Alter Argwohn
Deutsch-italienische Missverständnisse in der Finanzkrise
Unter dem Druck des permanenten Krisenmanagements werden die Debatten in Europa hitziger. Einige unglückliche Formulierungen des italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti zum Verhältnis zwischen Regierung und Parlament haben genügt, heftigen Widerspruch aus Deutschland hervorzurufen. Doch worum ging es eigentlich? Ein Klärungsversuch.
Der „Deutsche“ Mario Monti ist wieder ein Italiener. Seit einigen Wochen sind die lobenden Töne in den deutschen Zeitungen über den italienischen Ministerpräsidenten leiser geworden. Das ist Ergebnis einer Kurskorrektur, die ganz im Einklang mit der wachsenden Unzufriedenheit vieler Politiker mit Montis Europapolitik angeht. Vor allem aber ist Montis „Re-Italienisierung“ einigen unglücklichen Formulierungen des italienischen Premiers in einem Interview mit dem Spiegel geschuldet: „Jede Regierung hat die Pflicht, das Parlament zu führen“, (in der Übersetzung des Spiegels: „...zu erziehen“) hatte er da gesagt – und deutschen Politikern sogleich die Chance geboten, sich als Verteidiger der parlamentarischen Souveränität und Lehrmeister für den italienischen Regierungschef und das gesamte italienische Volk zu präsentieren. Die finanzpolitischen Vorschläge Montis dadurch in Zweifel zu ziehen, dass man behauptet, sie seien dazu angetan, die parlamentarische Demokratie zu delegitimieren, ist die heimtückischste Waffe, die man gegen den Premier einsetzen kann. Sie zielt auf den alten Argwohn der Deutschen gegenüber Italiens ewiger politischer „Anomalie“. Kein Wunder, dass dementsprechend oft zu hören war, wie lebendig das Erbe des Berlusconismus doch noch sei.
Wie ist dieses Missverständnis entstanden? Und wie lässt es sich ausräumen? Die Aussage des italienischen Premiers, die die Deutschen so aufgebracht hat, lautet: „Wenn sich Regierungen vollständig durch die Entscheidungen ihrer Parlamente binden ließen, wäre das Auseinanderbrechen Europas wahrscheinlicher als eine engere Integration.“ Wörtlich genommen ist das eine Einladung, die Souveränität der Parlamente zu beschneiden. Natürlich ist das nicht Montis Absicht. Seine Aussage war lediglich eine unvorsichtige Verallgemeinerung, die auf seinen eigenen Regierungserfahrungen basierte. „Hätte ich mich strikt an die Vorgaben meines Parlaments gehalten, von dem ich den Auftrag erhalten hatte, die Euro-Bonds durchzusetzen, hätte ich den Beschlüssen des jüngsten Brüsseler Gipfels nicht zustimmen können“ , so Monti. Und wenn der Euro zu einem Faktor des europäischen Auseinanderdriftens werden sollte, fügte er hinzu, „dann sind die Grundlagen des Projekts Europa zerstört.“
Das sind schwerwiegende Aussagen und sie verweisen auf die Wurzel der aktuellen Schwierigkeiten der italienischen Regierung: den permanenten Widerspruch zwischen „fachlicher Kompetenz“ und „politischer Verantwortlichkeit“. Es geht nicht darum, dass hier die Verfassung zugunsten der Exekutive verletzt werden soll. Monti beruft sich lediglich auf die fachlichen Kompetenzen, um deretwillen er mit der Regierung beauftragt wurde, da es der politischen Klasse an derlei Fähigkeiten augenscheinlich mangelt.
Nur: Die Regierung eines Technokraten, der wegen seiner fachlichen Kompetenzen eingesetzt wurde, trifft irreversible Entscheidungen, auch wenn man mit den nächsten Wahlen zur politischen Normalität zurückkehren wird. Ich fürchte, dass die Parteien, die derzeit über das neue Wahlsystem streiten, noch nicht begriffen haben, dass die eigentliche Herausforderung für das kommende Parlament darin liegen wird, das richtige Verhältnis zwischen fachlichen Kompetenzen, Volksvertretung und Entscheidungsweg zu finden.
Im Moment bleibt uns also nichts anderes, als uns mit der Kuriosität oder Anomalie dieser Regierung abzufinden. „Ein nicht gewähltes Staatsoberhaupt, berufen, um unpopuläre Veränderungen herbeizuführen, denen die Politiker des Landes widerwillig gegenüberstehen. Monti vertraut auf die großen italienischen Parteien, ohne selbst über einen anderen Rückhalt zu verfügen als seine persönliche Glaubwürdigkeit.“ So schreibt das Wall Street Journal. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, bedurfte es natürlich nicht des einflussreichen amerikanischen Blattes, das sich damit begnügt zu wiederholen, dass „Montis disziplinierte Art eher deutsch als italienisch ist“.
Es ist an der Zeit, dieses Vorurteil aufzugeben. Die Deutschen haben eine ganz andere Vorstellung von „politischer Disziplin“ als Monti – und das hat mit den unterschiedlichen politischen Systemen zu tun. Das deutsche Modell floriert, das italienische droht zu scheitern. Die Deutschen sind mit Recht zufrieden mit ihrem kunstvollen Wechselspiel zwischen Parlament, Regierung, Verfassungsgericht und Bundesbank. Es hat Deutschland nicht nur im historischen Moment der Wiedervereinigung begleitet, sondern auch bei den Entscheidungen, die in der Schaffung der Europäischen Union mündeten.
Und das Zusammenspiel funktioniert auch mit den anderen europäischen Partnern. Heute steht es vor einer unerwarteten Prüfung, die einige Normen der Gemeinschaft in Mitleidenschaft ziehen könnte. Die Deutschen haben dabei das ungute Gefühl, dass die anderen Länder von ihnen erwarten, etwas zu tun, das ihrer Auffassung von „politischer Disziplin“ zutiefst widerspricht, wo es doch eigentlich die anderen (insbesondere die südlichen) Länder sein sollten, die sich das deutsche Modell zum Vorbild nehmen sollten. Tatsächlich aber stehen die Dinge etwas anders. Die aufmerksameren und nachdenklicheren Politiker (nicht nur der sozialdemokratischen Opposition) wissen das sehr genau und begreifen, dass auch das Schicksal Deutschlands auf dem Spiel steht.
Monti fordert von den Deutschen „mehr Elastizität“. Das ist ein Euphemismus: Die Deutschen empfinden die in sie gesetzten Erwartungen als wesentlich belastender. Dabei erwartet niemand, dass sie ihr beneidenswertes System und die dazugehörigen Regeln aufgeben. Es geht darum, ihr System der neuen, schwierigen Lage anzupassen. Diejenigen, die Deutschland wirklich nahe stehen, sind überzeugt, dass das Land, sofern es sich den Bedürfnissen seiner Partner öffnet, zum verlässlichsten Garanten für Europas Fortbestehen werden kann.
Prof. Dr. GIAN ENRICO RUSCONI ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Universität Turin und Gastprofessor an der Freien Universität Berlin.
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