Brief aus...

30. Dez. 2024

Brief aus Jerewan: Aufbruchsgeist und Apathie

Was ist geblieben von „2018“? Armenien im Jahre sieben nach der Samtenen Revolution. 

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Bild: Skizze Jerewan
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Wer Grigor Yeritsyan an seinem Arbeitsplatz besucht, bekommt erst einmal eine geballte Ladung Optimismus ab. FUTURE STARTS NOW! prangt in großen Lettern an der Wand, im Bücherregal stehen Titel wie „Choosing Courage“ und „Grassroots Rising“. Nur was der Leiter des Jerewaner Alternative Youth Center dann sagt, will nicht so recht dazu passen. Eine „nationale Depres­sion“ habe sein Land erfasst. Viele junge Armenier dächten darüber nach, ins Ausland zu gehen.

Grigor Yeritsyan ist 34 Jahre jung und doch schon Polit-Veteran, und ein ziemlich desillusionierter. Er gehörte zu der Reformbewegung, der es 2018 unter Führung des Oppositionspolitikers Nikol Pashinyan gelungen war, mit gewaltfreien Massenprotesten das Ende des kleptokratischen Vorgängerregimes einzuläuten. Pashinyan wurde der erste frei gewählte Regierungschef, 2021 bestätigten ihn die Armenier im Amt. Für viele Jüngere, auch für Yeritsyan, ist die Samtene Revolution das prägende politische Ereignis ihres Lebens. 

Wo ist er hin, der Aufbruchsgeist? Yeritsyan formuliert es so: Die Neuen wollten das System verändern, doch das System habe auch sie verändert. Einmal an der Macht, hätten sie es mit der Transparenz nicht mehr so genau genommen.

Im Lager der Reformer kam es zum Streit, vor allem zwischen der Regierung und Lokalpolitikern in der Hauptstadt. Dort saß auch Yeritsyan einige Jahre im Stadtrat und stritt für eine neue politische Kultur – weniger Filz, mehr Mitbestimmung. Am Ende habe man ihn aus dem Amt gedrängt, erzählt er. Heute hat Yeritsyan sich aus der Politik zurückgezogen und konzentriert sich auf die Arbeit im Jugend­zentrum. Es bietet Jugendlichen eine Plattform für gesellschaftliches Engagement. 

Nun ist es nicht selten, dass einem Umsturz auch Enttäuschungen folgen. Und es ist auch nicht so, als hätte sich nichts im Lande verbessert. Das sagt Yeritsyan, das bestätigt die armenische Leiterin von Transparency International, Sona Ayvazyan. Heute gebe es echte Presse- und Meinungsfreiheit, sagt sie, auch die Wahlen seien weitgehend frei. Auf dem Korruptionsindex habe sich Armenien nach 2018 sprunghaft verbessert, um zuletzt wieder ein paar Plätze abzurutschen. „Es ist nicht alles schlecht, aber der Trend ist nicht positiv.“ Viele Reformen seien steckengeblieben. Es fehle an Jobs, die Mieten und Preise seien explodiert, gerade in der Hauptstadt. Noch immer gibt es keine staatliche Krankenversicherung, das Gesundheitssystem ist marode. Wer es sich leisten kann, lässt sich im Ausland behandeln.

Vertrauen in den Staat gedeiht so nicht. „Seit 2018 sind wir eine Demokratie“, sagt Ayvazyan, „aber eine fragile, mit schwachen Institutionen.“ Einer Umfrage zufolge sind nur rund 15 Prozent der Armenier mit Nikol Pashinyans Arbeit zufrieden. Noch mieser fallen die Werte für seine Konkurrenten aus, was die Transparency-
Leiterin an sich begrüßt: „Sollten die alten Eliten wieder an die Macht kommen, hätten sie ganz sicher keine demokratische Agenda.“ Die Werte zeigten aber auch, dass es an Alternativen fehle. Viele Menschen zögen sich ins Private zurück. Das Nachrichtenportal Eurasianet spricht gar von „politischer Apathie“.

Und es ist nicht nur ökonomischer Frust, der die Jüngeren umtreibt. Wen man auch fragt: Fast jeder beklagt die geopolitische Unsicherheit. Sie lastet schwer auf dem Alltag, auch wenn man es in der Hauptstadt nicht gleich bemerkt; Cafés, Clubs und Boutiquen sind gut besucht. Manch ein Abend beginnt lustig, doch dann zieht der lässige Barkeeper plötzlich sein T-Shirt hoch und zeigt seine Narben: Er hat in Berg-Karabach gekämpft. Überall in der Stadt erinnern Graffitis an die Gefallenen. 


Alles in russischer Hand

„Wir haben Angst, dass uns im Fall eines erneuten Krieges niemand zur Seite steht“, sagt Yaritsyan. Im 44-Tage-Krieg von 2020, als Jerewan die Kontrolle über Teile von Berg-­Karabach verlor, und im September 2023, als Aserbaidschan sich in einer Blitzoffensive den Rest einverleibte, verweigerte die traditionelle Schutzmacht Russland ihre Hilfe. Heute spricht sich nur noch eine Minderheit der Armenier für einen prorussischen Kurs aus. Wachsende Zustimmung – sie liegt bei 60 Prozent – findet dagegen Pashinyans Europakurs. 

Doch der ist riskant, denn Armenien ist abhängig. Das Schienennetz, die Energie-Infrastruktur: alles in russischer Hand. Auch die Exporte gehen zu mehr als 50 Prozent nach Russland. Und der Kreml weiß diesen Hebel zu nutzen, verhängt Importstopps, wenn ihm Armeniens Emanzipation zu weit geht. Eine Analystin der staatlichen Universität Jerewans bringt es auf die Formel: „Russland ist ein schlechter Partner, aber ein noch üblerer Feind.“ Das sehen hier viele so. Pashinyan soll sein Land an die EU heranführen, aber, bitteschön, ohne die Verbindungen zu Moskau allzu abrupt zu kappen. 

Die größten Ängste gelten indes Aserbaidschan. Aus den jüngsten Kriegen um Berg-Karabach ist Baku siegreich hervorgegangen. Nun spricht man über einen Friedensvertrag, der unter anderem den Grenzverlauf zwischen den beiden Ländern regeln soll. Doch zahlreiche Fragen sind strittig, und immer wieder droht Baku. Während verhandelt wird, bauen beide Seiten ihre Militärstellungen aus.

War 2018 das Jahr der Hoffnung, herrscht heute Ernüchterung. „Keine Jobs, keine Sicherheit, keine Gesundheitsversorgung für deine alten Eltern – würdest du da nicht ans Auswandern denken?“, fragt Yeritsyan. Der Braindrain sei fatal für die junge Demokratie. Was das Land brauche, um zur Ruhe zu kommen? Er zählt auf: verlässliche Partner, Stabilität, Frieden. Oder ganz einfach: Heilung.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S. 118-119

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Luisa Seeling leitet bei interface (ehem. Stiftung Neue Verantwortung) den Bereich Writing, Editing & Publishing. Zuvor war sie u.a. Redakteurin im außenpolitischen Ressort der Süddeutschen Zeitung.

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