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01. Apr. 2002

Amerikanischer Anspruch auf Unilateralismus

Nationale Interessen in der US-Außenpolitik

Die Bedrohung durch den Terrorismus nach dem 11. September hat es der Bush-Regierung erlaubt, eine Sicherheitsarchitektur nach amerikanischen Vorstellungen und nationalen Interessen zu schaffen, die durch zwei Elemente charakterisiert ist: die Terrorbekämpfung und die Schaffung neuer regionaler Sicherheitsstrukturen.

Die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik war in den Jahren des Kalten Krieges in ein einfaches, überschaubares und stabiles Regelwerk eingebettet: Die Welt war in zwei Lager gespalten, von denen die Vereinigten Staaten das eine, nämlich das demokratische und kapitalistische, führten. Amerikas Dominanz beruhte auf seiner militärischen Vormachtstellung und auf dem Versprechen, die Freiheit Westeuropas und Japans im Falle eines Krieges mit der Sowjetunion zu verteidigen. Präsident Bill Clinton, der ein Jahr nach dem Zerfall der UdSSR ins Weiße Haus einzog, stand die Richtschnur des Ost-West-Konflikts zur Bestimmung seiner Politik nicht mehr zur Verfügung. In seiner Amtszeit waren die USA gezwungen, ein neues außenpolitisches Konzept zu entwickeln, das nicht länger auf einer äußeren Bedrohung der freien Welt beruhte. Clinton ging davon aus, dass sich die Verbündeten nach dem Zerfall der bipolaren Weltordnung kaum weiterhin vorbehaltlos einer amerikanischen Vorherrschaft unterordnen würden. Deshalb versuchte er, eine globale Wirtschafts- und Sicherheitsstruktur zu errichten, in der internationalen Organisationen, wie den Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation (WTO), eine wachsende Bedeutung zukam. Dieser Rückzug von der Verantwortung ging einher mit einer abnehmenden Neigung der USA, sich in Konflikten wie den Bürgerkriegen in Ruanda und in Bosnien militärisch zu engagieren.

Am Ende der Präsidentschaft Clintons brachten republikanische Politiker ihre wachsende Unzufriedenheit mit der amerikanischen Außenpolitik zum Ausdruck. George W. Bushs spätere Nationale Sicherheitsberaterin, Condoleezza Rice, warf Clinton im Januar 2000 vor, dass er Amerikas nationale Interessen nicht ausreichend definiert und nicht offensiv genug durchgesetzt habe. Stattdessen habe er sich durch kurzfristige krisenhafte Erscheinungen leiten und von den Europäern beeinflussen lassen. Für die Vereinigten Staaten sei jedoch eine außenpolitische Philosophie unabdingbar, die eine klare Vorstellung von den eigenen nationalen Interessen habe.1

Im Einzelnen warfen die Republikaner Clinton vor, dass er die Konfrontation mit amerikafeindlichen Diktatoren wie Saddam Hussein nicht konsequent genug gesucht und auf die Anschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania im Sommer 1998 nicht adäquat reagiert habe. In einem Interview mit der Washington Post hatte Präsident Bush im Dezember 2001 sogar angedeutet, dass Osama Bin Laden einen Angriff auf die USA gewagt habe, weil er sich durch die früheren, von Clinton zu verantwortenden amerikanischen Gegenschläge durch vereinzelte Angriffe mit Marschflugkörpern nicht gefährdet gesehen habe.2

Nationale Interessen haben Vorrang

Des Weiteren habe Clinton Amerikas außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit dadurch unterminiert, dass er 1993 erklärt hatte, dass die USA auf dem Balkan nicht allein eingreifen würden. Damit habe er den Europäern faktisch ein Veto über Amerikas militärische Intervention zugestanden. Die Bush-Regierung würde einen solchen Schritt nicht wiederholen. Sie bestand stattdessen darauf, unilateral, d.h. unabhängig vom Votum der Europäer oder der Vereinten Nationen, handeln zu können. Dies sei republikanisches Credo, so der Politikwissenschaftler William Schneider: „Wir [die USA], nicht die Vereinten Nationen, entscheiden, ob es in unserem nationalen Interesse liegt, Haiti zu demokratisieren oder die Menschen in Somalia zu versorgen. Wir, nicht die NATO, müssen entscheiden, ob es in unserem nationalen Interesse liegt, das Töten in Bosnien zu beenden.“3

