IP Special

30. Dez. 2024

Ankaras Balanceakt zwischen den Blöcken

Stammplatz im Westen mit Beinfreiheit: Wie die Türkei in flexiblen Koalitionen und Partnerschaften durch turbulente Zeiten navigiert.


Wenige Nachbarn der EU spielen für die deutsche Politik eine so zentrale Rolle wie die Türkei. Ihre strategische Lage, ihre Mitgliedschaft in der NATO und ihr wachsendes außenpolitisches Gewicht in den angrenzenden Regionen – im Schwarzen Meer, in Zentralasien, im östlichen Mittelmeer und in Afrika – machen sie ebenso zu einem Schlüsselakteur wie ihre Rolle als Transitland für Energie.

Aus diesen geopolitischen Voraussetzungen speist sich das derzeit so oft und gern demonstrierte Selbstbewusstsein Ankaras. Die Türkei hat in der vergangenen Dekade ihre Präsenz in der internationalen Politik deutlich ausgebaut und versucht, ihre regionale und globale Reichweite zu vergrößern. 

Das wachsende Streben regionaler Mächte wie der Türkei nach mehr Kontrolle über die Gestaltung der globalen Neuordnung und nach größerem Einfluss auf bestimmte Ereignisse ist ein Trend in der internationalen Politik. Diese Mächte wollen flexibel auf geopolitische Herausforderungen reagieren und eine komplett eigenständige Interessenpolitik betreiben. Sie wollen selbst entscheiden, mit wem sie Partnerschaften und Allianzen eingehen. Und: Sie lehnen es ab, in die Großmachtrivalität zwischen den USA und China hineingezogen zu werden und wollen sich nicht auf ein Lager festlegen. 


Angst vorm Abdriften

Im Grunde bestimmt dieser Trend seit zwei Jahrzehnten die Grundzüge der türkischen Außenpolitik. Dieses als „Abdriften“ empfundene Vorgehen wirft in den europäischen Hauptstädten die Frage auf, ob die Türkei ein verlässlicher Partner bleibt, der fest in den westlichen Institutionen und Bündnissen verankert ist.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seine seit November 2002 regierende Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) präsentieren das Land nach außen als führende Regionalmacht. Sie bereiten sich auf die neu entstehende multipolare Weltordnung vor und verfolgen eine Strategie der Balance zwischen den politischen Blöcken des „Westens“ und des „Ostens“. Doch wie weit kann die Türkei in ihrem strategischen Balanceakt gehen? Welche außen- und sicherheitspolitischen Mittel setzt sie ein? Wo liegen ihre Grenzen? Und wie wirkt sich der Balanceakt auf die Beziehungen Ankaras zu Europa aus?


Neue Ordnung, neue Türkei

Die „neue“ Türkei unter Erdoğan prahlt gerne mit ihrem regionalen Einfluss und verkündet ihre globalen Ambitionen im Kontext einer ideologischen Vision, die türkischen Nationalismus mit Antikolonialismus verbindet. Nicht umsonst warb Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 erfolgreich mit dem Slogan eines „Jahrhunderts der Türkei“. 

Die türkische Führung fühlt sich unwohl mit der bestehenden internationalen Ordnung, in der dem Westen nach wie vor die Vormachtstellung zukommt, und verweist auf politische und wirtschaftliche Ungleichheiten im globalen System. Kurz: Ankara sieht die nichtwestliche Welt benachteiligt und fordert mehr Mitsprache in internationalen Angelegenheiten.

Die türkische Führung fühlt sich unwohl mit der 
bestehenden, vom Westen dominierten Ordnung

Diese lauter werdende antiwestliche Rhetorik lässt sich auf zwei Annahmen der türkischen Regierung zurückführen. Erstens gehen Erdoğan und die politische Führung in der Türkei davon aus, dass sich der Westen im Niedergang befinde. Sie postulieren, dass die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Säulen des geopolitischen Westens zusammengebrochen seien. Das unipolare Weltsystem, in dem die USA als Führungsmacht dieses geopolitischen Westens dominierten, gehe zu Ende, und die Welt stehe am Beginn einer multipolaren Ordnung. In dieser neuen Ordnung bilden sich neue Machtzentren heraus, und der Rest erhebt sich gegen den Westen. 

