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01. Juli 2016

Auf Geisterjagd

Sieben Phantome der russischen EU-Politik

„Uns steht ein Sonderstatus zu“, „Entscheidend ist die Wirtschaft“, „Alle Europäer sind gleich, aber manche sind gleicher“: Russlands Politik gegenüber der Europäischen Union ist von solchen Illusionen geprägt. Zeit für eine Bestandsaufnahme dessen, was die Moskauer Wahrnehmung verzerrt – woran übrigens die EU auch nicht ganz unschuldig ist.

Man weiß ja, dass die russische Führungselite niemals Fehler begeht. Wenigstens würde sie niemals Fehler einräumen – schon gar keine außenpolitischen. Russlands Außenpolitik wird nach innen wie nach außen auf die gleiche, deterministische Weise präsentiert: als die jeweils einzig mögliche Reaktion auf voneinander unabhängige Variablen, also auf positive oder negative Veränderungen in Russlands außenpolitischem Umfeld. Die Begründungen heißen dann: „Wir taten es, weil wir dazu gezwungen waren“, „man hat uns keine andere Wahl gelassen“, „unter den gegebenen Umständen war dies die einzige Möglichkeit, unsere Interessen zu wahren“.

Es wäre unfair, diese „Logik“ als Heuchelei abzutun, die darauf abzielt, ernstzunehmende Kritik an Russlands internationalem Verhalten gleich im Keim zu ersticken. Zu einem gewissen Grad ließe sich solches Denken eher auf eine lange geistesgeschichtliche Tradition des Fatalismus zurückführen. Es reflektiert aber auch den Verfall der außenpolitischen Debatte im heutigen Russland, in dem alternative Strategien nicht mehr offen diskutiert werden und die Trennlinie zwischen wissenschaftlicher Analyse und staatlicher Propaganda nur noch schwer zu erkennen ist.

Wer oder was ist aber für Fehler verantwortlich? Nicht der diplomatische Apparat, der zu den professionellsten, erfahrensten und kultiviertesten der Welt gehört. Fehler passieren nicht aus Unprofessionalität, mangelnder Erfahrung oder Nachlässigkeit. Eher schon sind sie bestimmten Wahrnehmungen, Interpretationen und dem konzeptionellen Rahmen geschuldet, in dem außenpolitisch gedacht und gehandelt wird. Anders ausgedrückt: Es geht nicht um Schlamperei, sondern um die Methode.

Das grundlegende Problem der russischen Außenpolitik besteht nicht darin, wie man mit den Realitäten „da draußen“ umgeht, sondern wie man diese definiert. In der Politik gegenüber der Europäischen Union lassen sich die Auswirkungen dieses Problems an den sieben Annahmen zeigen, die eher Phantome, denn Abbildung der Wirklichkeit sind. Ihnen ist nicht allein geschuldet, dass ein so ambitioniertes Konzept wie ein Großeuropa von Lissabon bis Wladiwostok nie realisiert wurde; sie haben jedoch durchaus zu dessen Scheitern beigetragen.

„Uns steht ein Sonderstatus zu“

Wer Erfolg hat, empfindet eher Dankbarkeit. Wem kein oder wenig Erfolg beschieden ist, der entwickelt häufig das Gefühl, die Welt schulde ihm etwas. Das Gleiche lässt sich für Nationen beziehungsweise deren außenpolitisches Establishment sagen. Im Unterschied zu anderen postkommunistischen Staaten hat die russische Führungselite seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion immer einen Sonderstatus in ihren Beziehungen zur EU eingefordert – und versucht, diesen Anspruch mit allerlei Gründen für einen russischen Exzeptionalismus zu untermauern: die Größe des Landes, seine geografische Ausdehnung, seine Stellung als nukleare Supermacht, sein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat.

