Bedingt weltpolitikfähig
Welche Rolle soll und kann Europa in einer neuen globalen Ordnung spielen? Einschätzungen aus Deutschland, Amerika und Singapur.
Die Erleichterung nach den USWahlen im vergangenen November war groß – in Berlin, in den meisten Hauptstädten Europas und weltweit. Nach vier Jahren Disruption unter Donald Trump steht der designierte US-Präsident Joe Biden vor enormen innen- und außenpolitischen Herausforderungen. Spaltung im Inneren, Verlust der Glaubwürdigkeit als Führungsmacht nach außen, lädierte transatlantische Beziehungen, Chinas unaufhaltsamer Aufstieg, Russlands Großmachtallüren, das neue asiatische Freihandelsabkommen RCEP, Klimawandel und dazu die Covid-19-Pandemie: Die Liste ist lang. Wie werden diese geopolitischen Umwälzungen wahrgenommen, wie lassen sie sich strategisch bewerten?
Strategische Diplomatie
Beginnen wir mit der europäischen Perspektive eines deutschen Diplomaten: Hans-Dieter Heumanns Ansatz einer „strategischen Diplomatie“ ist gerade für die Vertreter einer seit dem Fall der Mauer eher gesinnungspolitisch ausgerichteten und risikoscheuen deutschen Außenpolitik eine besonders nützliche Lektüre. Und so ist es eine bewusst nüchterne Bestandsaufnahme der weltpolitischen Konstellationen, die Heumann vornimmt: vom Kalten Krieg über die unipolare bis zur multipolaren liberalen Weltordnung und dem derzeitigen Rückzug der USA aus der globalen Verantwortung. Besonders Deutschland und Europa nimmt der Autor in den Blick, um sich – wie Herfried Münkler in seinem Geleitwort anmerkt – gegen einen Imperativ zu wenden, wonach die Welt sich nach einem westlichen Muster zu gestalten habe.
Heumann, Botschafter a.D. in Washington, Moskau und Paris, geht es um eine Außenpolitik, die auf strategischen Analysen beruht, statt ständig innenpolitischen Befindlichkeiten Rechnung zu tragen. Seine Definition von „strategischer Diplomatie“ orientiert sich an den Grundbegriffen „Ordnung, Interesse und Macht“. Die große Stärke des Buches liegt in der Klarheit, mit der Heumann seine These vertritt, dass die Aufgabe von strategischer Diplomatie darin bestehe, Ordnungen zu gestalten und es dabei zu vermeiden, Akteure dieser Ordnungen auszugrenzen. Denn nur so könnten globale und regionale Ordnungen stabil sein. Ein Akteur, der ausgegrenzt werde, fordere die Ordnung heraus.
Nach dem Fall der Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion blieben die USA als einzige Macht übrig, die den Anspruch verfolgte, eine liberale Ordnung multipolar durchzusetzen. Russland fühlte sich von Europa und den USA ausgegrenzt; eine Entfremdung, der Heumann ein ausführliches Kapitel widmet.
Die Rivalität zwischen China und den USA bezeichnet der Autor als strategische, aber nicht notwendigerweise militärische Auseinandersetzung. Für Heumann handelt es sich hier um Geoökonomie, nicht um Geopolitik. Die Befürchtungen des Harvard-Politologen Graham Allison, wonach Dominanzstreben und Machtverschiebungen selten friedlich verliefen, weil es unausweichlich sei, dass die Beteiligten, wenn sie keinen Ausweg aus ihren realen oder vermeintlichen Sicherheitsdilemmata fänden, in die „Falle des Thukydides“ tappen und irgendwann gegeneinander Krieg führen, teilt Heumann nicht.
Die EU als globaler Player
Heumann beschäftigt sich in seinem Buch nicht nur damit, wie Europa mit den großen Kräfteverschiebungen in der Welt – amerikanisch-chinesische Rivalität, Neuordnung im Nahen Osten, das Verhältnis von Europa zu Russland – umgeht. Er stellt auch die Frage, ob es überhaupt in der Lage ist, eine maßgebliche Rolle auf der internationalen Bühne zu spielen und eine eigene strategische Diplomatie zu verfolgen.
Zu Recht weist Heumann darauf hin, dass die wichtigste Ressource strategischer Diplomatie die Glaubwürdigkeit ist. Niemand, der in der multipolaren Welt etwas bewegen möchte, kann die Einhaltung von Regeln anmahnen, wenn er sie selbst verletzt. Europa wird seinen Einfluss nur wahren und ausweiten können, wenn es sich selbst an die Werte hält, für die es eintritt.
Das wichtigste Ziel für die europäische strategische Diplomatie sieht Heumann in der großen Verantwortung der Europäischen Union für das Überleben des Multilateralismus in der Welt. Dazu muss die EU ein globaler Player werden. Kann sie das, fragt Heumann – und beantwortet die Frage mit der allerdings gewagten These, dass die Krise der EU ein Mythos sei. Die Flüchtlingskrise (2015) verliere ihre Dringlichkeit und das EU-Türkei-Abkommen (2016) erfülle seinen Zweck.
