IP

01. Juli 2012

Auf der Suche nach einem neuen Profil

Grußwort von Friedrich Merz, Vorstandsvorsitzender der Atlantik-Brücke e.V.

Deutschland hat Amerika viel zu verdanken. Ohne die Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wären die deutsche und die europäische Nachkriegsgeschichte anders verlaufen.

Das Bewusstsein für diese historischen Zusammenhänge allerdings schwindet. Die jungen Menschen, die in diesem Jahr die Schule verlassen, waren zur Zeit der Wiedervereinigung noch nicht geboren. Diese Generation kennt die entscheidende Phase des Kalten Krieges, den Ost-West-Konflikt und die großen politischen Debatten der achtziger Jahre um die Nachrüstung und die nachfolgende Entwicklung in der damaligen Sowjetunion nur aus den Geschichtsbüchern. Die historische Rede des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor am 12. Juni 1987 und ihre unbestreitbare Wirkung auf das wankende Regime in der DDR ist fast ganz vergessen. Amerika ist vielen Deutschen fremd geworden, nicht zuletzt durch außenpolitische Entscheidungen der USA, die von einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht geteilt werden.

So hat sich nach der Wiedervereinigung viel verändert im deutsch-amerikanischen Verhältnis. Wir befinden uns in einer neuen Phase der transatlantischen Beziehungen, in einem Suchprozess nach einem neuen Profil, das wir noch nicht gefunden haben.
Auch das Bild unseres Landes auf der anderen Seite des Atlantiks unterliegt einem tiefgreifenden Wandel. Nach dem Abzug der US-Soldaten, die über vier Jahrzehnte in Deutschland stationiert waren und viele dauerhafte Freundschaften geschlossen haben, wird es in den USA schon in einer Generation kaum noch Menschen geben, die sich daran erinnern, ihren Dienst auf dem europäischen Kontinent und insbesondere in Deutschland getan zu haben. So wird allein durch historische Entwicklungen das Band zwischen Amerika und Deutschland schmaler werden.

Es gibt weitere Entwicklungen, die Einfluss haben auf das transatlantische Verhältnis der Zukunft. Aus der Sicht vieler Amerikaner wird das 21. Jahrhundert ein pazifisches Jahrhundert sein. Barack Obama sieht sich selbst als ersten „pazifischen“ Präsidenten, gewiss nicht nur, weil er auf Hawaii geboren wurde. Amerika erkennt große wirtschaftliche Potenziale in den Ländern Asiens, sucht dort auch politische Verbündete und verhehlt zugleich eine gewisse Enttäuschung über die Europäer nicht, die in seinen Augen zu uneinig sind und die für die sicherheitspolitischen und militärischen Herausforderungen zu wenig leisten.

Wenn wir Europäer daran festhalten wollen, dass wir die transatlantischen Beziehungen als etwas Essenzielles ansehen, und zwar in politischer wie in ökonomischer Hinsicht, dann müssen wir an diesem Verhältnis arbeiten. Wir müssen dafür etwas tun. Das wird in den nächsten Jahren auch deshalb schwieriger, weil zumindest ein Wettbewerber neu auf die Weltbühne getreten ist: die Volksrepublik China. Ein Vergleich zweier großer Staatsbesuche macht deutlich, wie sich die Welt verändert hat: Als im Sommer 1972 Richard Nixon als erster amerikanischer Präsident China besuchte, kam der mächtigste Mann der Welt in eines der größten Entwicklungsländer. Fast 40 Jahre später, Ende des Jahres 2009, kam Barack Obama zu seinem ersten Besuch in die Volksrepublik China. Mit ihm kam der größte Schuldner der Welt zu seinem größten Gläubiger. Unterschiedlicher hätten sich die Staatspräsidenten der beiden großen Länder nicht begegnen können. Die USA sind immer mehr angewiesen auf ihre Kreditgeber, insbesondere aus China. Amerika kann schon seit langem seinen Kapitalbedarf für die eigene Volkswirtschaft und für die Finanzierung der hohen Defizite seiner Staatshaushalte ohne Asien nicht mehr decken. Allein daraus entstehen neue politische Konstellationen und Abhängigkeiten.

Wir erleben also eine fundamentale Verschiebung der ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisse, und die Finanz­krise beschleunigt das noch einmal. Europäer und Amerikaner haben sich unmittelbar nach Ausbruch der Krise auf mehreren Konferenzen zu einer engen Koopera­tion verpflichtet. Der G-20-Gipfel in Washington (November 2008) und vor allem der Gipfel in Pittsburgh (September 2009) haben große Erwartungen geweckt. Wenn wir uns die beiden Abschlussdokumente ansehen, finden wir dort Vereinbarungen zur engsten Zusammenarbeit zwischen Europa und Amerika. Heute, drei Jahre später, ist davon – zurückhaltend formuliert – nicht viel übrig geblieben. Die Finanzmarktregulierung findet auf beiden Seiten des Atlantiks in ganz unterschiedlicher Weise statt.