Die Kernidee einer Neugestaltung Europas, wie sie Moskau vorantreiben wollte, war eine Ost-West-Annäherung und nicht eine Eingliederung des Ostens in den Westen: Russland war bereit, sich mehr zu europäisieren, wenn Europa russischer würde. Moskau und Brüssel sollten gleichermaßen Zugeständnisse und Kompromisse in den wichtigsten Bereichen ihrer Kooperation machen – bei Fragen der Sicherheit, Energie, Visaerteilung, Landwirtschaft und des Transports. Deshalb entschied sich Moskau Anfang des neuen Jahrtausends zum Beispiel dagegen, an der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) der EU teilzunehmen. Es strebte vielmehr eine „gleichberechtigte Partnerschaft“ mit der EU an und eben nicht eine „Juniorpartnerschaft“, als die Russland eine Teilnahme an der ENP verstand. Um dennoch in verschiedenen Bereichen kooperieren zu können, einigten sich Russland und die EU auf die Initiative der vier „Gemeinsamen Räume“.

Die Annahme, Russland könne ein gleichberechtigter Partner der EU werden, stellte sich allerdings als Phantom heraus. Aus EU-Sicht bestanden in der praktischen Umsetzung der Beziehungen zu Russland keine wesentlichen Unterschiede zu den ENP-Partnern. In beiden Fällen sollte die letztendliche Vereinbarung auf Bestimmungen des Acquis communautaire der EU und auf den deshalb erforderlichen unilateralen Anpassungen an EU-Vorschriften beruhen. Dieses EU-Vorgehen passte aber nicht mit Moskaus Wahrnehmung von „Gleichberechtigung“ zusammen; besonders enttäuscht war man, was den Energiesektor betraf: Russland sah sich als Europas Hauptlieferant von Erdöl und -gas und erwartete somit eine entgegenkommendere Politik.

„Gipfeltreffen sind Lokomotiven“

Ein Top-down-Ansatz war schon immer typisch für die russische Außenpolitik, und er bestimmte auch Russlands taktische Prioritäten bei der Ausgestaltung der Beziehungen zur EU. Für den Kreml waren vor allem „Großereignisse“ wichtig: Gipfel­treffen, offizielle Besuche, hochrangige Beratungen zwischen Moskauer und Brüsseler Bürokratie sowie allgemeine politische Erklärungen. Es ist deshalb wenig verwunderlich, wenn die EU in den vergangenen 20 Jahren mehr offizielle Kontakte mit Russland hatte als mit irgendeinem anderen Partner, darunter die USA, China und die Türkei. Die russische Seite ging offenkundig davon aus, dass der politische Schwung dieser hochrangigen Treffen automatisch zu ganz konkreten Erfolgen auf den unteren Ebenen führen würde. Die Gipfel­diplomatie sollte als eine Art Lokomotive dienen, die eine lange Reihe von Eisenbahnwaggons hinter sich herzieht.

Es zeigte sich jedoch, dass ein solcher Ansatz seine Grenzen hat. Die zwei Mal jährlich stattfindenden EU-Russland-Gipfel wurden mit der Zeit immer unproduktiver. Die dort vereinbarten „Kooperations-Roadmaps“ waren alles andere als echte Weg- und Zielvorgaben, die auch klare Bestimmungen zur Umsetzung, Überwachung und Evaluierung von Projekten enthalten. In den meisten Fällen handelte es sich bei den „Kooperations-Roadmaps“ um freundlich formulierte Absichtserklärungen. Den russischen Experten, Beobachtern und Analysten gelang es nicht, echte Arbeitsbeziehungen mit den EU-Institutionen in Brüssel aufzubauen. In Russland waren die Regierungsinstitutionen, die für die Beziehungen zur EU zuständig sind, hoffnungslos unterbesetzt und unterfinanziert; auch fehlte es an der dringend benötigten Zuarbeit von Experten.

