Armes, reiches Land
Was zu tun ist, damit Argentinien sein Potenzial wieder entfalten kann
Anfang des 20. Jahrhunderts schwärmte man in Europa gern vom sagenhaften Reichtum Argentiniens. „Riche comme un argentin“, hieß es damals in Frankreich. Hundert Jahre später, Anfang 2002, erlebte das Land einen veritablen Staatsbankrott. Wie lässt sich das erklären? Und was ist jetzt zu tun, damit Argentinien sein Potenzial wieder entfalten kann?
Als Argentinien Anfang 2002 die Bedienung seiner Schulden aussetzte, die Konten einfror und in eine tiefe Rezession schlidderte, da kursierte unter Volkswirten weltweit ein Bonmot: Es gebe kapitalistische und kommunistische Länder – und dann gebe es noch Argentinien. Ein Land, das sich sämtlichen bekannten volkswirtschaftlichen Erklärungsmustern entzieht.
Mit der Pampa hat Argentinien eines der fruchtbarsten Landwirtschaftsgebiete überhaupt. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg verfügte man über eine nutzbare Fläche von 24 Millionen Hektar; damals galt das Land als „granero del mundo“, als Kornkammer der Welt. Zuvor hatte man in Argentinien Erdöl gefunden. Und mit „Vaca Muerte“ findet sich hier eines der wohl größten Schiefergasvorkommen der Welt.
Als achtgrößtes Land der Welt hat Argentinien eine schier endlose Küste im Südatlantik, mit Chile teilt es sich mehrere tausend Kilometer Anden, und beide Länder sind die einzigen direkten Anrainerstaaten der Antarktis – ein geostrategischer Vorteil von bislang noch unterschätzter Bedeutung. Das Stadtzentrum der Hauptstadt Buenos Aires mutet an wie eine attraktive Mischung aus südeuropäischen Metropolen mit ein bisschen Paris und London. Nirgends in Lateinamerika scheint Europa so nah wie hier. Und so gehörte Argentinien noch Mitte des 20. Jahrhunderts zu den vielversprechendsten Ländern, galt der Peso – nach dem Dollar und neben dem Pfund Sterling – als stabilste Währung der Welt.
Gut ein halbes Jahrhundert später lebt ein Drittel der 44 Millionen Argentinier in bitterer Armut, so eine Studie der Katholischen Universität (UCA) vom März 2017. Längst hat man seine Führungsrolle in der Region abtreten müssen an Brasilien – und begnügt sich jetzt im Wirtschaftsverbund Mercosur nolens volens mit der Rolle des Juniorpartners.
Raus aus der Isolation
Am 1. Dezember 2017 übernimmt Argentinien von Deutschland zum ersten Mal den Vorsitz der G20-Staatengruppe. Man darf aufatmen, dass mit Staatspräsident Mauricio Macri am Rio de la Plata ein Mann an der Regierung ist, der zumindest eine Vision davon hat, wohin er sein Land führen möchte: Politisch raus aus Selbstverzwergung und Isolation, zurück in den Kreis zukunftsorientierter Staaten; wirtschaftlich wieder auf den Pfad des Wachstums – durch Öffnung, Modernisierung und Investitionen. Ob das dem studierten Ingenieur, reichen Unternehmersohn, ehemals erfolgreichen Fußballmanager und langjährigen Oberbürgermeister der Hauptstadt alles gelingt, ist freilich noch offen. Die von Macri gegründete Partei „Pro“ ist Teil des Regierungsbündnisses „Cambiemos“, das aber weder im Abgeordnetenhaus noch im Senat über eine Mehrheit verfügt.
Im Oktober muss der Präsident die ersten Wahlen bestehen, bei denen die Hälfte der Abgeordnetenkammer und ein Drittel des Senats erneuert wird. Umfragen zeigen, dass Mitte 2017, also nach gut eineinhalb Jahren Regierungszeit, etwa die Hälfte der Bevölkerung noch hinter Macri und seiner Regierung steht. Aber das schwere wirtschaftliche Erbe schließt spektakulär schnelle Erfolge ebenso aus wie eine Weltwirtschaftslage, die nicht mehr die Wachstumsdynamik von vor zehn Jahren hat.