Darüber hinaus sah die Bush-Regierung vielfältige akute Gefahren für Amerikas Sicherheit; an erster Stelle die nukleare Bedrohung. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Rakete mit einem Massenvernichtungssprengkopf gegen amerikanische Einheiten oder Interessen eingesetzt wird, sei heute höher als zu irgendeinem Zeitpunkt während des Kalten Krieges und sie werde noch weiter zunehmen, so Robert D. Walpole, CIA-National Intelligence Officer for Strategic and Nuclear Programs anlässlich einer Kongressanhörung im September 2000.4

Zur Bedrohung durch „Schurkenstaaten“ kam noch die durch terroristische Organisationen. CIA-Direktor George Tenet gab im Februar 2001 direkte Hinweise auf die Gefährlichkeit Bin Ladens: Dieser und sein globales Netzwerk von Untergebenen stellten die unmittelbarste und größte Bedrohung dar. Schon 1998 hatte Bin Laden alle amerikanischen Bürger zu legitimen Angriffszielen erklärt.5

Kennzeichen der Außenpolitik George W. Bushs waren von Anfang an, die nationalen Interessen der Vereinigten Staaten zu betonen und auf akute militärische Bedrohungen hinzuweisen, denen sich Amerika durch ausländische Kräfte ausgesetzt sah. Um solchen Gefahren begegnen zu können, lehnte die Regierung eine Einbindung in internationale Abkommen ab, die – wie das Kyoto-Protokoll – vermeintlich negative Folgen für die Wirtschaft der USA mit sich brachten oder – wie der ABM-Vertrag – die Freiheit der Verteidigungsplanung beschnitten.

Wie einst Präsident Ronald Reagan die Vision eines unverwundbaren Amerikas hatte, strebte auch die Bush-Regierung eine größere Sicherheit des Landes durch die Errichtung eines Raketenabwehrschilds an. Für die Befürworter eines solchen Abwehrsystems ging es darum, die außen- und sicherheitspolitische Hand­lungsfähigkeit der amerikanischen Regierung auch in Krisenzeiten aufrecht zu erhalten. Hätten die USA im Golf-Krieg von 1990/91 Kuwait befreien können, wenn der irakische Diktator Saddam Hussein über Atomwaffen verfügt hätte? Wäre die Antiterrorkoalition nach dem 11. September zustande gekommen, wenn Bin Laden glaubwürdig mit dem Einsatz atomarer Sprengköpfe hätte drohen können?

Die nukleare Drohung eines in die Enge getriebenen Diktators oder Terroristenführers, den die Aussicht auf einen atomaren Gegenschlag der USA nicht schreckte, machte das gesamte amerikanische Militärpotenzial auf einen Schlag obsolet. Amerika würde nicht länger in lokalen Krisenherden intervenieren können, wenn es damit seine Städte der Gefahr eines Atomangriffs aussetzte. Das Konzept der gegenseitigen nuklearen Zerstörungsfähigkeit, das Sowjetführer von einem Angriff auf Amerika abgehalten hatte, machte aus Sicht der Bush-Regierung heutige Diktatoren und Terroristen nicht zwangsläufig zu rational agierenden politischen Akteuren.

