdienstinformationen zum Einfluss Russlands.
Diese Untersuchungen und die aus ihnen hervorgehenden Berichte erhalten häufig viel Aufmerksamkeit in den Medien. Das ermöglicht politisches Lernen auch über die kleine Gruppe von Offiziellen hinaus, die sich von Berufs wegen mit dem jeweiligen Land, der Region oder Bedrohung befassen. Zudem erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass tatsächlich Lehren gezogen werden, weil Medien, Thinktanks und die Wissenschaft Regierungsbeamte und Politiker zur Rechenschaft ziehen können, sollten sie diese nicht beherzigen.
Systematische Rückschau
Die erste Lektion, die Großbritannien bietet: Deutschland sollte eine ähnliche Kultur der systematischen Rückschau, der Selbstkritik und des Lernens entwickeln. Das soll nicht heißen, dass es in Deutschland bislang keinerlei Bemühen in diese Richtung gegeben hätte. Der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier lancierte mit der Review 2014 („Außenpolitik weiter denken“) zum Beispiel einen solchen Prozess. Die Review oder auch das jüngste „Eckpunkte-Papier“ zur Zukunft der Bundeswehr enthalten zutreffende Analysen sowie einige wichtige Empfehlungen; bessere Warn-, Vorausschau- und Reaktionsstrukturen wurden in ihrem Zuge bereits etabliert.
Allerdings wurden all diese Prozesse bisher von der Spitze der Ministerien angestoßen. Daher können sie nicht mit derselben Unabhängigkeit und forensischen Schärfe aufwarten wie die britischen Untersuchungen. Auch ihr Einfluss auf eine Meinungsbildung der breiten Öffentlichkeit, die im Vereinigten Königreich beispielsweise mit öffentlichen Zeugenanhörungen im Parlament einhergeht, fällt geringer aus. Die britischen Untersuchungen werden häufig von Wissenschaftlern unterstützt, die als Berater auftreten; manchmal werden sie von externen Experten geleitet. In Deutschland ist es für Minister und hohe Geheimdienstmitarbeiter noch immer zu einfach, unangenehmen Fragen auszuweichen.
Der im März 2021 erschienene, 220-seitige erste Umsetzungsbericht der Leitlinien zur Konfliktprävention der Bundesregierung ist reich an Analysen zu Konfliktdynamiken, Selbstlob und Zusicherungen, es in Zukunft noch besser zu machen; kritische Selbstreflektion und die Beschäftigung mit eigenen Fehlern sucht man aber vergebens. Noch immer hat der deutsche Staat keine umfassende Begutachtung des Afghanistan-Einsatzes oder zur deutschen Syrien-Politik durchgeführt. Der ehemalige Außenminister Guido Westerwelle war einer der ersten, die den Rücktritt von Präsident Assad verlangten und so viele mögliche Einflusskanäle abschnitt, wie Sönke Neitzel und Bastian Matteo Scianna in ihrem Buch über den Syrien-Krieg argumentieren. Gründeten diese Statements damals auf der Lageeinschätzung der Geheimdienste? Warum war sich der damalige BND-Präsident öffentlich so sicher, dass sich Assad nicht im Amt würde halten können? Hat er die Schlussfolgerungen der Experten seines Hauses wahrheitsgemäß weitergegeben oder diese überstimmt? Und sollten die Analysten tatsächlich zu einer falschen Einschätzung gekommen sein – war dies ein ehrlicher Fehler, beruhend auf mangelhaften Informationen und der unvermeidlichen Unsicherheit der Situation, oder hätte man auch mit dem damaligen Wissensstand zu einer anderen Einschätzung kommen müssen?
Deutschland fehlt es momentan an den richtigen Instrumenten, um diese Fragen zu beantworten. Das Desaster im Zusammenhang mit dem Abzug aus Afghanistan ist beredtes Beispiel. In der Vergangenheit haben sich die Alternativen als eher ungeeignet erwiesen. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse etwa werden weithin als problematisch angesehen, weil sie stets parteipolitisch aufgeladen und mehr auf die Aufklärung spezifischer Skandale als auf einen allgemeinen Lernprozess ausgerichtet sind. Bis heute haben sie wenig zu Verbesserungen in der Außenpolitik beigetragen und könnten nach dem Vorbild des britischen Inquiries Act von 2005 umstrukturiert werden. Ein ähnlich ungeeignetes Instrument sind Kleine Anfragen im Bundestag, die zwar ab und an wichtige neue Erkenntnisse zutage fördern, aber dazu tendieren, außenpolitische Krisen wie die Situation in der Ukraine als Teil des Streites zwischen Regierung und Opposition zu verstehen.
Die Enquete-Kommissionen des Bundestags sind dagegen ein überparteilicheres Instrument. Allerdings behandeln sie zumeist sehr allgemeine Themen und haben noch nie spezifisch außen- und sicherheitspolitische Fragen in den Blick genommen. Reformiert könnten sie in die Lage versetzt werden, „Post mortem“-Untersuchungen in der Außen- und Sicherheitspolitik durchzuführen, wenn sie ausreichende Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen, von unabhängigen Experten geleitet werden und Zugang zu Dokumenten und Zeugen erhalten. Hier kann Deutschland vom britischen Informationsfreiheitsrecht lernen, das öffentliche Institutionen dazu verpflichtet, Informationen und Dokumente herauszugeben, wenn ein öffentliches Interesse besteht. Das hat zur Folge, dass Behörden beispielsweise mit Medienanfragen deutlich weniger restriktiv umgehen.
