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05. Mai 2014

Auf der Suche nach schwarzen Schwänen

Fragen an Andrzej Kindziuk, Planungsstab des polnischen Außenministeriums

Die Annexion der Krim durch Russland hatte so kaum ein Sicherheits­experte vorausgesehen – selbst solche nicht, die sich auf „schwarze Schwäne“, also auf die höchst unwahrscheinlichen Ereignisse, verstehen. Müssen wir vor diesem Hintergrund unsere Einschätzungen zukünftiger Risiken nun grundlegend verändern?

Was sind die größten sicherheitspolitischen Herausforderungen?

Nach dem Ende des Kalten Krieges schien sich der Westen auf einen idyllischen geopolitischen Spaziergang begeben zu haben. Der Gang der Geschichte wurde quasi-offiziell für beendet erklärt. Das Konzept des ewigen Friedens war dagegen auf dem Vormarsch.

Und es wurden vor allem die so genannten „neuen“, die grenzübergreifenden Herausforderungen thematisiert: organisierte Kriminalität, Terrorismus, Massenmigration oder Umweltschutz. Kurzum: Fragen, bei denen der Nationalstaat nicht in der Lage ist, auf eigene Faust zu handeln, und die nur in gegenseitigem Einvernehmen gelöst werden können – diese sollten die Zukunft der internationalen Beziehungen ausmachen und zugleich klassische Themen ganz verdrängen oder zumindest an den Rand schieben.

Die Balkan-Kriege der neunziger Jahre waren ein erstes Anzeichen dafür, dass dieser Optimismus wohl verfrüht gewesen ist. Die Anschläge vom 11. September 2001 – weit vom europäischen Kontinent entfernt, aber mit weitreichenden geopolitischen Konsequenzen auch für ihn – bedeuteten eine weitere Mahnung. Und schließlich die jüngste Vergangenheit: der Krieg in Georgien von 2008 und die andauernde Krise in der Ukraine. Da wurden wir ein für alle Mal eines Besseren belehrt. Und deshalb wissen wir jetzt: Die traditionellen Sicherheitsherausforderungen dürfen nicht vernachlässigt werden. Und außerdem sollte jetzt jedem klar sein: Schwere Krisen sind nicht nur in weit entfernten Ländern vorstellbar, sondern auch in Europa und in seiner unmittelbaren Nachbarschaft.

Warum hat niemand die Krim-Krise vorausgesehen?

Dieselbe Frage könnte man gleich auch in Bezug auf den Arabischen Frühling oder auf andere dramatische Vorkommnisse aus den vergangenen Jahren stellen. Denn überall dort, wo die Verflechtung verschiedener Interessen besonders ausgeprägt ist und wo es viele Variablen gibt, ist jede Planung besonders anspruchsvoll.

Im Nachhinein muss man wohl zugeben, dass das Ausmaß der Veränderungen in der Ukraine, insbesondere auf der Krim, überraschend war. Ob aber die ukrainische Krise als solche wie aus heiterem Himmel kam, ist zu bezweifeln. Man muss bedenken, dass Kiew über Jahre hinweg eine Multivektorenpolitik betrieben hat. Offenkundig ist diese Politik jetzt an ihre Grenzen gestoßen. Das Land gelangte an einen geopolitischen Scheideweg: das Ausbalancieren war nicht mehr möglich. Die Entscheidung zugunsten einer geopolitischen Option (oder, genauer gesagt, gegen eine Option) führte zu Verstimmungen innerhalb des Landes und Unmut unter großen Teilen der Bevölkerung. Was dann zu heftigen Protesten führte. Was wiederum eine Gegenreaktion hervorgerufen hat, die maßgebliche Unterstützung aus dem benachbarten Ausland erfuhr und in entscheidendem Maße von außen mitgeprägt wurde. In dieser letzten Etappe avancierte ein innerer Konflikt zu einem zwischenstaatlichen.

Kommt Konfliktprävention nicht immer einen Schritt zu spät?

So zu tun, als ließe sich durch Verwendung der richtigen analytischen Instrumente jede Krise vorhersehen oder vermeiden, wäre leider falsch. Planungseinheiten in den Ministerien oder anderen Institutionen müssten sonst wohl Hellseher einstellen und nicht gewöhnliche außen- und sicherheitspolitische Analytiker.

Im Übrigen sollte man eines nicht vergessen: Polen hat immer wieder versucht, auf die Rolle unseres östlichen Nachbarn im europäischen Sicherheitssystem aufmerksam zu machen und gleichzeitig andere zu sensibilisieren. Das war in diesem Fall unser spezieller Beitrag zur Konfliktprävention. Aufgrund der gemeinsamen Geschichte wissen wir, dass die Ukraine ein Teil Europas war und ist, auch wenn sie den europäischen und euroatlantischen Institutionen nicht angehört. Und dass es ohne einen freien, souveränen, gut regierten ukrainischen Staat keine dauerhafte Stabilität an der östlichen Grenze Polens geben wird.