Alles in allem hat es der Kreml nie geschafft, eine ganze Waggonreihe an die politische Lokomotive zu hängen. Die hoffnungsfrohen Signale der Lokomotive verpufften. Als dann im Jahr 2014 der Zug plötzlich entgleiste, gab es niemanden, der eingefordert hätte, ihn wieder auf die Gleise und zur Weiterfahrt zu bringen.

„Entscheidend ist die Wirtschaft“

Die meisten russischen Regierungsvertreter und Beamten, die seit Anfang der neunziger Jahre an der russischen Europa-Politik mitarbeiteten, haben die übliche sowjetische Universitätsausbildung absolviert. Das bedeutet: Sie waren explizit oder implizit Marxisten bzw. Neomarxisten und damit überzeugt vom Vorrang ökonomischer Faktoren in den internationalen Beziehungen. Die EU, die man als politischen Zwerg und sicherheitspolitischen Niemand empfand, nahm Moskau fast ausschließlich als Wirtschaftsmacht wahr. Man war davon überzeugt, dass die pure Dynamik der wirtschaftlichen Koopera­tion, die beeindruckenden Zahlen des russisch-europäischen Handels, der beiderseitigen Investitionen und die Tatsache, dass Tausende europäische Firmen ihre Produktion nach Russland verlagerten, schon eine ausreichende Versicherung gegen Krisen seien, die durch politische Probleme oder Konflikte entstehen könnten.

Ebenso sehr war man überzeugt, dass die Interessenvertreter der europäischen Wirtschaft bei politischen Streitigkeiten mit Russland die Oberhand behalten würden. Die immer größere gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit führte dazu, dass ­Moskau die wachsenden politischen Probleme mit Brüssel nicht richtig erkannte. Im Vergleich zu den wirtschaftlichen Interessen empfand man diese Probleme als geringfügig oder zumindest hinnehmbar.

Die Ukraine-Krise und die darauffolgenden EU-Sanktionen gegen Russland haben gezeigt, dass diese Annahme falsch war. Natürlich ging Moskau davon aus, dass die USA Druck auf die Europäer ausgeübt hatten, Sanktionen zu verhängen. Ganz offensichtlich aber ging man auch davon aus, dass die Europäer diesem Druck widerstehen würden.

Die Sanktionen sind nicht das einzige Beispiel, bei dem Europas politischen Erwägungen größeres Gewicht beigemessen wurde als seinen wirtschaftlichen Interessen. Die gleiche Logik, wenngleich mit weniger dramatischen Auswirkungen, zeigt sich in den intensiven Bemühungen der EU um eine größere Energieunabhängigkeit von Russland. Brüssel ­fördert zahlreiche Alternativen zu russischem Gas, obwohl die meisten dieser Alternativen vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen durchaus fragwürdig sind. Die berühmte Äußerung Lenins, dass „die Kapitalisten dir noch den Strick verkaufen, an dem du sie aufhängst“, ist wohl falscher, als mancher dachte.

„Manche Europäer sind gleicher“

In der politischen Tradition Russlands legt man Wert auf Hierarchie. Das gilt auch für die Außenpolitik. Die Entscheidungsträger in Moskau haben versucht, aufgrund ihrer Erfahrungen und ihres Verständnisses europäischer Hierarchie in der so komplexen, verwirrenden und widersprüchlichen Struktur der EU die leichtesten Zugangspunkte zu identifizieren. Dabei lag es auf der Hand, die Aufmerksamkeit und Energien auf die Schlüsselfiguren zu konzentrieren, d.h. die traditionellen Partner Moskaus aus dem „alten Europa“: Deutschland, Italien und Frankreich. Man ging davon aus, dass diese Länder als Russlands Fürsprecher in der EU agieren und andere Mitgliedstaaten, darunter auch die eher russlandkritischen, schon auf Linie bringen würden. Dass die traditionellen Partner Russlands viele Jahre lang die eher chancenreichen Bereiche auf bilateraler Ebene besprachen, aber die schwierigen Themen Brüssel zuschoben, hat sicherlich auch zu Russlands Auffassung beigetragen, dass man sich in seiner Politik gegenüber der EU eben nur an die „Großen“ zu halten brauche.

