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01. Juni 2006

Bionik – Forschen wie bei Muttern

Die besten Erfindungen macht immer noch die Natur. Man muss nur genau hinsehen

Dass ein Erfinder der Natur etwas abschaut, ist wahrlich nicht neu. Schon der alte Dädalus tat dieses, als er aus Federn und Wachs künstliche Flügel fabrizierte, um mit Sohn Ikarus dem scheußlichen Minos zu entkommen. Nur die Wahl des Klebers war bekanntlich keine serienreife Fertigungsidee. Bionik heißt die Methode heute, eine Wortverschmelzung aus Biologie und Technik. Wissenschaftler studieren und kopieren Materialien der Natur, abstrahieren ihre Funktionen und Bauprinzipien. Den Ingenieur inspiriert manch ein Trick, den die Evolution in Jahrmillionen entwickelte. Mutter Natur macht das toll: Sie hat Systeme für widrigste Umstände entwickelt – enorm anpassungsfähig und 100-prozentig recycelbar.

Doch das Dädalus-Beispiel demonstriert zugleich: Selten liefert die Natur simple Blaupausen, die der Mensch einfach von der Wiese pflücken kann. Oft sind es eher die kleinen, raffinierten Details. Banales Beispiel: der Dornbusch, der den Stacheldraht nahe legte. Oder die Klette. Anno 1948 kam der Schweizer Wissenschaftler Georges de Mestral, der das Fell seines Hundes und seinen Mantel nach der Jagd stets von Klettfrüchten reinigen musste, auf den Gedanken, das Halteprinzip dieser hartnäckigen Dinger unterm Mikroskop zu ergründen. Baute es nach und schuf den Klettverschluss.

Genau hingucken – das Prinzip begreifen – anwenden. Das ist Bionik. Auch Biomemetik genannt. Nach Dädalus studierte Leonardo da Vinci den Vogelflug, betrieb physikalisch-biologische Grundlagenforschung. Hätte er mehr Hilfe gehabt – fähige Baumeister, gute Materialien, reichlich venture capital – wären vielleicht schon damals Hubschrauber und Fallschirme entstanden. Sein türkischer Kollege Hezarfen Ahmed Celebi, auch ein Vogelgucker, segelte mit seinen künstlichen Schwingen 1647 vom Galata-Turm in Istanbul über den Bosporus nach Üsküdar. Gut 200 Jahre später blickte Otto Lilienthal den Störchen hinterher und verfasste 1889 sein Werk „Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst“. Der Blick der Bioniker geht nicht nur nach oben. An der Uni Tübingen etwa nahm man sich die Schuppen des Haifisches vor und entdeckte eine eigentümliche Riefenstruktur. Es stellte sich heraus, dass diese feinen Rinnen eine strömungsmechanische Wirkung entfalten. Die Firma 3M entwickelte nun eine der Schuppenoberfläche ähnliche Folie, die auf einen Airbus geklebt wurde. Der Widerstand verminderte sich. Das dürfte jede Menge Kerosin sparen.

Auch bei Conti schaute man sich, auf der ewigen Suche nach dem optimalen Autoreifen, in der Tierwelt um. Die Forscherneugier konzentrierte sich bald auf die Katzenpfote, die sich beim Bremsen verbreitert, um mehr Oberflächenkontakt zu haben. Zudem studierte man das Spinnennetz. Hier schaffen von außen nach innen laufende Fäden Festigkeit, während die umlaufenden Fangfäden sehr flexibel sind. Beide Prinzipien goss man, zugleich nach mehr Stabilität und mehr Fahrbahnkontakt strebend, in Gummi. Und ist nun überzeugt, einen besseren Reifen zu bauen. So entstehen neue Schwimmanzüge und Kleidung, deren Poren sich wie Tannenzapfen je nach Temperatur öffnen oder schließen. Oberflächen bekommen einen „Lotus-Effekt“, damit nichts mehr an ihnen haften bleibt. Und auch in die Luft wird weiter geguckt: Forscher beobachten Raubmöwen in der Antarktis, um herauszufinden, warum deren Deckfedern als „Rückstrombremse“ wirken. Diesen Federn nachempfundene Klappen testen sie im Windkanal, studieren die Effekte, optimieren sie weiter. Am Ende könnten so sicherere Flugzeugtragflächen entstehen. Allmählich begreifen immer mehr Wissenschaftsdisziplinen: Die Natur ist nicht nur ein dumpfwildes, primitives Brodeln. Sie ist ein großartiger Lehrmeister. Die Entschlüsselung ihrer Rätsel verspricht mehr Erkenntnis und echte Innovation. So gewinnt Bionik an Breite und Tempo, verzweigt sich in immer neue Teilgebiete: Neurobionik, Klimabionik, Organisationsbionik, bionische Robotik. Universitäten bieten Bionik-Studiengänge an. Forscher studieren die Antriebs hydraulik des Spinnenbeins und entwickeln neue, biologisch inspirierte Systeme für komplexe Datenverarbeitung.

