Alles im Fluss
Schauen, was man will, wie man will, wo man will, wann man will: Die Videostreaming-Plattformen von Netflix und Amazon versprechen den Menschen die Unabhängigkeit von festen Sendezeiten – mit großem Erfolg, wie die rasant steigenden Nutzerzahlen zeigen. Erobert Amerika die Welt der bewegten Bilder ein weiteres Mal?
Der 17. Juli 2017 war unter den vielen Gute-Nachrichten-Tagen für Netflix ein besonders guter. Der Videostreaming-Dienst aus Los Gatos im US-Bundesstaat Kalifornien veröffentlichte seinen Vierteljahresbericht für das zweite Quartal, und das eigentlich recht trockene Zahlenwerk mit den für Netflix fast schon gewohnten Umsatzsteigerungen von rund 30 Prozent im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum enthielt diesmal eine symbolisch besonders wichtige Ziffer: Zwischen April und Juni 2017 hatte Netflix nämlich die Marke von weltweit 100 Millionen Abonnenten überschritten, dank 5,2 Millionen neuer Nutzer in diesem Zeitraum. Damit kam die Streaming-Plattform nach eigenen Angaben nun auf 103,95 Millionen Abonnenten in 190 Ländern. Tendenz weiter steigend.
Die Rekordmarke wurde just zum 20. Gründungsjubiläum der Firma erreicht, die im August 1997 mit einer eher banalen Geschäftsidee gestartet war: Leihfilme auf DVD per Post quer durch die USA zu versenden. 2007 fand sie dann im Streaming-Business den noch simpleren Vertriebskanal – und die eigentliche Bestimmung. Binnen zehn Jahren entstand ein globaler Digitalgigant, ohne wirkliche Veränderung des Geschäftsmodells: Seine Videoinhalte verschickt Netflix nun übers Internet in die ganze Welt. Das physische Trägermedium DVD ist ebenso überholt wie die stationären Videotheken, gegen die Netflix ursprünglich angetreten war. Trotzdem verschickt Netflix nicht nur aus nostalgischen Gründen in den USA auch weiterhin DVDs. Auf dem Land sind die Internetverbindungen auch im Mutterland des World Wide Web nicht überall schnell genug, um Filme und Serien zu streamen. Doch auch hier scheint es nur eine Frage der Zeit, bis der letzte Rest eines bereits überkommenen Geschäftsmodells verschwindet.
Die Idee des Videostreaming ist so simpel wie bestechend. Denn Filme und Serien sind, einmal digitalisiert, nichts anderes als Datenpakete, die irgendwo auf der Welt auf Servern lagern und übers Internet abgerufen werden können. Per Fernbedienung eines Smart-TVs, Mausklick auf einem Computer, Antippen des Touchscreens eines Smartphones fließen die Daten von den Servern übers Netz in die Endgeräte, wo sie als Bewegtbilder auf deren Bildschirmen flimmern. Überall kann man schauen, was und wann und wieviel man will. Was man früher einfach Fernsehen nannte und nun mit dem Adjektiv „linear“ ergänzt, weil es noch einem starren Programmablauf folgt, sieht dagegen alt wie Opas Flimmerkiste aus.
Das Streaming visueller Inhalte ist wie viele andere Geschichten der Digitalisierung eine Erzählung der „disruption“: einer wenn nicht Zerstörung, so doch Herausforderung des Althergebrachten. Und so verwundert es nicht, dass der andere große und weltweit erfolgreiche Videostreaming-Dienst ebenso aus dem Geiste des Silicon Valley geboren wurde – auch wenn das Hauptquartier von Amazon in Seattle im US-Bundesstaat Washington liegt. Beide Unternehmen eint, dass sie den Übergang des Versendens von physischen Objekten hin zu dem von digitalen Datenpaketen vorantreiben, nur dass das ursprüngliche Geschäftsmodell des Onlinehändlers Amazon im Verschicken von Büchern bestand.
Alles andere kam Schritt für Schritt dazu: DVDs, CDs, Elektrogeräte, Kleidung, mittlerweile sogar Lebensmittel. Also fast alles, was man online kaufen und in Pakete verpackt direkt an die Adresse des Käufers ausliefern kann. Das bedarf einer aufwändigen wie kostspieligen Logistik. Doch auch wenn Amazon stetig weiter daran arbeitet, diese für sich selbst günstiger zu machen, durch stärkere Automatisierung in seinen Auslieferzentren und demnächst auch durch Lieferdrohnen, die Pakete zu den Kunden nach Hause fliegen sollen, so ist nichts so günstig wie eine Logistik, die nur Datenpakete durchs Netz sendet.