Bis Ende 2013 fielen die Reaktionen auf unser proukrainisches Mantra im Westen allerdings recht unterschiedlich aus. Gelegentlich gab es durchaus Verständnis, öfter aber begegnete uns Skepsis oder gleichgültiges Achselzucken. Mancher muss sich wohl gedacht haben: Da kommen wieder die Polen mit ihrer alten Leier! In diesem Sinne war der Maidan ein „game changer“ – die Proteste haben das Spiel verändert. Denn durch das tapfere Auftreten der Demonstranten und den anschließenden Konflikt mit Russland, bei dem die ukrainische Seite eindeutig die besseren rechtlichen Argumente hatte, konnte sich das Land endgültig in den Köpfen aller Europäer festsetzen. Der bittere Preis, den die Ukrainer dafür zu zahlen hatten, ist der Verlust der Kontrolle über die Krim.

Als Gedankenspiel: Welche „unknown unknowns“ könnten auftreten?

Nach Angaben des Heidelberger Instituts für Internationale Konfliktforschung, das uns bekanntlich seit Jahren mit einem sogenannten „Konfliktbarometer“ versorgt, gab es 2013 weltweit 414 Konflikte verschiedenster Art – von diplomatischen Auseinandersetzungen bis hin zu klassischen, ausgewachsenen Kriegen. Jeder von ihnen bietet reichlich Stoff für ein „unknown unknown“ auch in diesem Jahr. Und am Horizont könnten noch ganz neue auftauchen. 

Unsere Aufgabe als Analytiker ist es vor allem, die Konflikte der Priorität nach zu ordnen, denn wir können nur denen Aufmerksamkeit schenken, die für uns wirklich von Bedeutung sind. Nach bestem Wissen und Gewissen sollten wir dann den Entscheidungsträgern unsere unabhängige Analyse liefern. Schnell aber stoßen wir dabei, um die Philosophen zu zitieren, an die Grenzen unserer Erkenntnis. Denn ein weiteres Dilemma, vor dem wir stehen, lautet: Wie weit, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft, soll unser analytischer Blick reichen? Geschichte zu studieren, nicht nur die neueste, ist immer hilfreich. Zumal die zwischenstaatlichen Beziehungen in unserem Teil Europas bis ins Mittelalter reichen und uns inspirieren können. Polen wird in zwei Jahren, im Beisein des Papstes, das 1050. Jubiläum seiner Christianisierung feiern. Die Taufe des polnischen Fürstenhauses von 966 und der Einzug des Christentums sind für uns zugleich der Beginn der Geschichte des Staates und prägen das nationale Bewusstsein bis heute.

Was aber die Zukunftsprognose anbelangt, steht außer Frage, dass wir, als unpolitische Experten, über eine Legislaturperiode hinausdenken sollen. Aber wie weit hinaus? Ein Jahrzehnt? Ein Vierteljahrhundert – was im Großen und Ganzen einer Generation entspricht? Das sind offene Fragen, die nicht eindeutig zu beantworten sind.

Worauf sollten Polen und die EU vorbereitet sein?

Damit die internationale Ordnung nicht ins Schwanken gerät, muss man darauf bestehen, dass die völkerrechtlichen Normen universelle Anerkennung finden, nicht nur in Lippenbekenntnissen, sondern auch in den konkreten Handlungen einzelner Staaten. Und gerade darin liegt die Gefahr: dass es mehr und mehr Fälle geben kann, wo Völkerrecht ignoriert, missachtet oder verletzt wird. Außen- und Sicherheitspolitik war bis vor Kurzem ein bisschen wie eine „Tatort“-Folge: Jede Woche gab es zwar einen neuen Fall, eine neue Herausforderung, aber erstens ähnelten sie einander, zweitens kam einem die Handlung bekannt vor und drittens war auch die Auflösung meist vorhersehbar. Mit den Ereignissen im Osten Europas hat sich das schlagartig verändert. Der Krieg in Georgien 2008 war schon besorgniserregend genug, die Einverleibung der Krim ist ein weiterer Bruch des Völkerrechts.

Welche Rolle kommt in dieser Situation der NATO zu?

Im Kontext der neuesten Ereignisse ist es sicherlich von Vorteil, dass die Allianz langsam zu ihren Wurzeln zurückfindet und sich ihren Kernaufgaben widmet, nämlich der territorialen Verteidigung der Mitgliedstaaten. Was nicht heißen soll, dass man die herausragende Rolle des Afghanistan-Einsatzes herunterspielen soll. Durch diesen Einsatz hat die NATO gerade ihre Flexibilität bewiesen, nachdem sie in den neunziger Jahren auf der Suche nach einer neuen Identität war. Jetzt muss man aber feststellen: Mit der Rückkehr der Geopolitik ist die NATO wieder die Alte – und wieder im Spiel. Wobei diese „alt-neue“ Rolle eine Erweiterung der Allianz keineswegs ausschließt. Ganz im Gegenteil: Auf dem Bukarester Gipfel 2008 wurden der Ukraine und Georgien eine Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, und daran sollten wir uns halten, auch wenn es im Moment ein eher langfristiges Ziel ist.

Und im Übrigen: Aus analytischer Sicht ist es heute aktueller denn je, die Frage aufzuwerfen, inwiefern die damalige Entscheidung, den beiden Ländern den „Membership Action Plan“ zu verweigern, zur aktuellen Krisensituation beigetragen hat.

Andrzej Kindziuk 
ist Sicherheitsexperte 
im Planungsstab des polnischen Außen-
ministeriums. Er gibt 
hier ausschließlich seine persönliche Meinung wieder.
 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2014, S. 94-97

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