Bessere Koordinierung
Die zweite Lektion, die das Vereinigte Königreich lehrt, ist das richtige Verhältnis zwischen denjenigen, die Wissen bereithalten, insbesondere in den Geheimdiensten, und denjenigen, die außen- und sicherheitspolitische Entscheidungen treffen. Das Herzstück des Prozesses, der britische Entscheidungsträger mit Rat und, wenn notwendig, Warnungen versorgt, ist das Joint Intelligence Committee (JIC), das seit 1936 besteht. Es hat sich über die Jahre verändert, aber das Ziel ist gleichgeblieben: politische Entscheidungsträger mit bestmöglichen Einschätzungen zu aktuellen und zukünftigen Bedrohungen der nationalen Sicherheit zu versorgen, immer aufbauend auf der Analyse aller zur Verfügung stehenden Quellen aller Nachrichtendienste. Unterstützt wird das JIC dabei von einem festen Mitarbeiterstab, der Analysen verfasst; geleitet von einem hohen Beamten, der das Ansehen und die Unabhängigkeit besitzt, den Mächtigen selbstbewusst auch unbequeme Wahrheiten zu verkünden.
Des Weiteren zeichnet sich das JIC dadurch aus, dass die Ministerien in den Prozess mit eingebunden werden, auch wenn JIC-Veröffentlichungen ganz bewusst keine konkreten Politikempfehlungen enthalten. Auf diese Weise ist die nachrichtendienstliche Aufklärung stets relevant für aktuelle Herausforderungen, vermeidet aber den Eindruck, durch die Auswahl bestimmter geheimdienstlicher Informationen politische Entscheidungen lenken zu wollen. Hinzu kommt, dass das JIC stets versucht, einen Konsens über seine Einschätzungen herzustellen und dieses Ziel meist auch erreicht. Das hat den Vorteil, dass politische Entscheidungsträger keine nachrichtendienstliche Rosinenpickerei betreiben können.
Eine weitere Lektion: Bessere Vorwarnung und Früherkennung verlangen strategische Richtungsentscheidungen und koordiniertes Entscheiden im Herzen des Regierungsapparats. Von Anfang an muss klar sein, auf welche Länder und Bedrohungstypen Ressourcen fokussiert werden sollten und wie solche behandelt werden, die weiter unten auf der Prioritätenliste stehen. Ministerien sind sich oft uneins über den Blickwinkel auf eine potenzielle Bedrohung. Daher bedarf es eines starken Koordinationsorgans, ausgestattet mit der Autorität des Premierministers, um eine Entscheidung zu treffen. Einer der ersten Beschlüsse der 2010 ins Amt gekommenen Koalitionsregierung von Konservativen und Liberaldemokraten war die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrats, der von einem Nationalen Sicherheitsberater geleitet und von einem leistungsstarken Sekretariat unterstützt wird. Der Sicherheitsrat schaffte eine Atmosphäre von Dauerhaftigkeit, Regelmäßigkeit und Seniorität für gemeinsame Diskussionen über nationale Sicherheitsfragen zwischen zivilen und militärischen Experten.
Unsere Forschung legt nahe, dass die Institution trotz der für Großbritannien ungewöhnlichen Situation einer Koalitionsregierung gut funktionierte. Vor diesem Hintergrund ist der immer wieder vorgebrachten Kritik, ein deutscher Nationaler Sicherheitsrat würde an parteipolitischem Klein-Klein und Polarisierung scheitern, mit gehöriger Skepsis zu begegnen. Gute Warn- und Frühreaktionssysteme brauchen strategische Klarheit und eine strikte Prioritätensetzung sowie Rechenschaftspflichten auf politischer Ebene. Um einen ehemaligen britischen Geheimdienstanalysten zu zitieren: „Es reicht nicht, gut darin zu sein, den Ball abzuspielen. Es muss auch klar sein, wer am Ende das Tor schießen soll.“
Alle, die regelmäßig die britischen und deutschen öffentlichen Debatten über Außenpolitik verfolgen, erkennen nicht nur, wie sehr sie sich nicht nur inhaltlich voneinander unterscheiden, sondern auch, welch prominente Rolle außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Fragestellungen in der öffentlichen Debatte des Vereinigten Königreichs spielen. Dieses höhere Maß an Aufmerksamkeit, wie auch die Breite der Expertise, führt nicht notwendigerweise zu besseren oder vorausschauenden politischen Entscheidungen. Allerdings sorgt solche Aufmerksamkeit für mehr Lob, wenn außen- und sicherheitspolitische Dinge gelingen, und für mehr Kritik und öffentliche Rechenschaftspflicht, wenn sie schiefgehen.
Funktionierende Warn- und Reaktionsprozesse müssen sich nicht in aller Öffentlichkeit abspielen. Aber vorausschauende Außenpolitik braucht eine Kultur des informierten und, wenn nötig, auch robusten öffentlichen Austauschs sowie das Bekenntnis, aus Überraschungen Lehren zu ziehen – so schmerzhaft sie auch sein mögen. Das Vereinigte Königreich bietet hier einige Lektionen, wie auch Deutschland das schaffen könnte.
Dr. Ana Maria Albulescu hat in War Studies am King’s College London promoviert. Sie ist Postdoctoral Researcher am Romanian Centre for Russian Studies der Universität Bukarest.
Prof. Dr. Christoph Meyer lehrt Europäische und Internationale Politik am King’s College London. Er bedankt sich für die Unterstützung des ESRC für das INTEL-Projekt.
Aus dem Englischen von John-William Boer
Internationale Politik 5, September/Oktober 2021, S. 73-77
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