Es ist wenig sinnvoll, den Amerikanern daraus Vorwürfe zu machen. Sie werden uns als Gesprächspartner nur ernst nehmen, wenn wir Europäer mit einer Stimme sprechen, wenn wir uns darüber einig sind, was wir für richtig halten und was wir gemeinsam auf den Weg bringen wollen. Das gilt für die Regulierung der Kapitalmärkte, das gilt aber auch für alle anderen Themen, die in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit über den Atlantik gestaltet werden müssen. Deshalb war die Initiative von Bundeskanzlerin Angela Merkel, ­US-Präsident George W. Bush und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2007 so wichtig, den Transatlantic Economic Council (TEC) zu gründen. Wenn wir nach fünf Jahren eine erste Bilanz ziehen, müssen wir ernüchtert feststellen, dass daraus noch nicht das geworden ist, was wir uns gemeinsam vorgestellt haben. Das letzte veröffentlichte Dokument des TEC zählt eine ganze Reihe von richtigen und interessanten Aufgabengebieten auf, die gemeinsam angepackt werden sollten – aber es sind überwiegend Absichtserklärungen. Wir sind weder im Freihandel noch in dem Bemühen um abgestimmte transatlantische Regulierung der Kapitalmärkte weitergekommen, es fehlt bisher auch ein großes erfolgreiches Projekt, ein Leuchtturmprojekt, das diese transatlantische Wirtschaftsbeziehung sichtbar macht für große Teile der Industrie, vielleicht sogar für große Teile der Bevölkerungen.

Vielleicht kann die europäische Erfahrung des Binnenmarktprogramms auf das transatlantische Verhältnis übertragen werden. Wer heute die Frage stellt, warum die Einführung dieses Projekts so erfolgreich war, der wird feststellen, dass ein wesentlicher Teil dieses Erfolgs mit einer vordergründig ganz unpolitischen Initiative möglich war, nämlich mit der Harmonisierung technischer Normen. Diese Harmonisierung könnte auch einen entscheidenden Impuls für die transatlantische Zusammenarbeit geben. Die Definition und Einführung technischer Standards entscheiden heute über den globalen Markterfolg von morgen.

Ganz ohne Zweifel ist China für uns Deutsche ein sehr attraktiver Markt. Wir haben keine größeren historischen Vorbelastungen miteinander, die Chinesen mögen die Deutschen – noch mehr mögen sie deutsche Produkte, Standards und technologische Innovationen. Dies ist für uns ein faszinierender großer Markt. Aber unverändert ist der transatlantische Handel für Europäer und Amerikaner von wesentlich größerer Bedeutung, er macht ein Drittel des globalen Warenhandels und fast die Hälfte des globalen Dienstleistungshandels aus. Europa verkauft immer noch doppelt so viele Güter in die USA wie nach China, die Wirtschaftskraft Amerikas ist immer noch um den Faktor fünf größer als die Wirtschaftsleistung der Volksrepublik.

Vor allem aber verbindet Amerika und Europa eine Wertegemeinschaft: Demokratie und Menschenrechte, Meinungs- und Religionsfreiheit, Freiheits- und Bürgerrechte sind die unverzichtbaren Bestandteile unserer offenen Gesellschaften. Es gibt auf der Welt keine Demokratie ohne Marktwirtschaft. Aber es gibt mittlerweile eine ganze Reihe von marktwirtschaftlich offenen Staaten, die nach wie vor keine Demokratien sind. Wenn wir unseren Anspruch, eine Wertegemeinschaft zu sein, wirklich ernst meinen, dann hat das transatlantische Verhältnis weiterhin eine überragende Bedeutung.

Die Bürger auf beiden Seiten des Atlantiks werden der Politik für eine vertiefte Zusammenarbeit nur dann ein Mandat geben, wenn sie erkennen, dass Fortschritte der ökonomischen Integration beiden Seiten nutzen und zugleich einem übergeordneten politischen Ziel dienen. Auch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, Binnenmarkt und Währungsunion standen immer im Dienst einer europäischen Friedens- und Freiheitsordnung. Dies ist in Europa verstanden und gelungen. Wenn uns das im globalen Maßstab auch gelingen soll, dann gibt es Grund genug, vertieft darüber nachzudenken, wie wir die Wertegemeinschaft mit unseren amerikanischen Freunden erneuern und vertiefen.

Friedrich Merz ist Vorstandsvorsitzender der Altantik-Brücke e.V.

Bibliografische Angaben

IP Länderporträt 2, Juli/ August 2012, S. 5-7

Teilen