Aus ist’s mit dem Schottenwitz
Achiltibuie ist ein winziger Ort auf einer Halbinsel im fernen Nordwesten Schottlands. Landeinwärts ragen merkwürdig geformte Berge auf. Auf menschenleeren Hochebenen äsen Hirsche. Adler ziehen ihre Kreise. Anderswo ausgestorbene Tauchvögel brüten im Uferwuchs dunkler Moorseen.
Achiltibuie ist mein Zuhause. In der Vorstellung schottischer Romantiker lebt hier die Seele der Nation, ein Amalgam aus gälischer Kultur und urwüchsigem Gemeinschaftssinn. Ein Tourist, den es hierher verschlägt, wird kaum merken, dass die Schotten im Herbst die für das Vereinigte Königreich folgenreichste Entscheidung seit der Abspaltung Irlands 1922 treffen. Am 18. September werden wir abstimmen, ob wir weiterhin zu Großbritannien gehören oder unserer eigenen Wege gehen wollen.
An der Oberfläche erscheint alles ganz friedlich. Selbst in der Gewaltkapitale Glasgow gibt es keine Demonstrationen, von Straßenschlachten und Molotow-Cocktails ganz zu schweigen. Wie herrlich zivilisiert, wird sich der Besucher denken. Er wundert sich vermutlich nur, wenn er irgendwo in der Einöde eine russische Flagge anstatt einer schottischen über einem Haus wehen sieht. Hinter dem Haus parkt ein Panzerwagen, ein aus Armeebeständen erworbenes Gefährt. Besucher treffen dort auf einen recht unwirschen Mann mit biestigem Rottweiler. In der Gegend heißt es, er sei ziemlich plemplem und überdies Engländer. Mit der russischen Fahne wolle er gegen allzu viel Unabhängigkeitsstreben demonstrieren – auch gegen das der Schotten. Die Nachbarn überlegen schon, ob sie jetzt aus Trotz die Fahne der Ukraine aufziehen sollen.
Unter der Oberfläche rumort es. Freundschaften gehen in die Brüche, Nachbarn zerstreiten sich, der sonst so treffsichere schottische Humor weicht Gehässigkeit und Argwohn. Unter der Oberfläche – das ist im Internet. Während des NordirlandKriegs fochten Anhänger des katholischen FC Celtic und der protestantischen Rangers den Kampf zwischen IRA und Unionisten als Stellvertreterkrieg in Glasgows Fußballstadien aus. Jetzt bekriegen sie sich auf YouTube und in Blogs mit einer Niedertracht und Infamie, die die Propaganda beider Seiten im Nordirland-Krieg sogar noch übertrifft.
So zirkuliert auf YouTube ein mit dunkel-dräuender Musik unterlegtes Video, das den Anhang der Rangers in einem fahnenschwingenden Meer britischer Union Jacks zeigt. Die Kamera schwenkt zu Sanitätern, die einen verletzten Fan bergen wollen. Der Szene folgen eine Warnung, welches Schicksal „Verräter“ erwarte, und der Slogan „Schottisch, nicht britisch“. In diesem Video verunglimpfen die Härtesten der Rangers-Anhänger den schottischen Ministerpräsidenten und Nationalistenführer Alex Salmond als „Omaficker“; sie grölen „Ich wurde unter dem Union Jack geboren“ und pöbeln einen Briten asiatischer Herkunft an, der nicht ihrer Aufforderung folgt, der Queen zu huldigen.
Vielleicht darf man dem extremistischen Rand nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken. Die etwas zentrumsnäheren Cybernats haben eine wichtigere Rolle. Diese Sorte von im Cyberspace verrückt spielenden Nationalisten fällt in organisierten Kampagnen über Journalisten, Sportler und Prominente her, die für den Fortbestand Großbritanniens eintreten oder die Politik der Separatisten kritisch unter die Lupe nehmen. Als „wichtigtuerischer Maulaffe“ oder „antischottischer Scheißer“ abgekanzelt zu werden, gehört zu den milderen Formen ihres Internetmobbings.
Gemäßigte Nationalisten distanzieren sich von den Cybernats – und verfolgen die nicht minder tückische Strategie, das eigene Volk als eine den südlichen Nachbarn moralisch weit überlegene Wertegemeinschaft darzustellen. Wer Sympathie für den Zusammenhalt des Königreichs äußert, wird automatisch als Parteigänger des Londoner Finanzkapitals und der Torys angeschwärzt.
Anhänger des Vereinigten Königreichs befinden sich Umfragen zufolge in der Mehrheit. Vielleicht kein Wunder – in Fragen des täglichen Lebens lösen sich die Argumente der Nationalisten in Wohlgefallen auf. Ob Ministerpräsident Salmond nun behauptet, der Rest des Königreichs werde sich darum reißen, mit seiner neuen Nation eine Währungsunion einzugehen, ob er die Ölreserven der Nordsee maßlos aufbläht oder ob er seinem Volk weismachen will, die EU sei grenzenlos erpicht auf einen neuen Splitterstaat – Widerspruch derer, die es besser wissen, entlockt ihm nur trotzigen Hohn.
Doch die meisten Anhänger der 300 Jahre alten schottisch-englischen Union vermeiden es mittlerweile, öffentlich Stellung zu beziehen. Eine Bekannte erklärt, warum: Sie habe bereits zwei langjährige Freunde verloren und sei als gebürtige Engländerin nach 20 Jahren im Land zum ersten Mal Opfer von Fremdenfeindlichkeit geworden. Und ein alter Mann in unserem Dorf sagt salomonisch, es spiele nun gar keine Rolle mehr, wie das Referendum ausgehe: „Als Volk sind wir für immer gespalten.“
Reiner Luyken
ist Auslandskorrespondent und Kolumnist der Wochenzeitung Die Zeit. Vom schottischen Hochland aus reist er für seine Reportagen
in die Welt.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2014, S. 128-129