Zweitens wird Ankara nicht müde zu betonen, dass sich nicht nur die Bedingungen der internationalen Beziehungen verändert hätten, sondern auch die Akteure, die die Logik dieser Beziehungen bestimmen. Die multilateralen Organisationen wie die Vereinten Nationen, die Welthandelsorganisation oder die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung seien geschwächt; ihre Effizienz stehe infrage. 


„Die Welt ist größer als fünf“

Das ist der Hintergrund für die wiederkehrenden Tiraden von Präsident Erdoğan gegen den Westen und seine Kritik an der internationalen Ordnung. „Die Welt ist größer als fünf“ lautet sein Slogan, der sich auf die Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats bezieht, die in zentralen geopolitischen Fragen meist gegensätzliche Positionen vertreten. 

Die türkische Führung strebt eine grundlegende Veränderung im UN-System an und glaubt, eine politische Führungsrolle für die nichtwestliche Welt übernehmen zu können. Sie möchte, dass ihre Souveränität und ihre Sicherheitsinteressen von den internationalen Organisationen stärker anerkannt werden. Angesichts der Ineffektivität der etablierten multilateralen Organisationen setzt Ankara in wachsendem Maße auf diplomatische Ad-hoc-Formate und regionale Kooperationsforen. 

Die Türkei wird als Energiekorridor für die Versorgung Europas mit Erdöl und Erdgas aus den Ländern Zentralasiens und des Nahen Ostens wichtiger

Erdoğan und seine Regierung haben der türkischen Außenpolitik ein neues Selbstverständnis gegeben: Multidimensional und selbstbewusst interagiert die Türkei mit ihren alten und neuen Partnern, ohne sich auf ein bestimmtes Lager festzulegen. Ankaras außen- und sicherheitspolitischer Aktionsradius und sein internationales Engagement zeugen von den Ambitionen einer Mittelmacht. Wie andere Mittelmächte konzentriert sich die Türkei in ihrer Außenpolitik primär auf ihre wirtschaftliche Entwicklung, auf die Stabilität und die nationale Sicherheit sowie auf die Erweiterung ihrer strategischen Autonomie.


Logistische Drehscheibe

Hinzu kommt, dass wirtschaftliche Erwägungen eine immer größere Rolle für die türkische Außenpolitik spielen. Nach seiner Ernennung zum Außenminister erklärte Hakan Fidan im Juni 2023, dass „die wirtschaftliche Komponente der Außenpolitik in der kommenden Zeit besondere Aufmerksamkeit erhalten wird“. Neben der Zollunion mit der EU hat die Türkei derzeit Freihandelsabkommen (FTA) mit 23 Nicht-EU-Staaten und bemüht sich um die Beschleunigung weiterer FTA-Verhandlungen mit anderen Staaten und Regionalorganisationen wie dem Golf-Kooperationsrat und Mercosur. 

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Handel als wichtigster Motor der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei erwiesen. So ist der bilaterale Handel der Türkei mit den Ländern des Golf-Kooperationsrats von 2,1 Milliarden US-Dollar im Jahr 2002 auf 22,7 Milliarden im Jahr 2022 angestiegen. Türkische Investitionen erstrecken sich heute vom Nahen Osten bis in den Südkaukasus und vom Westbalkan bis nach Afrika. 

Mit gigantischen Infrastrukturprojekten im Transportwesen will die Türkei sich als logistische Drehscheibe für internationale Wertschöpfungsketten positionieren. Insbesondere die Konnektivität der Landhandelsrouten ist für das Land von erheblichem strategischen Wert, weil sie es Ankara ermöglicht, seine Außenhandelsbeziehungen auszubauen und zu ­diversifizieren. 

Ein weiteres Ziel der AKP-Regierung besteht darin, das Land zu einem wichtigen Standort im regionalen Energiehandel zu machen. Die Türkei gewinnt als Energiekorridor für die Versorgung Europas mit Erdöl und Erdgas aus den ressourcenreichen Ländern Zentralasiens und des Nahen Ostens an Bedeutung. 

In den vergangenen zwei Jahren hat die Türkei Erdgasexportabkommen mit Bulgarien, Rumänien, der Republik Moldau und Ungarn abgeschlossen. 2024 hat das staatliche türkische Energieunternehmen BOTAS mehrere umfangreiche Lieferverträge für Flüssigerdgas mit europäischen und amerikanischen Unternehmen abgeschlossen. Überschüssiges Gas soll nach Europa verkauft werden. Damit positioniert sich die Türkei als Energiehub für die gesamte Region. 