In den Bilanzen von Amazon stehen denn auch zwei große Posten miteinander in Konkurrenz: die Kosten fürs Verschicken physischer Güter einerseits und der Umsatz mit digitalem Streaming nicht nur von Videoinhalten, sondern auch von Musik und Audiobooks. 2015 gab der Konzern für seine Logistik fünf Milliarden Dollar netto aus und machte mit Streaming knapp 4,5 Milliarden Dollar Umsatz; 2016 standen Logistikkosten von 7,2 Milliarden einem Streaming-Umsatz von 6,4 Milliarden gegenüber, den mittlerweile über 80 Millionen Amazon-Prime-Kunden weltweit einspielen. Die Steigerungsraten bei beiden Bilanzposten zeigen den Erfolg des Unternehmens beim Handel sowohl mit physischen wie mit digitalen Gütern.
Amazon kommt dabei zugute, dass das Unternehmen im selben Jahr, in dem es seine ersten Versuche mit Videostreaming unternahm, nämlich bereits 2006, eine bis heute in der breiteren Öffentlichkeit erstaunlich unbekannte Tochterfirma gründete: den Cloud-Computing-Dienstleister Amazon Web Services (AWS). Im Kern bietet dieser Dienst seinen Kunden nichts anderes an als Speicherplatz und Rechenleistung in seinen Serverfarmen. Mit der Explosion der Datenmengen, die Unternehmen auf der ganzen Welt heute produzieren, irgendwo ablegen und prozessieren lassen müssen, stieg AWS zum mit Abstand größten Cloud-Anbieter auf. Laut einer Studie der Marktforschungsfirma Synergy Research Group vom Juli 2017 hält Amazon aktuell 34 Prozent Marktanteil am Cloud-Computing weltweit und lässt damit die nächstgrößten Konkurrenten Microsoft (11 Prozent) und Google (5 Prozent) weit hinter sich; der Abstand verringerte sich in den vergangenen Jahren auch nicht, obwohl Letztgenannte sagenhafte Steigerungsraten verzeichnen. Prognosen besagen, dass AWS 2017 einen Rekordjahresumsatz von 17 Milliarden Dollar erreichen und damit rund ein Zehntel zum Gesamtumsatz der Konzernmutter Amazon beisteuern dürfte.
Streaming als Dreingabe
Einer der Kunden, der dazu beiträgt, heißt Netflix, dessen komplette Videodatenbank auf AWS-Servern liegt. Das ist eine der Pointen, die das Wettrennen zwischen den beiden größten Videostreaming-Anbietern um Abonnenten bietet: An jedem neuen Abonnenten, der bei Netflix Filme und Serien guckt, verdient Amazon indirekt über AWS mit. Der Onlinehändler selbst bietet zwar auch ein Videostreaming-Abo an. Seine Strategie beim Gewinn von neuen Nutzern ist jedoch breiter angelegt, denn Streaming ist zugleich eine bloße Dreingabe im größeren Paket der Amazon-Prime-Mitgliedschaft. Gegen eine Jahresgebühr erhält man als Prime-Kunde insbesondere Vorteile durch die bevorzugte Belieferung – ob die Kunden eine Prime-Mitgliedschaft abschließen, um schneller an die Bücher zu kommen, die sie bestellt haben, oder ob sie vor allem die Streaming-Dienste Amazon Video oder Amazon Music in Anspruch nehmen wollen, kann dem Onlinehändler ziemlich egal sein. Hauptsache, die Menschen halten sich möglichst lange auf der Amazon-Website auf und kaufen, nachdem sie eine Serienfolge geschaut oder ein paar Songs gehört haben, noch etwas aus dem Angebot physischer Produkte.
Das mit Streaming verbundene Versprechen, dass man als Nutzer von nun an selbst bestimmen kann, was man wann guckt, reicht aber allein nicht aus, um die Menschen vom linearen Fernsehen wegzulocken. Netflix jedenfalls konnte und wollte sich nicht darauf verlassen, dass die Aussicht auf Freiheit und Bequemlichkeit die Leute schon überzeugen würde, ein Abo abzuschließen. Neben der neuen Darreichungsform der Inhalte brauchte es etwas Weiteres, nämlich neue, eigene, exklusive Inhalte. Netflix durfte nicht nur Sender sein, es musste auch Produzent von Bewegtbildern werden, um Streaming zum Massenphänomen zu machen. Die 2013 gestartete erste große, äußerst aufwändig und teuer produzierte Netflix-Serie „House of Cards“ mit Kevin Spacey in der Hauptrolle und ihr Erfolg markieren deshalb den eigentlichen Beginn der Streaming-Ära – die hierzulande ironischerweise erst verspätet begann, weil Netflix zum Zeitpunkt noch nicht in Deutschland präsent war und die Ausstrahlungsrechte für „House of Cards“ an den Pay-TV-Anbieter Sky verkauft hatte.