Die Macri-kritische Hälfte der Argentinier ist zwar politisch alles andere als homogen, steht aber wirtschaftlich mindestens zu einem erheblichen Teil für das Modell des Pampa-Protektionismus, der staatlichen Einmischung und systematischen Abschottung in möglichst vielen Bereichen. Darunter sind nicht nur Arbeiter, Staatsbeamte und Arbeitslose, sondern auch ein erheblicher Teil der argentinischen Unternehmerschaft, der immer wieder erlebt hat, dass es sich für viele Produzenten nicht schlecht lebt in einem kleinen, aber abgeschotteten Markt, wo sich dank fehlenden Wettbewerbs satte Gewinne erzielen lassen.
Ein Preisvergleich mit Chile zeigt das deutlich: Kauft man in Santiago einen Samsung-Fernseher für knapp 700 Dollar, so kostet das gleiche Modell in Buenos Aires – zusammengesetzt in der Sonderwirtschaftszone Feuerland und von dort Tausende Kilometer nach Buenos Aires gekarrt – fast 2500 Dollar. Für Damenjeans bezahlt man in der argentinischen Hauptstadt sogar das Achtfache im Vergleich zu Chile. Das Land mit den meisten Feiertagen in der Region leistet sich ungeheuer hohe Frachtkosten bei einer Infrastruktur, die obsolet ist.
Gegen alle Wirtschaftsregeln
Bislang scheint das Vertrauen des Auslands in die Fähigkeiten des potenziell steinreichen Landes, nach allen politischen und wirtschaftlichen Krisen immer wieder auf die Füße zu kommen, ungebrochen. Und tatsächlich ist die ökonomische Regenerationskraft Argentiniens auch immer wieder erstaunlich. Neu ist aber, dass eine Regierung über einen so langen Zeitraum systematisch alle wirtschaftlichen und finanzpolitischen Regelwerke derart außer Kraft gesetzt hat, wie es das Ehepaar Kirchner von 2003 bis 2015 tat.
Wirtschaftspolitisch schwebte beiden ein vorgeblich autarkes, in Wirklichkeit aber abgeschottetes Land vor. Außenpolitisch ging es um eine vermeintliche Abnabelung von Europa und den Vereinigten Staaten, was mit einer Hinwendung zu Venezuela unter Hugo Chávez und dem Aufbau eines Integrationsbündnisses der lateinamerikanischen Linksregierungen einherging. Innenpolitisch wurden – erst vorsichtiger, dann immer offener – politisch Andersdenkende verfolgt. Besonders die mit den Kirchners nicht sympathisierenden Teile der Justiz und der Presse erlebten eine beispiellose Hetzjagd, vergleichbar nur mit der unter der Regierung Juan Domingo Peróns (1946–1955) und in den ersten Jahren der Militärjunta unter General Videla (1976–1981).
Zweifellos hat aber auch das Zusammenspiel all dieser Faktoren dazu geführt, dass ein Mann wie Mauricio Macri bei den Präsidentschaftswahlen 2015 überhaupt im zweiten Wahlgang gewinnen konnte: Im allerletzten Moment entwand sich eine Mehrheit der Argentinier der von Cristina Kirchner betriebenen Chávisierung Argentiniens. Aber auch da muss man sich fragen: Wie ist es überhaupt möglich, dass ein großer Teil der argentinischen Gesellschaft dieses Modell so lange mittrug – und eine nicht zu verachtende Minderheit ihm noch immer nachhängt?
Feuerwerk an sozialen Wohltaten
Jeder Erklärungsversuch der Irrungen und Wirrungen der argentinischen Geschichte kommt um zwei Personen nicht herum: General Juan Domingo Perón und seine glamouröse zweite Gattin, Eva María Duarte de Perón, genannt Evita.
Perón gelangte durch einen Militärputsch im Juli 1943 an die Macht. Anfang 1946 zum Präsidenten gewählt, baute er Argentinien zielstrebig um in einen korporativen Staat. Die alten politischen und wirtschaftlichen Eliten wurden systematisch entmachtet, und mit den im Zweiten Weltkrieg erwirtschafteten riesigen Exporterlösen entfachte Perón ein Feuerwerk an sozialen Wohltaten. Die wichtigsten Machtpfeiler Peróns und seiner „Partido Justicialista“ (Gerechtigkeitspartei) waren die Gewerkschaften und die Streitkräfte. Evita wiederum war die schöne, volksnahe „Verkäuferin“ des peronistischen Gedankenguts.
Doch verschenken kann man nur, solange man etwas hat. Und um die Wende von den 1940er zu den 1950er Jahren wurde klar, dass auch die Reserven eines steinreichen Landes irgendwann einmal zur Neige gehen, wenn man zu viel ausgibt und mit einer nur national orientierten, stark staatssozialistisch geprägten Wirtschaftspolitik immer weniger einnimmt.