Wirklich? Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Weder hat die EU ein Konzept für den Umgang mit Flüchtlingen noch eine Strategie gegenüber der regional immer aggressiver auftretenden Türkei entwickelt.
Brexit als Chance
Den Brexit betrachtet Heumann als Krise Großbritanniens und nicht Europas. Er sieht den Auszug der Briten aus der Europäischen Union sogar als eine Chance für die europäische Integration in der Außen- und Sicherheitspolitik. Heumann liebäugelt mit dem Konzept einer „strategischen Autonomie“ der EU, weil Brüssel, wenn es denn eine strategische Diplomatie glaubhaft betreiben wolle, sich als internationale Macht mit eigenen Interessen definieren solle. Andere werden vielleicht schon bald die britische strategische Kultur, ihre Fähigkeit zur globalen Machtprojektion und die militärtechnologischen und nachrichtendienstlichen Machtpotenziale der Briten vermissen. Mag sein, dass die Europäer eines Tages erkennen, dass ihre „strategische Diplomatie“ bei Großbritannien versagt hat, weil sie es nicht verstanden haben, die Briten in der EU zu halten.
Seiner Grundthese treu bleibend, empfiehlt Heumann der EU, die Großmächte USA, China und Russland gleich zu behandeln, um den „Albtraum der Koalitionen“ zu vermeiden. Seine Schlussfolgerung klingt optimistisch: „Die Europäische Union könnte die erste Großmacht werden, die Einfluss gewinnt, ohne klassische Machtpolitik zu betreiben.“ Muss die EU aber nicht eher „die Sprache der Macht lernen“, wie es die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, empfiehlt, um Gehör bei den Großmächten zu finden?
Globale Unordnung
Für den amerikanischen Diplomaten und langjährigen Präsidenten des Council on Foreign Relations Richard N. Haass steht Machtpolitik im Zentrum der Überlegungen. Seine Erfahrungen, die er als Special Assistant des Präsidenten unter George H. W. Bush oder als Director of Policy Planning im US-Außenministerium und enger Berater Colin Powells machen konnte, sind in einem umfassenden Kompendium „The World“ erschienen, das der Princeton-Politikwissenschaftler G. John Ikenberry bereits als Standardwerk bezeichnet hat.
Haass analysiert zunächst minutiös und unideologisch die Krise der alten Ordnung und kommt dann zu den Problemen der globalen Ära: Terrorismus, Verbreitung von Nuklearwaffen, Globalisierung, Klimawandel, Migration und globale Gesundheitspolitik.
Mit dem Aufstieg liberaler Demokratien und einer wachsenden gegenseitigen ökonomischen Abhängigkeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde die Hoffnung auf regelbasierte internationale Beziehungen und auf Global Governance genährt. Doch anders als Francis Fukuyama hat Richard Haass nie an ein „Ende der Geschichte“ geglaubt. Er sah realistischerweise auch nach 1989 die Gefahr von Anarchie und Kriegen im Hintergrund lauern. Haass ging davon aus, dass auch während der „Post-Cold War Era“ die Rivalität zwischen den Großmächten weiterbestehen würde.
Und er warnt jetzt vor einer „Inter-Cold War“-Ära mit zwei parallel laufenden Kalten Kriegen: zwischen den USA und Russland sowie zwischen den USA und China. Haass unterstreicht, dass die USA sich früher der Etablierung einer liberalen Weltordnung verpflichtet gefühlt hätten. Aber er sieht auch, dass heute amerikanische Führung weltweit zurückgeht, Nationalismus wächst und liberale Demokratien überall in Gefahr sind. Dass eine liberale Weltordnung wiederhergestellt werden kann, glaubt Haass nicht; uns erwarte eher eine fragmentierte Weltordnung, in der das Denken in Einflusssphären zurückkehre.
Während die NATO derzeit mit ihrer Lastenverteilung und dem Verhältnis zu Russland ringe, gilt es laut Haass für die EU, ihren Grad der Integration zu bestimmen: Entweder die Europäer entschieden sich für die „Vereinigten Staaten von Europa“ oder für ein „Europa der Nationalstaaten“. Mit seinen alternden Gesellschaften, ökonomischen Defiziten in der Eurozone und populistischen Bewegungen sei die Frage nach Europas Rolle in der Welt unklar. Der Brexit schwäche die EU zusätzlich und bringe die Einheit Europas in Gefahr. Hinzu kommt, dass sich die Europäer mit klassischer Machtpolitik offenkundig schwertäten. Die Zukunft von NATO und EU ist Haass zufolge offen.
Sein jüngster Beitrag „Repairing the World“ in Foreign Affairs, der sich wie eine ermutigende außenpolitische Anleitung für die Regierung Biden liest, wird vielleicht bei einer kommenden Neuauflage von „The World“ das Schlusskapitel bilden.
Hat China gewonnen?