Mit dieser Serie über einen fiktiven, vollkommen skrupellosen US-Präsidenten verbindet sich letztlich auch mehr als nur eine weitere Fernsehreihe. Netflix machte die gesamten 13 Folgen der ersten Staffel auf einmal verfügbar und bediente damit ein Kulturphänomen des Fernsehkonsums, das bis dahin eher im Verborgenen gediehen war: das „binge watching“, also das regelrechte Verschlingen ganzer Serienstaffeln an einem Stück. Dass es durchaus viele Menschen gibt, die stundenlang und am liebsten ohne Pause in die Welten von Fernsehreihen eintauchen wollen, hatte man bis dahin nur an den erstaunlich hohen Verkaufszahlen von Serien-DVDs erahnen, aber nicht nachweisen können. Schließlich lässt sich ja nicht überprüfen, wie ausdauernd Kunden ihren DVD-Player nutzen.
Netflix hingegen kann die Fernsehkonsumgewohnheiten seiner Nutzer live beobachten. Aus den Zugriffszahlen auf der eigenen Plattform kann es Schlüsse fürs eigene Programm ziehen, und zwar nicht nur, welche Art von Filmen oder Serien bei den Abonnenten besonders beliebt sind. Aus seinen Daten kann Netflix zum Beispiel bis auf die Sekunde genau nachvollziehen, wann wer welchen Film oder Sendung abschaltet. Mit ihrem Netflix-Abo stimmen die Leute gleichsam dem Auslesen ihrer eigenen Sehgewohnheiten zu. Doch weil die Plattform alle Daten für sich zu behalten und sie keinem potenziellen Werbekunden weiterzugeben verspricht – Netflix ist werbefrei – stören sich die Abonnenten daran nicht. Im Gegenteil: Sie können davon ausgehen, dass die Serien und Filme, die Netflix entweder lizensiert oder gleich selbst produziert, ganz auf den Geschmack der Abonnenten ausgerichtet sind.
Sechs Milliarden Dollar werde man 2017 für Inhalte ausgeben, kündigte Netflix im vergangenen Herbst an – ein ungeheurer Betrag, auch gemessen am Jahresumsatz, der sich zuletzt auf 8,83 Milliarden (2016) belief. Zum Vergleich: Von allen klassischen US-Fernsehsendern wird nach Schätzungen der Analysten von Boston Consulting lediglich der Sportsender ESPN 2017 mehr für Inhalte ausgeben, und der muss nicht nur sündhaft teure Übertragungsrechte bei Sportverbänden einkaufen, sondern braucht im Gegensatz zu Netflix für seine Live-Berichterstattung auch ein regelrechtes Heer an Personal. Andere US-Sender wie NBC oder CBS hingegen liegen mit jährlichen Content-Ausgaben von rund vier Milliarden Dollar hinter Netflix; Amazon liegt bei seinen Content-Kosten nach Schätzungen ungefähr im gleichen Rahmen. Beide Streaming-Dienste senken dabei sukzessive den Anteil, den sie für Lizensierungen von Hollywood-Filmen und Fernsehserien anderer Sender ausgeben, zugunsten von Eigenproduktionen. Denn was man selbst in Auftrag gibt, darüber hält man auch alle Rechte: Im Jahr 2016 veröffentlichte Netflix insgesamt 600 Stunden selbstproduzierten „original content“, 2017 sollen es 1000 Stunden sein.
Reed Hastings, Netflix-Chef und -Mitgründer, hat schon vor Jahren als Ziel seiner Firma ausgegeben, das lineare Fernsehen abzulösen. Doch vor einem schreckt er bislang zurück: auch beim Kern des Fernsehgeschäfts einzusteigen, bei der Live-Berichterstattung. Bei Netflix bleibt alles Konserve. Dafür hat das Unternehmen zumindest schon einmal den Versuch unternommen, die angestammte Verwertungskette bei Filmen aufzumischen: Die Eigenproduktionen „Beasts of No Nation“ und „Crouching Tiger, Hidden Dragon: Sword of Destiny“ hob Netflix 2015 und 2016 nicht nur exklusiv auf die eigene Internetplattform, sondern zeigte sie auch in einigen US-Kinos – gegen den erbitterten Widerstand der großen Kinoketten, die diese Filme regelrecht boykottierten.
Dahinter steckt die Idee, die traditionelle chronologische Abfolge der Verwertung von Filmen aufzukündigen, die erst im Kino anlaufen, dann auf DVD und zum digitalen Kauf veröffentlicht werden, danach im Pay-TV und bei Streaming-Diensten im Netz zu sehen sind und schließlich im frei empfangbaren Fernsehen. Die beiden Filme, die als Testballons dienen sollten, floppten allerdings an den Kinokassen.