Die Erwartung Russlands jedenfalls, dass das „alte Europa“, vor allem Deutschland, die russischen Probleme innerhalb der EU schon lösen könne, gab Moskau einen plausiblen Vorwand, sich nicht ernsthaft mit dem belasteten sowjetischen Erbe – nämlich Russlands Beziehungen mit Zentraleuropa und den baltischen Ländern – auseinanderzusetzen. Moskau zog es vor, über die Köpfe der Nachbarn an seiner Westgrenze hinweg das Gespräch mit dem „alten ­Europa“ zu suchen.

Anders als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg verstand es Russland nach dem Kalten Krieg nicht als außenpolitische Priorität, einen Ring von freundlich gesinnten, kleineren Nachbarländern um sich zu bilden. Viele deutsche Politiker sahen sich nach den Nazi-Verbrechen in besonderer Verantwortung und waren daher bereit, gerade den Nachbarländern stärker entgegenzukommen, die Opfer des NS-Regimes geworden waren. Anders die russischen Politiker: Sie waren der Meinung, sich des Kommunismus selbst entledigt zu haben und deshalb Wertschätzung und Dankbarkeit von den zentraleuropäischen und baltischen Staaten zu verdienen. Als sich dann zeigte, dass die vormals antisowjetische Stimmung in diesen Staaten mühelos in eine neue antirussische Haltung umschlagen konnte, begann Moskau, diese Länder nicht als potenzielle außenpolitische Aktivposten zu betrachten, sondern als Risikofaktoren.

So wurde aus dem postkommunistischen Europa nicht etwa eine Brücke zwischen Russland und der EU, sondern eine Mauer. Das verkompliziert das Verhältnis insgesamt. Es waren gerade diese Länder, die nach dem Georgien-Krieg 2008 besonders aktiv bei der EU-Strategie­entwicklung gegenüber Russland mitwirkten. Ihr Einfluss auf die Entscheidungen in Brüssel, so die Faustregel, lief den russischen Interessen zuwider. Der Fairness halber sei erwähnt, dass Moskau mit einem russisch-polnischen Neustart versucht hat, eine Gegenbewegung in Gang zu bringen. Aus verschiedenen Gründen aber verlor die Kooperation mit Warschau jeden Schwung, lange bevor die ­Ukraine-Krise dieser zaghaften Initiative den Todesstoß versetzte.

„Sie sind wie wir und tun nur so“

Die Welt, in der wir leben, wird vor allem von unseren Werten bestimmt. Menschen bewerten ihr Umfeld, die Risiken wie Chancen nach den eigenen Wertvorstellungen. Und meist werden dabei die eigenen Vorstellungen, Prinzipien, Erwartungen und Befürchtungen auf andere projiziert – von denen man erwartet, dass sie die Welt doch ganz ähnlich sehen müssten. Im Umgang mit der EU ist russischen Politikern dieser Fehler immer wieder unterlaufen. Das hat zu großen Enttäuschungen geführt.

Als Verfechter einer Realpolitik in den internationalen Beziehungen erwarteten die Strategen im Kreml nicht nur von der Brüsseler Führung, nach den gleichen Maßstäben zu handeln. Jedwede Anzeichen einer liberalen EU-Außenpolitik wurden umgehend als verlogene Rhetorik und Scheinheiligkeit verhöhnt. Im Westen gibt es Unmengen von Veröffentlichungen zu Wladimir Putins KGB-Vergangenheit und wie diese Karriere seine Weltanschauung beeinflusst hat. Aber nur wenige Experten in Moskau wissen, dass Angela Merkel die Tochter eines evangelischen Pfarrers und treues Mitglied der Evangelischen Kirche ist. Und noch weniger Analysten würden davon ausgehen, dass ihr Glaube einen Einfluss auf Merkels politische Entscheidungen haben könnte.