Mit seiner 1949 verabschiedeten Verfassung hatte Perón einen Weg eingeschlagen, den er selbst gern als „Dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus interpretierte. Das Privateigentum wurde nicht abgeschafft, aber der Staat intervenierte massiv in allen Bereichen. Peróns Lieblingsgegner waren die „Estancieros“, Großagrarier mit teilweise riesigen Besitzungen. Um möglichst rasch an Geld zu kommen, hatte Perón schon 1946 die Besteuerung der landwirtschaftlichen Exporte eingeführt. Anfang der fünfziger Jahre erschöpfte sich aber diese Geldquelle, die Erträge gingen zurück; in Argentinien wurde tatsächlich der Weizen knapp. Hätte all das ausgereicht, um Perón zu stürzen? Wohl kaum. Aber Perón legte sich ausgerechnet mit der katholischen Kirche an. In einem Land mit einer Immigration aus mehrheitlich katholischen Ländern wie Spanien und Italien schweißte erst das die heterogene zivile wie militärische Opposition entscheidend zusammen. Im September 1955 gelang es ihr, Perón zu stürzen. Doch das Bündnis aus stramm antiperonistischen Zivilisten, aus enttäuschten katholischen Konservativen, aus einem katholischen Teil des Heeres und einer mehrheitlich antiperonistischen Marine hielt nur kurze Zeit. Perón wiederum hatte man großzügig ins Exil entlassen.
Zwischen 1955 und 1973 kam Argentinien nicht zur Ruhe: Zivilregierungen und Militärregierungen wechselten sich ab. General Lanusse, Präsident von 1971 bis 1973, erlaubte Perón dann die Rückkehr. Nach einem spektakulären Wahlsieg im September 1973 regierte er noch bis zu seinem Tode am 1. Juli 1974. Zuvor hatte er seine dritte Frau Estela Martínez de Perón, genannt Isabelita, zur Vizepräsidentin gemacht. Hoffnungslos überfordert, konnte Isabelita nicht verhindern, dass Argentinien in bürgerkriegsähnliche Zustände schlidderte.
Die dunkle Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 hat niemand so anschaulich geschildert wie der Publizist, Diplomat und Geheimdienstchef unter Carlos Menem Juan B. Yofre in seinem Buch „Fuimos todos“ (Wir waren es alle). Und in „Nadie fue“ (Keiner war es) enthüllte Yofre die internen Machtkämpfe innerhalb des Peronismus Anfang der siebziger Jahre. Es war eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod zwischen der traditionellen „rechten“ Linie, linken Abweichlern und den „Montoneros“, der argentinischen Stadtguerilla.
Narrativ ohne gemeinsamen Nenner
Ist das heute noch wichtig? Ja, denn es geht um die Deutungshoheit der argentinischen Geschichte – eine Auseinandersetzung, die anhält und das politische Klima immer wieder aufs Neue vergiftet. Das „alte“ Argentinien der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte ein Narrativ, dessen roter Faden der Aufstieg in den Kreis der angesehenen und wichtigen Nationen der Welt war. Das „neue“ Argentinien seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat verschiedene Narrativstränge – ohne gemeinsamen Nenner.
Eine schonungslose Auseinandersetzung mit den Jahren der Perón-Herrschaft blieb aus: Man war entweder für oder gegen ihn – basta. Mit der Zeit der Militärdiktatur zumindest setzte sich der 1983 demokratisch ins Amt gewählte Präsident Raúl Alfonsín auseinander. Die Bilder der Verfahren gegen die führenden Köpfe der vier Militärregierungen gingen um die Welt.
Doch so spektakulär dieser Präsident sich bei der Aufarbeitung der Militärdiktatur durchsetzte, so spektakulär scheiterte er wirtschaftlich. Am Ende entglitt ihm die Inflation so vollständig, dass er seinen gewählten Nachfolger, den Peronisten Carlos Saúl Menem, um vorzeitige Regierungsübernahme bat. Menem verordnete dem Peronismus eine Kompletterneuerung. Dabei wurde die Macht der peronistischen Gewerkschaften beschnitten und gleichzeitig eine riesige Privatisierungswelle angeschoben. Das betraf die Luftfahrtgesellschaft, die Wasserwerke, Strom, Gas, Transport und vieles mehr. Ausländische Firmen gaben sich die Klinke in die Hand. Für die Landwirtschaft brachten die Menem-Jahre einen Boom ohnegleichen, denn er schaffte die Exportzölle auf die Agrarausfuhren ab, was einen erheblichen Innovationsschub nach sich zog.