Eine andere Perspektive auf den Großkonflikt zwischen den USA und China als Richard Haass bietet – nicht ganz überraschenderweise – der singapurische Politikwissenschaftler und Diplomat Kishore Mahbubani. Er war Botschafter in Kambodscha, Malaysia, den USA und bei den Vereinten Nationen. Die Kernthese seines Buches lautet: Das Zeitalter westlicher Dominanz gehe zu Ende, weil der „Rest“ viel vom Westen gelernt habe. Die chinesische Zivilisation habe einige Höhen und Tiefen erlebt. Deshalb sollte es uns nicht verwundern, dass China zu seiner alten Stärke zurückgefunden habe und heute außerordentlich widerstandsfähig gegen Krisen oder, politikwissenschaftlich gesprochen, „resilient“ sei.
Ein gutes Beispiel dafür sei die Seidenstraßen-Initiative: Damit verbunden seien Investitionen in Afrika, die auch für die Europäer wichtig sind, betont Mahbubani zu Recht. Denn durch starke afrikanische Ökonomien würden die Migrationsbewegungen nach Europa eingedämmt, was im sicherheitspolitischen Interesse Europas liege. In der Tat: Wieviele Millionen Afrikaner sich seit den 2000er Jahren auf den Weg nach Europa gemacht hätten, wenn die Chinesen nicht massive Investitionen insbesondere in Infrastrukturprojekte in ihren Ländern getätigt hätten, ist eine offene, wenngleich hypothetische Frage.
Aber wie umgehen mit dem „strategischen Rivalen“ China? Mahbubani zufolge begehen die USA einen großen strategischen Fehler, weil sie einen geopolitischen Wettbewerb bestreiten, ohne eine konsistente Strategie im Umgang mit China entwickelt zu haben. Während es Präsident Barack Obama darum ging, sich nicht mit China anzulegen, forderte Donald Trump zu Recht rigoros die Öffnung des chinesischen Marktes für amerikanische Investoren. Anschließend fuhr der noch amtierende Präsident allerdings einen handelspolitischen Zick-Zack-Kurs mit Peking, der beiden Seiten schadete.
Außerdem stärkte Trump wichtigen Verbündeten in Asien wie Japan und Südkorea sicherheits- und militärpolitisch nicht den Rücken, was Chinas Dominanz in der Region nur noch weiter beförderte. Henry Kissinger habe das Fehlen einer langfristigen „Grand Strategy“ im Umgang mit China bereits 2011 in seinem Buch „On China“ angemahnt. Gegen die Sowjetunion, betont der Asien- und Amerika-Experte, hatten die USA eine Strategie entwickelt: die Eindämmungspolitik.
Raus aus der Thukydides-Falle
Mahbubani gelingt es, gleichermaßen kritische Distanz zu Washington wie zu Peking zu halten; seine Sicht auf die Dinge ist so provokant wie anregend. Er hat keine Scheu, auch die strategischen Fehler Chinas klar zu benennen: Die Entfremdung Pekings von der amerikanischen „business community“ hält er für fatal; ebenso die Schadenfreude, die China nach der westlichen Finanzkrise halb offen, halb heimlich zelebrierte, weil man selbst die Krise besser gemeistert habe. Und Mahbubani liefert einen bemerkenswerten Vergleich zum heutigen Auftreten Chinas und Amerikas: Die USA verhielten sich heute wie die ehemalige Sowjetunion – rigide, unbeweglich und doktrinär –, und China agiere wie die USA während des Kalten Krieges – beweglich, flexibel und rational.
Der Autor endet mit einer versöhnlichen Note und plädiert dafür, dass die USA und China ihre gemeinsamen strategischen Interessen erkennen müssten: etwa beim Klimawandel oder beim Kampf gegen den Terrorismus. Letztendlich gebe es genug Platz auf der Welt, damit sich die USA und China gleichzeitig und friedlich entwickeln können. Es sei möglich, der „Thukydides-Falle“ zu entgehen.
Hier treffen sich Heumanns und Mahbubanis Überlegungen für eine strategische Diplomatie. In der gegenwärtigen Weltunordnung spielt der amerikanisch-chinesische Großkonflikt die entscheidende Rolle. Die Frage, welchen Platz Europa und die EU in einer neuen Weltordnung einnehmen, ist offen. Die schlechte Nachricht: An die Weltpolitikfähigkeit der EU glauben weder Haass noch Mahbubani.
Hans-Dieter Heumann: Strategische Diplomatie. Europas Chance in der multipolaren Welt. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2020. 249 Seiten, 34,90 Euro
Richard Haass: The World: A Brief Introduction. New York: Penguin Press 2020. 400 Seiten, 22,99 Euro
Kishore Mahbubani: Has China Won? The Chinese Challenge to American Primacy. New York: PublicAffairs 2020. 320 Seiten, 27,67 Euro
Margarita Mathiopoulos ist Visiting Professor am Dept. of Diplomacy der China Foreign Affairs University und Professorin em. für US-Außenpolitik und Internationale Sicherheit an der Universität Potsdam.
Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 128-131
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