Russen lieben Langzeitstrategien und umfassende Pläne, obwohl sie normalerweise nicht die erforderliche Geduld haben, diese Strategien und Pläne auch auszuführen. Die Strategen des Kremls übertragen ihre Praxis und Haltung auf die EU und werfen ihr vor, Langzeitstrategien, umfassende Pläne und sogar finstere Verschwörungen gegen Russland zu verfolgen. Dabei würde es der EU in Wirklichkeit niemals gelingen, sich auf solche Strategien und Pläne zu einigen, geschweige denn, sie gemeinsam und langfristig durchzuführen.

Die Komplexität und auch Widersprüchlichkeit von Entscheidungsprozessen innerhalb der EU wurden in Moskau nicht als ein Merkmal europäischer politischer Kultur wahrgenommen, sondern als Ausdruck von fehlendem Einsatz und Durchhaltevermögen. Dieses typisch europäische Merkmal wurde in Moskau oft als Zeichen von Schwäche und Niedergang interpretiert. Man zog sogar Parallelen zwischen der EU und der ehemaligen Sowjetunion.

Auch konnten russische Politiker kaum glauben, dass die EU nicht in der Lage sei, die Aktivitäten der vielen europäischen Nichtregierungsorganisationen zu kontrollieren, die in Russland und seinen Nachbarländern aktiv sind. Die europäische Zivilgesellschaft wurde nicht als unabhängiger oder sogar autonomer Akteur wahrgenommen, sondern als ein weiteres Werkzeug unter der Ägide Brüsseler Bürokraten. Und in der gleichen Denkstruktur ging man davon aus, dass die europäischen Medien von europäischen Regierungen ebenso streng kontrolliert werden wie die wichtigsten russischen Medien vom Kreml.

Die Neigung, solch grundlegende Unterschiede in den Sichtweisen russischer und europäischer Entscheidungsträger zu ignorieren, führte zu zahlreichen Missverständnissen und Komplikationen, die durchaus vermeidbar gewesen wären.

„Rosinenpickerei funktioniert“

Seit Peter dem Großen nutzt Russland europäische Erfahrungen und Errungenschaften auf unterschiedlichen Gebieten höchst selektiv. Mehr als drei Jahrhunderte lang, von der Romanow-Dynastie bis hin zu den Mitgliedern des Politbüros, versuchten russische Herrscher, Technologien, Experten und Führungsmodelle, die man selbst brauchte oder wollte, aus Europa zu holen. Allerdings importierte man nur die „Hardware“, nicht aber das dazugehörige Betriebssystem, also die notwendigen sozialen und politischen Praktiken. Das erzeugte allenfalls gemischte Resultate. Der Versuch der Modernisierung in Russland erfuhr in seiner langen Geschichte Höhen und Tiefen. Kritik kam permanent und zwar sowohl von Liberalen wie Konservativen. Allen Modernisierungsversuchen ist eines gemein: Die regierenden Eliten haben immer versucht, eine dringend notwendige wirtschaftliche Modernisierung mit der Maßgabe auszubalancieren, mit allen Mitteln am politischen und sozialen Status quo festzuhalten.

Auch die postsowjetisch-russische Führung hat sich an diese Vorgehensweise gehalten, vor allem nach den „Farbrevolutionen“ in der russischen Nachbarschaft – von denen man selbstverständlich dachte, dass sie westlichem sozialen und politischen Einfluss geschuldet waren. Die russische Interpretation der Modernisierungspartnerschaft, die 2010 mit der EU vereinbart wurde, ist eines der anschaulichsten Beispiele dieser „Rosinenpickerei“. Aus EU-Sicht sollte diese Partnerschaft nicht nur technologische und wirtschaftliche Komponenten, sondern auch Reformen des russischen Rechtssystems umfassen sowie die Zivilgesellschaft und die Menschenrechte in Russland stärken. Die russische Interpretation war weitaus enger: Aus Moskauer Sicht ging es allein um die Harmonisierung technischer Regularien, um Standardisierung und Erleichterungen bei Russlands Zugang zu fortschrittlichen Technologien.