Amazon verfolgt in dieser Hinsicht eine andere Strategie. Zwar konkurriert man mit Netflix beim Bieterstreit um Streaming-Lizenzen für Filme und Serien und durch den ebenfalls gesteigerten Anteil von Eigenproduktionen. Amazon ist aber nicht nur als Onlineverkäufer gar nicht so sehr daran interessiert, die althergebrachten Verwertungsketten zu zerstören. Schließlich verdient man ja weiter daran. Das Unternehmen betrachtet sich vielmehr als technologisch viel umfassenderer Bewegtbild-Anbieter, der zum Beispiel mit dem Fire-TV-Stick Fernsehbesitzern multimediale Inhalte bringt. Amazon liefert eben nicht nur Inhalte übers Netz wie Netflix, es bietet seinen Kunden eine ganze Infrastruktur fürs Sehvergnügen an.
Hollywood-Studio neuer Art
Darin haben mittlerweile auch Live-Übertragungen einen Platz, auch in Deutschland: Seit Beginn der laufenden Bundesliga-Saison können Fußballfans die Freitagabendspiele über Amazon sehen, weil die Plattform mit dem Fernsehsender Eurosport kooperiert, der wiederum die Live-Übertragungsrechte an diesen Spielen erworben hat. Auch bei Filmen sucht Amazon nicht so sehr die Konfrontation – etwa mit Kinobetreibern, wie Netflix das getan hat –, sondern geht einen anderen Weg: Amazon betätigt sich längst als eine neue Art von Hollywood-Studio, das Filme koproduziert und über die traditionellen Vertriebswege erst ins Kino bringt und dann an jedem weiteren Verwertungsschritt mitverdient, bis die Werke schließlich bei Amazon Video gestreamt werden können. Die nächsten Filme der preisgekrönten Independent-Regisseure Woody Allen, Gus van Sant, Richard Linklater und Todd Haynes wurden allesamt von den Amazon Studios mitfinanziert. So kann sich das Onlinekaufhaus auch noch als Förderer amerikanischer Filmkunst feiern lassen: kein schlechter Nebeneffekt für ein Unternehmen, das weithin als Buchhändlerkiller wahrgenommen wird.
Die Strategien von Amazon und Netflix zahlen sich bislang aus, die Nutzerzahlen steigen weiter. Dabei haben die beiden Konkurrenten den zahlenmäßig größten Fernsehmarkt der Welt nicht einmal wirklich betreten: China ist ein schwarzer Fleck auf der Landkarte der Expansion von Amazon und Netflix – die große chinesische Firewall und die dortigen einheimischen Digitalgiganten verhindern dies. Weil die Übertragungsraten in den Netzen vieler anderer Länder noch zu langsam sind fürs Videostreaming, sind die beiden Plattformen dort nur nominell verfügbar. Wird das Internet schneller, steht dem Massenerfolg von Streaming allerdings nichts mehr im Wege. Und während zum Beispiel in Deutschland auch Konkurrenz von nationalen Anbietern wie Maxdome besteht, drängen weitere Mitbewerber auf den Markt; Apple, lange als digitaler Filmverkäufer über sein iTunes-Portal erfolgreich, hat gerade erst eine milliardenschwere Eigenproduktionsinitiative für 2018 angekündigt, um exklusive Fernsehformate im Stream anzubieten. Es werden dank der umfassenden Verfügbarkeit von Filmen und Serien auf Streaming-Plattformen eben weniger Titel gekauft. Darauf reagiert nun auch Apple.
Die große Frage wird sein, was angesichts dieses Wettbewerbs der Digitalweltkonzerne aus dem linearen Fernsehen wird, das in erster Linie national strukturiert ist. Deutsche Sender haben zwar längst auch eigene Mediatheken, deren Nutzer selbst entscheiden können, wann und wo und wie viel sie dort im Netz sehen möchten. Die öffentlich-rechtlichen Programme indes dürfen nach der aktuellen Gesetzeslage die meisten ihrer Sendungen nur zeitlich begrenzt anbieten, in der Regel sieben Tage lang. Gegenüber internationalen Streaming-Anbietern ist das ein erheblicher Wettbewerbsnachteil.
Andererseits können ARD und ZDF mit ihren Film- und Serienproduktionen mit denen der US-Plattformen schlicht nicht mithalten, weil sie qualitativ einfach nicht gut genug sind.
Die goldenen Zeiten des Fernsehens, die der „House of Cards“-Hauptdarsteller Kevin Spacey angesichts von Netflix und Amazon ausgerufen hat, sind golden vor allem aus einem Grund: Sie haben nicht nur das Fernsehgucken freier und bequemer gemacht – sondern vor allem das besser gemacht, was man dort sieht.
Dirk Peitz arbeitet als Redakteur für die deutsche Ausgabe von WIRED und ist Kolumnist bei ZEIT ONLINE.
IP Wirtschaft 3, November 2017 - Februar 2018, S. 58 - 63