Damit wurde bereits vor dem 11. September deutlich, dass die Bush-Regierung ihre außenpolitische Aufgabe grundsätzlich anders verstand als ihre Vorgängerin. Der Ansatz Bushs lag darin, eine Führungsrolle in der internationalen Politik zu übernehmen, die der tatsächlichen überragenden wirtschaftlichen und militärischen Bedeutung Amerikas entsprach. Dennoch waren die westeuropäischen Regierungen, die Anfang der neunziger Jahre Clintons zögerliche Haltung im Bosnien-Konflikt beklagt hatten, nicht glücklich über die Politik des republikanischen Präsidenten. Aus europäischer Sicht werden die USA ihrem unilateralen Anspruch nicht gerecht, weil sich Amerika nicht zum Anwalt einer allgemeinen Friedens- und Wohlstandsordnung gemacht hat, die – wie in den Jahren des Kalten Krieges – den Führungsanspruch des Landes rechtfertigen würde. Stattdessen verfolgt Washington ausschließlich nationale Interessen und legt wenig Wert auf die Meinung der Verbündeten. Die amerikanische Zurückweisung des Kyoto-Protokolls und die Aufkündigung des ABM-Vertrags machten dies ebenso deutlich wie die Ausweitung des Kampfes gegen den Terrorismus in eine Auseinandersetzung mit einer „Achse des Bösen“.6

Rückkehr zur Führungsmacht

Auf den ersten Blick scheint es, als hätten die USA nach dem Terrorangriff vom 11. September den Handlungsspielraum wieder verloren, den sie mit dem Ende des Kalten Krieges gewonnen hatten. Doch das genaue Gegenteil ist der Fall: Im Kalten Krieg waren die Vereinigten Staaten als unbestrittene westliche Führungsmacht frei, die Politik zu bestimmen. Sie konnten in Vietnam Krieg führen und gleichzeitig Abrüstungsvereinbarungen wie den SALT-I-Vertrag unterzeichnen. In den Jahren der Clinton-Regierung war dies anders. Ohne dominante außenpolitische Bedrohung wollte sich Washington aus Konflikten wie dem Bürgerkrieg in Bosnien heraushalten, wurde jedoch von den Europäern zu einer Intervention gedrängt. Erst die Bedrohung durch den Terrorismus nach dem 11. September erlaubte es der Bush-Regierung wieder, eine Sicherheitsarchitektur nach amerikanischen Vorstellungen und entsprechend amerikanischen Interessen zu schaffen, die durch zwei Elemente charakterisiert wird: die Terrorbekämpfung und die Schaffung neuer regionaler Sicherheitsstrukturen.

Die Diskussion, wie dem Problem des Terrorismus beizukommen sei, wird in den USA zwar intensiv geführt, doch reden die Vertreter unterschiedlicher Positionen aneinander vorbei. So gibt es inhaltliche Reformvorschläge aus Wissenschaft und Publizistik, denen sich die Politik jedoch verschließt. Der peruanische Wirtschaftswissenschaftler Hernando de Soto schrieb Anfang Januar 2002, das World Trade Center sei für Osama Bin Laden das Symbol für den Wohlstand des Westens gewesen. Diese Tatsache sei eine Herausforderung für die eine Milliarde reicher Menschen in Amerika, Europa und Japan. Sie müssten langfristig die restlichen fünf Milliarden Menschen in den Entwicklungsländern davon überzeugen, dass der real existierende Kapitalismus auch für sie Wohlstand bringen könne.7

Derzeit gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass die Bush-Regierung einen solchen Ansatz ernsthaft prüft. Im Gegenteil: Bushs öffentliche Erklärungen, einschließlich der Beschwörung der „Achse des Bösen“, zielen einseitig auf militärische Lösungen. Der Kampf gegen den Terrorismus erhält damit eine doppelte Bedeutung: er ist erstens die Antwort der Regierung auf die Anschläge vom 11. September und stellt zweitens das zentrale Organisationsprinzip der zukünftigen amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik dar.