Wesentlicher Bestandteil des Aufschwungs war die Bindung des Peso an den Dollar im Verhältnis eins zu eins. Das suggerierte eine Scheinsolidität, die ein großer Teil der inflationsgeplagten Argentinier sehr zu schätzen wusste. Spätestens als die Auswirkungen der mexikanischen Tequila-Krise im Frühjahr 1995 durch Lateinamerika schwappten, hätte man allerdings die einseitige Dollarbindung in die Anbindung an einen Währungskorb überführen müssen. Das geschah nicht, und so nahm das Schicksal seinen Lauf: Der Peso wurde zu teuer, die Einnahmen aus den Exporten konnten das nicht auffangen. Gleichzeitig verschuldete sich Argentinien immer mehr, ein Risiko, das im Ausland – auch wegen der Dollarbindung – nicht richtig eingeschätzt wurde.
Auf Menem folgte eine Reihe von schwachen Präsidenten, bevor dann von Anfang 2002 bis 2003 der Peronist Eduardo Duhalde die Regierung übernahm. Dessen größter Fehler war es, 2003 Néstor Kirchner den Weg zur Macht frei zu machen. Dem neuen Präsidenten kam zunächst der Boom der Weltwirtschaft zuhilfe. Er riss auch Argentinien nach oben: Wachstumsraten um die 10 Prozent wurden zur Norm. Ein Umschuldungsdiktat, das Kirchner den Gläubigern aufnötigte, verschaffte dem Land an der Schuldenfront eine – trügerische – Verschnaufpause. Als die Inflation wieder anzog, ließen die Kirchners die Zahlen der statistischen Behörde (INDEC) fälschen. An das Einfrieren der Preise für Strom, Wasser und Gas haben sich die Argentinier gern gewöhnt. Die unpopuläre Rechnung dafür zahlt heute die Regierung Mauricio Macris.
Gemischte Zwischenbilanz
Gleich nach seinem Amtsantritt schuf Macri in kurzer Zeit neue Fakten: Der Devisenmarkt wurde freigegeben, der Peso abgewertet, und mit dem verbliebenen Alt-Gläubiger-Kreis fand man ein Arrangement. Daneben öffnete Macri den Markt für Importe und führte die Gas- und Strompreise wieder an kostendeckende Tarife heran. Das provozierte, wie nicht anders zu erwarten, eine schwere Rezession: 2016 sank das Bruttoinlandsprodukt auf – 2,3 Prozent.
Das hat sich seit Anfang diesen Jahres verändert: Durch den Sog der exportstarken Agrarindustrie zieht die Wirtschaft wieder vorsichtig an. Sie dürfte ihre Exporte 2017 auf knapp 130 Millionen Tonnen steigern; 2014 waren es noch 95 Millionen Tonnen. Positiv wirkt sich auch aus, dass die Bauwirtschaft langsam wieder in Gang kommt – allerdings ist bislang noch der öffentliche Sektor der wesentliche Treiber. Nicht gut sieht es in der verarbeitenden Industrie aus, wo die meisten Zweige weiter im Minus sind. Im Automobilsektor ist das Bild widersprüchlich: Der Absatz steigt, allerdings sinkt die Produktion im Land, während der Import boomt. Generell hat sich der Konsum bis Mitte 2017 noch nicht erholt. Nach wie vor sind argentinische Produkte viel zu teuer. Darunter leiden vor allem die Grenzregionen, in denen die Menschen sich damit behelfen können, auf der anderen Seite einzukaufen. Bedenklich hoch bleibt das Staatsdefizit: 7 Prozent des BIP. Die Inflationsrate, in den Kirchner-Jahren konsequent künstlich nach unten manipuliert, betrug 2016 über 40 Prozent. Für dieses Jahr nähert sie sich der 25-Prozent-Marke. Von dem wachsenden Unbehagen profitieren vor allem die peronistischen Gewerkschaften, die Anfang April die Hauptstadt durch einen Generalstreik lahmlegten – just an dem Tag, als Macri die globale Wirtschaftselite zur Lateinamerika-Tagung des Davoser Weltwirtschaftsforums eingeladen hatte. Dabei ging es um die Fragen, wie die Region mit den gesunkenen Rohstoffpreisen umgehen kann und welche Chancen und Herausforderungen die Digitalisierung für die Industrien des Kontinents bringt.