Das Problem dieses Ansatzes ist recht offenbar: Mit jedem neuen Entwicklungsschritt Russlands wird es immer schwerer, scharf zwischen ökonomischen/technolo­gischen und sozialen/politischen Dimensionen der Modernisierung zu trennen. Was für Peter den Großen im frühen 18. Jahrhundert relativ einfach zu bewerkstelligen war, wurde für Alexander III. Ende des 19. Jahrhunderts schon zum Problem. Für eine russische Führung des 21. Jahrhunderts ist es gänzlich unmöglich. Rosinenpickerei funktioniert nicht in einer postmodernen Welt. Modernisierung ist nur noch als Gesamtpaket und nicht in Einzelteilen erhältlich.

China mag hier eine Ausnahme sein, denn es ist in vielen Bereichen immer noch ein Schwellenland. Das gilt aber nicht für das postmoderne Russland. Selbst wenn die EU die sehr enge technische russische Definition der Modernisierungspartnerschaft akzeptiert hätte (was dem Charakter der EU völlig zuwidergelaufen wäre), hätte jede systematische und erfolgreiche Durchführung auch einer solch reduzierten Partnerschaft der russischen Führung kolossale Schwierigkeiten dabei bereitet, den sozialen und politischen Status quo zu erhalten.

„Es gibt ja noch mehr als Europa“

Einer der bemerkenswertesten Aspekte der jüngeren russischen Politik ist die Hinwendung nach Asien. Sie begann vor der Ukraine-Krise, die dann zum Beschleuniger für die sich von West nach Ost verlagernden außenpolitischen Prioritäten Russlands wurde. Zahlreiche Befürworter dieser Wende sowohl im Regierungsapparat wie unter Experten berufen sich auf die folgenden Argumente: Erstens erscheint Asien im 21. Jahrhundert wirtschaftlich viel dynamischer und vielversprechender als Europa. Für Russland böten sich zukünftig eher im Osten als im Westen Märkte, Finanzierungsquellen und moderne Technologien. Zweitens liegt es nicht im Interesse asiatischer Länder – von China und den ASEAN-Mitgliedern bis hin zu Indien und dem Iran –, Farbrevolutionen zu unterstützen oder sich für die Rechte sexueller Minderheiten in Russland oder dessen Nachbarländern einzusetzen. Selbst wenn diese Länder nicht mit der russischen ­Ukraine-Politik einverstanden wären, würden sie wohl nicht wie der Westen Wirtschafts-, Finanz- oder andere Sanktionen gegen Moskau verhängen.

Drittens seien zentralistische, autoritäre oder semiautoritäre Regime effizientere oder verlässlichere Partner als die schwerfällige und überkomplizierte EU-Bürokratie. Xi Jinping liefert da, wo Jean-Claude Juncker im Vermittlungssumpf zwischen diversen nationalen, politischen, institutionellen und anderen Interessen versinkt. Die frustrierenden Erfahrungen im Umgang mit der Brüsseler Bürokratie sind ein starker Anreiz, sich nach potenziellen Alternativen umzusehen.

Diese Argumente ergeben durchaus Sinn. Doch wiegen die Gegenargumente meiner Meinung nach ungleich schwerer. Ich beschränke mich hier auf nur drei. Allen Rückschlägen und gegenseitigen Enttäuschungen zum Trotz bleibt erstens die Zusammenarbeit mit den EU-Staaten für Russland von herausragender Bedeutung – nicht nur in Bezug auf das Ausmaß des Handelsvolumens, sondern auch im Hinblick auf die Qualität der Beziehung. Die breite, rechtliche Grundlage der Kooperation, die wichtige Rolle kleiner und mittlerer Unternehmen, die hohe Anzahl europäischer Unternehmen, die russische Produktionsstandorte unterhalten, die Größe russischer und russischsprachiger Minderheiten in Europa, die Vielzahl von Russen mit europäischen Universitätsabschlüssen – nichts dergleichen besteht zwischen Russland und Asien. Und etwas Vergleichbares dürfte dort auch in naher Zukunft nicht entstehen.