Mit dem Hinweis auf diese „Achse des Bösen“ hat sich der Präsident an einer entscheidenden Weichenstellung für die zukünftige Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik selbst Beschränkungen auferlegt, worin er die nationalen Interessen des Landes sieht und wie er sie zu verfolgen sucht. In einem Interview mit der Washington Post hat Bush eine Sicherheitsarchitektur angekündigt, die auf dem gleichen Prinzip beruht wie einst der Kalte Krieg: nämlich der Abschreckung. Der Terrorismus sei dann endgültig besiegt, wenn die USA nicht länger von Leuten bedroht seien, die Amerika nicht fürchteten.8

Europäische Friedenszone

Nicht minder bedeutsam sind die amerikanischen Vorstellungen zur Sicherheit in Europa. Russlands Präsident, Wladimir Putin, war der erste ausländische Staatschef, der Bush am 11. September der Unterstützung seines Landes versicherte. Der Forderung des Kreml, die NATO-Osterweiterung als „Belohnung“ der russischen Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus zu stoppen, wird Bush sicherlich nicht nachkommen. Was für die USA stattdessen zur Disposition steht, ist die Bedeutung der NATO selbst. Sie hat sich in den Jahren des Kalten Krieges als hervorragendes Abschreckungsinstrument erwiesen, spielte in den Konflikten nach dem Ende des Kalten Krieges jedoch keine zentrale Rolle mehr. Eine NATO-Erweiterung auf über zwei Dutzend Mitglieder in den nächsten Jahren eignet sich vorzüglich zur Vergrößerung der europäischen Friedenszone, geht jedoch mit einer abnehmenden sicherheitspolitischen Bedeutung der NATO jenseits der europäischen Grenzen einher. Eine solche Herabstufung der NATO würde sowohl russischen Bedenken gegen eine Erweiterung entgegenkommen als auch Amerikas jüngst gewachsenem Interesse an einer unilateralen Außen- und Sicherheitspolitik entsprechen.

Während es in der Zeit des Kalten Krieges eine weitgehende Interessenübereinstimmung zwischen den USA und Westeuropa gab, steht dem derzeit vorgetragenen amerikanischen Anspruch auf Unilateralismus keine von Europa geteilte außenpolitische Vision gegenüber. Die Beschwörung der Gefahr des Terrorismus und der „Achse des Bösen“ trifft bei den Verbündeten auf Vorbehalte und wird sie nicht auf Dauer dazu veranlassen, amerikanischen Forderungen Folge zu leisten. Um ihren unilateralen Anspruch aufrecht zu erhalten, werden die Vereinigten Staaten gezwungen sein, jenseits des Schutzes des eigenen Territoriums eine umfassendere Vision einer Pax Americana zu entwickeln. Einstweilen jedoch hält Bush an einer Vorstellung fest, nach der die Welt, wie im Kalten Krieg, nach einem einfachen, überschaubaren und stabilen Regelwerk in Gut und Böse eingeteilt ist, wobei den USA unbestreitbar die Führung der Guten zukommt. Jedes Land müsse wählen, so der Präsident in seiner Rede vor dem amerikanischen Kongress am 20. September 2001: entweder sind sie auf der Seite Amerikas oder auf der der Terroristen.9

Anmerkungen

1  Vgl. Condoleezza Rice, Promoting the National Interest, in: Foreign Affairs, Jg. 79, 2000, H. 1, S. 46.

2  Vgl. The Washington Post, 28.1.2002.

3  Vgl. William Schneider, The New Isolationism, in: Robert Lieber (Hrsg.), Eagle Adrift: American Foreign Policy at the End of the Century, New York 1997, S. 27.

4  Vgl. Robert D. Walpole, The Iranian Ballistic Missile and WMD Threat to the United States Through 2015, Statement to the International Security, Proliferation and Federal Services Subcommittee of the Senate Governmental Affairs Committee, 21.9.2000.

5  Vgl. George Tenet, Worldwide Threat 2001: National Security in a Changing World, U.S. Senate Select Committee on Intelligence, 7.2.2001.

6  Vgl. den Bericht Bushs zur Lage der Nation vom 29.1.2002, in Auszügen abgedruckt in: Internationale Politik (IP), 3/2002, S. 119 ff.

7  Vgl. Hernando de Soto, Push Property Rights, in: The Washington Post, 6.1.2002.

8  Ebd., 3.2.2002.

9  Rede in Auszügen abgedruckt in: IP, 12/2001, S. 100 ff.; Michael Gordon, Pointing Finger, Bush Broadens His „Doctrine“, in: The New York Times, 30.1.2002.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, April 2002, S.37 - 42.

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