Und dann ist da noch das Thema organisiertes Verbrechen. Hier hat die Regierung Macri ein besonders schweres Erbe angetreten. Die Aufgabe wird nicht leichter dadurch, dass gerade in den Armenvierteln um die Hauptstadt herum – dem so genannten „Gran Buenos Aires“ – die Komplizenschaft staatlicher Sicherheitsinstitutionen mit Händen zu greifen ist. Die Regierung Macri hat deshalb schon mehrere Anläufe zu Säuberungen gestartet. Vieles deutet darauf hin, dass der Sieg von María Eugenia Vidal bei der Wahl zur Gouverneurin der Provinz Buenos Aires, traditionell einer Hochburg des Peronismus, damit zu tun hatte: Der peronistische Kandidat war zu massiv in den Drogenhandel verstrickt. Eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht, zumal der Einfluss der Drogenbarone und des organisierten Verbrechens in vielen Ländern Lateinamerikas in erschreckendem Ausmaß wächst. Argentiniens Regierung strebt zur Bewältigung des Problems eine engere Zusammenarbeit mit deutschen und europäischen Stellen an.
Zauberworte Transparenz und Bildung
Marktliberale Kritiker werfen Macri vor, bei seinen Strukturreformen bisher nicht mutig genug gewesen zu sein. Seine Unterstützer wiederum behaupten, der Präsident müsse behutsam vorgehen, um das Vertrauen großer Bevölkerungsteile nicht aufs Spiel zu setzen. Dabei steht außer Frage, dass es einem Teil der Argentinier im unteren sozialen Segment ausgesprochen schlecht geht. Allerdings hat Argentinien schon von 2012 bis 2015 vier Jahre der Stagflation durchgemacht. Trotz immer höherer Steuern verringerte sich das Staatsdefizit. Durch das schlecht gemachte Gläubigerdiktat war das Land vom internationalen Kreditmarkt abgeschottet. Die Wechselkurs- und Preismanipulationen führten zu völlig verzerrten Preisen. Das einzig Gute: Die neue Regierung fand eine niedrige Auslandsverschuldung von Staat und Unternehmen vor. Der Vorrat an Kapitalreserven in der Privatwirtschaft war hoch, weil kaum noch jemand investierte.
Eine dauerhafte Lösung für Argentiniens wirtschaftliche Probleme ist nur möglich, wenn es gelingt, die Argentinier zu überzeugen, selbst in ihrem Land zu investieren. Die Schätzungen über ihre in Jahrzehnten angelegten Schwarzgeldkonten gehen in die Milliarden. Durch die immer stärkeren Kontrollen in den klassischen „Schwarzgeldparadiesen“ wurde es allerdings auch für die Argentinier immer schwieriger, ihr Geld dort unbehelligt liegen zu lassen. Das erklärt auch den großen Erfolg, den Macri mit seiner ersten Steueramnestie hatte: Sie erbrachte fast 117 Milliarden Dollar, 80 Prozent davon im Ausland angelegt. Für Finanzminister Nicolás Dujovne ist das nicht nur ein Vertrauensbeweis für die Regierung, sondern für das ganze Land.
Zudem kann die Regierung eine Reihe internationaler Investitionszusagen verbuchen. So hat Mercedes angekündigt, 150 Millionen Dollar in den Ausbau der Van-Produktion in Argentinien stecken zu wollen, und der Siemens-Konzern hat dort erst kürzlich einen 570 Millionen-Dollar-Auftrag für die Lieferung mehrerer Wärmekraftwerke bekommen und auch gleich einen Teil des Finanzierungsrisikos übernommen. Bei einem Besuch im Herbst vergangenen Jahres hatte Siemens-Chef Joe Kaeser angekündigt, in Argentinien fünf Milliarden Euro investieren zu wollen. Bis 2020 will der Konzern sein bisheriges Geschäftsvolumen am Rio de la Plata verdoppeln. Dabei will Siemens sich die günstigen Rahmenbedingungen der neuen PPP-Gesetzgebung in Argentinien zunutze machen. Ausgesprochen interessant könnte das Land auch für deutsche Windenergieunternehmen werden.