Wenn wir feststellen, dass Sicherheit und Stabilität wichtige Triebkräfte der türkischen Außenpolitik sind, dann gilt das natürlich auch für die Stabilität des Regimes. Doch die äußeren Sicherheitsbedrohungen sind für Ankara von zentraler Bedeutung. Russland, Griechenland, der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien werden als regionale Konkurrenten wahrgenommen, die den Aktionsradius Ankaras begrenzen. 


Aufrüsten und Frieden stiften

In Afrika geht die Türkei militär- und rüstungspolitische Kooperationen ein, um ihren Einfluss gegenüber der Konkurrenz auszubauen. Nach Angaben der Turkish Exporters Assembly haben sich die türkischen Rüstungsexporte nach ­Afrika innerhalb eines Jahres verfünffacht. Vor dem Hintergrund des eigenen ungelösten Kurdenproblems sieht die türkische Regierung ihr Land besonders durch die halbstaatlichen Strukturen der Kurden in Syrien und im Irak bedroht. 

Gleichzeitig versucht Ankara, in regionalen Konflikten zu vermitteln. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 hat sich die Türkei als Vermittler zwischen Kiew und Moskau positioniert. In Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen ermöglichte Ankara den Export von ukrainischem Getreide über das Schwarze Meer. Auch Austausche russischer und ukrainischer Kriegsgefangener hat die Türkei mehrfach organisiert. Zuletzt vermittelte die Türkei auch zwischen Somalia und Äthiopien. 

Der Fokus auf Wirtschaft und Sicherheit ist eng mit dem Streben nach strategischer Autonomie verbunden. Für die Türkei ­bedeutet das vor allem, die Abhängigkeit vom Westen zu reduzieren und ihren Handlungsspielraum gegenüber den traditionellen Verbündeten zu erweitern. Darüber hinaus heißt strategische Autonomie für die Türkei, eingebettet in die Beziehungen zu westlichen Partnern eigene wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen verfolgen zu können. 

Erdoğan hat in seinen zwei Jahrzehnten an der Macht ein antiwestliches Weltbild entwickelt und aus Frustration über EU und USA daran gearbeitet, unabhängiger zu werden. Gleichzeitig ermöglichen die NATO-Mitgliedschaft und die Zollunion mit der EU es Ankara aber auch, mit Konkurrenten wie Russland auf Augenhöhe zu bleiben. Auch das Streben nach mehr heimischer Rüstungsproduktion ist in ­diesem Licht zu betrachten.


Kanonen statt Sanktionen

Die Türkei verfügt über beachtliche Fähigkeiten, unabhängig zu handeln und zwischen den Blöcken des Westens und des Ostens zu lavieren. Mit flexiblen Koalitionen und transaktionalen Partnerschaften navigiert Ankara durch die sich neu konfigurierende internationale Politik. Dieses Ausbalancieren bleibt in einer komplexer werdenden Welt relevant; einer Welt, in der neue intra- und interregionale Partnerschaften eine wichtige Rolle für Handel, Sicherheit und Governance spielen. 

Ankara verurteilte die ­Ukraine-Invasion, weigerte sich aber, die Sanktionen gegen Moskau mitzutragen

Besonders anspruchsvoll ist der Balance­akt Ankaras im Ukraine-Krieg. Einerseits verurteilte Ankara sofort die russische Invasion in der Ukraine und beharrte auf der „territorialen Integrität, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine, einschließlich der Krim“, wie Außenminister Fidan immer wieder betonte. Mit der Ukraine verbindet die Türkei zudem eine enge sicherheitspolitische Kooperation. Bereits vor dem Einmarsch Russlands 2022 verkaufte die Türkei ihre bewaffneten Drohnen (Bayraktar TB2) und gepanzerten Fahrzeuge (BMC Kirpi) an die Ukraine und bezog von dort Motoren und andere Rüstungsgüter. Andererseits weigerte sie sich, an den Sanktionen der anderen ­NATO-Staaten und der Europäischen Union gegen Russland teilzunehmen. Ankara beschränkte sich darauf, die Meerengen, die das Schwarze Meer mit der Ägäis und dem Mittelmeer verbinden, für alle ausländischen Kriegsschiffe zu sperren. Auf diese Weise hat sich die Türkei in eine Position gebracht, in der sie immer noch mit beiden Seiten reden kann.