Zweitens ist – oder zumindest sollte – Europa aus einer Vielzahl von Gründen an Russlands Modernisierung viel interessierter sein als Asien. Asiatische Staaten sind hauptsächlich an Russlands Rohstoffen und Militärtechnologien interessiert. Europäische Staaten würden vom gerade brachliegenden, aber vorhandenen kreativen Potenzial Russlands profitieren – von einer Renaissance der russischen Forschungs- und Entwicklungskapazitäten, von einer lebendigen russischen Zivilgesellschaft und von einer aufblühenden russischen Kultur, die völlig zu Recht als integraler Teil der europäischen Kultur verstanden wird.

Drittens, und am wichtigsten: Die Europäische Union mag nicht mehr der einzige potenzielle Partner sein. Aber dieser Partner spielt nach Regeln, die nicht nur im Raum der EU Gültigkeit besitzen, sondern weit darüber hinaus auch globale Strahlkraft haben. Jedenfalls für die respektableren Player in der internationalen Politik. In Asien wird es Russland dagegen mit denselben Barrieren zu tun bekommen, auf die es vor längerer Zeit auch schon in Europa gestoßen ist. Und diese Barrieren sind in der Innenpolitik begründet: in schlechter Regierungsführung, allgegenwärtiger Bürokratie, grassierender Korruption und dem Fehlen einer unabhängigen Justiz, in einer rein auf den Export von Ressourcen basierten Wirtschaft und Energieabhängigkeit und wenig Anreiz für Innovationen. Geht Russland diese fundamentalen Probleme nicht an, dann wird eine geografische Neuausrichtung auch keine positiven Ergebnisse erzielen.

Selbstheilungskräfte

Ein Phantom ist eine Illusion, eine Sinnestäuschung. Illusionen verzerren die Wirklichkeit. Aber die meisten Menschen – und Nationen – hegen sie dennoch. Im Unterschied zu einer Halluzination – einer Wahrnehmung ohne erkennbare Verknüpfung zur Realität – ist eine Illusion die Fehl­interpretation einer wahren Empfindung. Lehrbüchern der Psychiatrie gemäß handelt es sich um eine Halluzination, wenn jemand Stimmen hört, die es schlicht nicht gibt. Hört man Stimmen, glaubt aber, es handele sich um ein Geräusch wie laufendes Wasser, dann wäre dies eine Illusion.

Die russischen Phantome sind nicht aus dem Nichts entstanden – sie reflektieren Realitäten aus Moskaus langjährigen Erfahrungen mit seinen westlichen Partnern. Jedes Phantom führt ein Eigenleben; jedes wurde nicht nur vom Kreml und dessen Propagandakriegern, sondern auch von Spiegelphantomen, Illusionen, Fehlinterpretationen, von bestimmten Handlungen (oder dem Unterlassen von Handlungen) des Westens ­gespeist.

Die europäische Führungselite sollte diesen ursächlichen Zusammenhang nicht vergessen, wenn sie ihr russisches Gegenüber dazu bringen möchte, sich von verzerrten Realitäten zu verabschieden. Natürlich ist es Angelegenheit der Russen, russische Phantome zu jagen und zu erlegen. Aber die EU täte ihrerseits gut daran, selbst ein paar erfahrene „Ghostbuster“ zu engagieren, um die eigenen bösen Geister aus den europäischen Häusern zu vertreiben. Wie hieß es so richtig im Alten Rom? Medice, cura te ipsum – Arzt, heile dich selbst!

Dr. Andrey Kortunov ist Generaldirektor des Russian International Affairs Council (RIAC).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 64-72

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