Allerdings werden gerade deutsche Firmen nur dann mitmachen können, wenn es Transparenz bei den Ausschreibungen gibt. Macri hat dieses Thema zu einer seiner Prioritäten erklärt. Bisher belegt Argentinien im Korruptionsindex von Transparency International Rang 95 von 176 Ländern. Die zahlreichen Korruptionsaffären der Kirchner-Zeit haben dem Ansehen des Landes nachhaltig geschadet. Mehr Transparenz will die Regierung Macri auch dadurch erreichen, dass bis Ende 2017 alle Ausschreibungen über das Internet abgewickelt werden; entsprechende Gesetzesentwürfe werden schon in den Parlamentsausschüssen diskutiert. Die OECD fordert, dass auch das Unternehmensstrafrecht an ihre Antikorruptionsrichtlinie angepasst werden müsse. Das wäre ein wichtiger Schritt in Richtung einer OECD-Mitgliedschaft, die in Lateinamerika bisher nur Mexiko und Chile inne haben.
Ein traditioneller Aktivposten in den deutsch-argentinischen Beziehungen ist das Engagement deutscher Firmen am Rio de la Plata für das duale System. Die dortige Industrie- und Handelskammer (IHK) hat das System in den zurückliegenden Jahren um diverse Ausbildungsstränge ergänzt und die Kooperation mit den deutschen Firmen im Mercosur vertieft. Für die Argentinier ist das Gold wert, denn gut 40 Prozent von ihnen sind unter 25 Jahre alt – Ausbildung wird also einer der wichtigsten Schlüssel für eine gute Zukunft sein.
Allerdings ist das staatliche argentinische Schulwesen, das vor gut hundert Jahren als vorbildlich für die ganze Region galt, längst nicht mehr das, was es mal war. Hinzu kommt, dass die mehreren Millionen Zuwanderer aus den benachbarten Ländern, etwa Bolivien und Paraguay, das Durchschnittsniveau in der beruflichen Bildung gedrückt haben, kommen sie doch aus Staaten ohne entsprechende Traditionen. Ausbildung wird zum Zauberwort eines argentinischen Aufschwungs werden – und da ist das deutsche Angebot gut sortiert.
Wie ein Klotz am Bein
Auch andere Länder bieten den Argentiniern Zusammenarbeit zu guten Konditionen an, so etwa China. Bevor Macri Argentinien wieder den Zugang zum internationalen Kapitalmarkt öffnete, war China in den letzten Kirchner-Jahren zu Argentiniens einzigem ausländischem Financier geworden. Einige dieser Arrangements hängen den Argentiniern jetzt wie ein Klotz am Bein, so die Weltraumbasis in der rohstoffreichen Provinz Neuquén, die Kirchner den Chinesen für 50 Jahre einfach abgetreten hat, oder der Bau zweier technisch völlig veralteter Wasserkraftwerke in der Provinz Santa Cruz, einer Kirchner-Hochburg. Und die Chinesen haben den Argentiniern auch schon Daumenschrauben angelegt: Wenn die unter Kirchner unterzeichneten Abkommen nicht umgesetzt würden, könne Peking seinen Bedarf an landwirtschaftlichen Produkten auch in größerem Umfang als bisher in Brasilien decken.
Freilich ist die Lage in Brasilien derzeit alles andere als einfach. Das schafft auch für Argentinien erhebliche Probleme, schließlich sind die beiden Volkswirtschaften eng verzahnt: Ein Aufschwung in Brasilien, und wäre er noch so zaghaft, hätte sofort positive Auswirkungen am Rio de la Plata. Im Übrigen schwappt der Skandal um die Schmiergelder des brasilianischen Baukonzerns Odebrecht nun auch nach Argentinien: Protagonisten des Kirchnerismus sind bis zur Halskrause darin verwickelt. Allerdings hat sich die argentinische Justiz bisher weniger schnell und effizient als die brasilianische erwiesen; sonst säßen Frau Kirchner und ihre Entourage wohl schon längst im Gefängnis.
Schon lange wollen Argentinien und Brasilien die fehlende Dynamik des Mercosur durch ein Abkommen mit der Europäischen Union aufbrechen. Seit viel zu vielen Jahren liegt das auf Eis. Nun möchte Macri dieses Abkommen in seiner G20-Präsidentschaft vorantreiben. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht, denn die Entwicklung in den Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump drängt die Südamerikaner dazu, Optionen zu suchen. Dazu gehört auch, dass Macri eine engere Anbindung der Mercosur-Staaten an die Staaten der Pazifischen Allianz sucht, an Chile, Peru, Kolumbien und Mexiko. Das wäre ein Schritt hin zu mehr Integration der Region im Rahmen eines Konzepts offener Märkte.
Dr. Hildegard Stausberg ist Publizistin und langjährige Lateinamerika-Korrespondentin der Faz und der Welt.
IP Wirtschaft 2, Juli - Oktober 2017, S. 6 - 13