Ein weiteres Beispiel für den türkischen Balanceakt ist die Annäherung an andere Bündnisse oder Allianzen bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Beziehungen zum Westen. Im September 2024 kündigte die Türkei offiziell ihren Beitritt zum ursprünglich von Brasilien, Russland, Indien und China gegründeten und dann sukzessive um Länder wie Südafrika erweiterten Bündnis BRICS+ an. Sollte die Türkei den BRICS+ als Vollmitglied oder Partner beitreten, wäre sie das erste ­NATO-Mitglied und der erste langjährige EU-Beitrittskandidat, der eine aktive Rolle in einer Organisation spielt, die als Herausforderer westlicher Vorherrschaft gilt.

Durch die Annä­herung an nichtwest­liche Kooperationsformate wie die BRICS+ und die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) will sich Ankara zwischen dem Westen auf der einen und Russland und China auf der anderen Seite positionieren und gleichzeitig in der globalen Machthierarchie aufsteigen. 


Ambition und Potenzial

Die militärischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Kapazitäten der Türkei für diesen Balanceakt sind jedoch begrenzt. Die immer noch nicht vollständig überwundene regionale Isolation des Landes im östlichen Mittelmeerraum, seine angespannte wirtschaftliche Lage, seine Energieabhängigkeit vor allem von Russland sowie das Misstrauen der westlichen Partner, nicht zuletzt aufgrund der türkischen Positionierung im Gazakonflikt, stehen Ankaras Ambitionen im Wege. 

Die türkische Wirtschaft steckt seit Jahren in der Krise. Zwar hat sich der Kurswechsel nach den Präsidentschaftswahlen 2023 hin zu einer restriktiven Geldpolitik zwecks Bekämpfung der hohen Inflation positiv ausgewirkt. Eine erneute politische Kehrtwende zurück zur früheren Niedrigzinspolitik ist jedoch nicht auszuschließen. Aus diesem Grund, aber auch wegen mangelnder Rechtssicherheit bleiben ausländische Investoren zurückhaltend. Politische Instabilität, mangelnde Rechtsstaatlichkeit, fehlende Innovationen und eine instabile Finanzpolitik unterminieren die geopolitischen Fähigkeiten der Türkei.

Während sich die  Türkei als Führungsmacht 
im Nahen Osten sieht, 
wird ihre Rolle von anderen Staaten bisweilen angezweifelt oder nicht anerkannt 

Trotz aller Bemühungen konnte die Türkei als Vermittlerin in regionalen Konflikten nicht die gewünschten Ergebnisse erzielen. Aktivismus und Selbstbewusstsein nach außen gehen nicht immer einher mit den für den Erfolg notwendigen Kapazi­täten und Einflussmöglichkeiten. 

Ankaras Reaktion auf die Angriffe vom 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden Krieg im Gazastreifen wechselte von einer vorsichtigen Haltung zu einer Anti-Israel-
Rhetorik. Darauf folgten mutigere Bemühungen Ankaras, eine führende Rolle bei der Aushandlung eines möglichen Waffenstillstands zu übernehmen und sich als Garant für die Zeit nach dem Krieg im Gazastreifen anzubieten. Keine dieser Bemühungen führte zu greifbaren Ergebnissen. Während sich die Türkei als Führungsmacht im Nahen Osten sieht, wird ihre Rolle von anderen Staaten bisweilen angezweifelt oder nicht anerkannt. 

Für Europa ist die Türkei ein strategisch unverzichtbarer, aber auch mäßig zuverlässiger Partner. In einer fragmentierten und immer stärker transaktional geprägten internationalen Ordnung brauchen die Europäer eine Strategie für die Zusammenarbeit mit einer Türkei, die, wie die anderen Mittelmächte, Machtdynamiken selbstbewusst mitgestaltet. Einerseits besteht die Sorge, die Türkei an Russland und China zu verlieren. Andererseits zögern die EU-Mitgliedstaaten, sich strategisch mit der Tür­kei zu verständigen. 

NATO-Partner und Mitglieder der Europäischen Union werden definieren müssen, was sie von der Türkei in Zukunft erwarten und verlangen. Die Europäer sollten auf der Grundlage gemeinsamer Interessen direkt mit Ankara zusammenarbeiten. Entscheidend ist, dass Brüs­sel, Berlin und Washington die Handlungs­fähigkeit der Türkei als politischen Aktiv­posten anerkennen, statt sie als strategische Belastung zu betrachten.              

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 1, Januar/Februar 2025, S. 36-41

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Themen und Regionen

Dr. Hürcan 
Aslı Aksoy ist Leiterin des Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) an.

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