Es ist ein Herantasten. Schon weil wir viele natürliche Vorgänge in ihrer Komplexität bis heute nicht recht fassen können Auf dem Feld der Robotik etwa liegt es ja nah, sich beim Menschen mehr abzuschauen. Der Traum vom elektromechanischen Alleskönner ist so alt. Doch wie beschwerlich ist es bis heute, diesen dummen Blechhaufen nur eine einzige sinnvolle Bewegung einzuhauchen. Und dann ist diese Bewegung nur ein schnödes Ruckeln. Weit weniger elegant, als unsere nichtlinear arbeitenden Muskeln das vermögen. Doch es geht voran. Der Huma noide Muskelroboter ZAR etwa, eine Koproduktion von TU Berlin, Abteilung Bionik und Evolutionstechnik, und der Firmen EvoLogics und Festo, macht Fortschritte. Er ist einem 1,90 Meter großen Menschen nachempfunden. 2004 konnte er einen Ball werfen. Immerhin. Nun, jubilieren die Forscher, sei er in der Lage, „mittels Datenanzug und zweier Datenhandschuhe Gegenstände von einer Hand in die andere Hand zu übergeben“.

Faszinierend auch das japanische System HAL – sprich: hybrid assistive limb. Eine Art Außenskelett, das einen Menschen beim Laufen und Treppensteigen unterstützen kann. Die Kommandos des Gehirns werden auf der Haut gemessen, ein Computer lenkt Hilfsmotoren an Hüften und Knien. Sensoren beobachten zudem die individuelle Art der menschlichen Bewegung und passen das System entsprechend an. Bei HAL 3 füllte der Computer noch einen Rucksack, das System wirkte nur auf Hüften und Beine. Für den Rechner von HAL 4 reicht nun schon ein Gürteltäschchen. Und die Arme werden ebenfalls unterstützt. Auch beim Bau werden Naturprinzipien immer populärer. Mit den richtigen Materialien, einer optimalen Ausrichtung zu Sonne und Wind, mit neuartigen Dächern und einer intelligenten Luftzirkulation, sagen Experten, lassen sich die Energiekosten für Kühle im Sommer um 80 Prozent und für Wärme im Winter um 40 bis 60 Prozent senken.

„Die Natur erreicht ihre Ziele ökonomisch mit einem Minimum an Energie und führt ihre Abfälle immer vollständig in den natürlichen Kreislauf zurück. Diesen Erfahrungsschatz der belebten Natur gilt es für den Menschen nutzbar zu machen“, hat auch das deutsche Forschungsministerium erkannt, das seit fünf Jahren ein bundesweites Bionik-Kompetenz-Netz fördert. Ein Ideenwettbewerb soll die Erforschung neuer Materialien, Motoren und Mikrosysteme befeuern. Entscheidend auch hier: die starren Grenzen der alten Disziplinen aufzusprengen. Ganz biologisch-dynamisch.

TOM SCHIMMECK, geb. 1959, schreibt als freier Journalist über Politik und Wissenschaft für Zeitungen, Magazine und fürs Radio.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, Juni 2006, S. 112-113

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