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01. Sep 2009

Alle Macht dem Kanzler

Für eine effizientere außenpolitische Struktur der Bundesregierung

Parteipolitisches Konkurrenzgebaren und eine überaus diffizile Koordination lähmen den politischen Entscheidungsprozess in Deutschland. Höchste Zeit, über neue Strukturen nachzudenken, das Auswärtige Amt der Kanzlerpartei zuzuordnen und mit der Kanzlerautorität zu stärken sowie das Amt eines „Foreign Secretary“ zu schaffen.

Rechtzeitig vor der Bundestagswahl am 27. September haben der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle und der Spitzenkandidat der Grünen, Jürgen Trittin, in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik mit sorgfältig ausgearbeiteten außenpolitischen Grundsatzreden ihren Anspruch auf das Auswärtige Amt für den Fall eines entsprechenden Wahlergebnisses angemeldet. Beide Anwärter stellen sich damit in die Tradition der kleineren Koalitionspartner, die das Außenamt seit 1966 unabhängig von ihrer parteipolitischen Färbung für sich beansprucht haben.

Diese einhellige Begehrlichkeit beruht offensichtlich auf dem hohen politischen Stellenwert, der der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik beigemessen wird, den staatsmännischen Selbstdarstellungsmöglichkeiten auf internationalem Parkett, dem nach wie vor hohen Prestige der Diplomatie und der Abgehobenheit der jeweiligen Amtsinhaber von dem innenpolitischen Gerangel, die sie – zumindest bis vor kurzem – verlässlich zum beliebtesten Politiker der Umfragen werden ließen.

Die jeweiligen Bundeskanzler haben auf die Profilierungsmöglichkeiten ihrer Außenminister stets reagiert, indem sie die bedeutenden Themen oder die Wahrnehmung wichtiger außenpolitischer Anlässe zur Chefsache erklärten. Das Arbeitsverhältnis zwischen dem Kanzleramt und dem Auswärtigen Amt ist entsprechend durch eine lange Geschichte der Frustrationen gekennzeichnet – verstärkt durch den wohl nicht ganz unberechtigten Verdacht, dass die Kanzler die finanziellen und personellen Spielräume ihrer Außenminister im Bedarfsfall auch über die meist zu ihrer Partei gehörigen Finanzminister begrenzt haben.

Eine weitere Beschränkung der Gestaltungsmacht der Außenminister besteht seit 1961 durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ). Von den ersten Jahren unter Walter Scheel und der jetzigen Großen Koalition abgesehen, gehörte es immer zur Kanzlerpartei. Somit war und ist es durchaus in der Lage, in seinem Zuständigkeitsbereich handfeste Nebenaußenpolitik zu betreiben.

Im Ergebnis hat die Zersplitterung der außenpolitischen Zuständigkeiten aufgrund des jeweiligen Koalitions-pokers zu deutlichen Reibungsverlusten durch mangelnde Abstimmung im Inneren und konkurrierendem, wenn nicht rivalisierendem Auftreten nach außen geführt. Für unsere internationalen Partner ergab sich daraus zwangsläufig eine diffuse, schwer zu entziffernde außenpolitische Linie, die unsere Einflussmöglichkeiten in den europäischen und internationalen Beziehungen verringerte.

Bis zur Wiedervereinigung mag dies hinnehmbar gewesen sein, da unser außenpolitischer Spielraum wegen der ungelösten deutschen Frage ohnehin begrenzt und die deutsche Außenpolitik aus nachvollziehbaren Gründen ganz bewusst auf Zurückhaltung eingestellt waren. Seit 1990 unterliegt Deutschland jedoch keinen Beschränkungen mehr, die es sich nicht selbst auferlegt hat. Vor allem aber wird es von seinen Partnern in Europa und der Welt in ganz anderer Intensität und höherem Ausmaß in die Verantwortung genommen. Die Bundesregierungen haben sich seither dieser gewachsenen Verantwortung auch gestellt. Ihr außenpolitisches Instrumentarium haben sie dieser neuen Herausforderung jedoch nicht angepasst.

Dabei hat man das Problem durchaus erkannt. Bei der Vorbereitung der Koalitionsverhandlungen zwischen der SPD und den Grünen im Herbst 1998 wurde die Eingliederung des BMZ in das Auswärtige Amt erwogen, letztlich aber verworfen. Die koalitionspolitischen und parteiinternen Überlegungen hatten wie stets Vorrang. Selbst in der jetzigen Großen Koalition, in der Auswärtiges Amt und BMZ von einer Partei gehalten werden, war es nicht möglich, eine Zusammenlegung beider Ministerien vorzusehen, wie es in Frankreich aus guten Gründen bereits seit Jahren erfolgt ist.

Nun stehen Bundestagswahlen an und wieder stellt sich die Frage, ob die nächste Koalition die Einsicht und die politische Kraft besitzt, sich in der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik effizienter zu organisieren als bisher. Dies wäre durchaus möglich, wenn die parteipolitischen Zuordnungen und Strukturen der betroffenen Ministerien sachdienlich verändert und die Koalitionspartner bei allfälligen Verlusten außenpolitischer Zuständigkeiten entsprechend kompensiert werden.

Gesucht: ein loyaler Gefolgsmann

Zentrales Element einer neuen kohärenten, rivalitätsfreien außenpolitischen Struktur ist die Zuordnung des Auswärtigen Amtes zur Kanzlerpartei. Nur wenn der Außenminister ein in jeder Hinsicht loyaler und kongenialer Gefolgsmann des Kanzlers oder der Kanzlerin ist, wird es ihm gelingen, deren Außenpolitik mitzuformulieren und umzusetzen. Er muss deshalb mehr ein „Foreign Secretary“ als ein machtbewusster – oder im Rahmen einer Großen Koalition konkurrierender – Vizekanzler sein. Anders als es jetzt der Fall ist, hätte ein Außenminister, der das volle politische wie fachliche Vertrauen des Kanzlers oder der Kanzlerin besitzt und organisatorisch eng an das Kanzleramt angelehnt ist, eine erheblich stärkere Stellung, um seine aus der Ressortzuständigkeit und fachlichen Kompetenz herrührende Koordinierungs- und Steuerungsaufgabe zu erfüllen.

In unserem durch Koalitionsbildung und Ressortprinzip bestimmten System mit ihrem innewohnenden Konkurrenzdenken ist die Koordination politischer Entscheidungsabläufe ein kritischer Punkt bei der Entwicklung einer reaktionsschnellen, stringenten Politik. Dies gilt insbesondere für die Außen-, Sicherheits- und Europapolitik. So gut wie alle Ressorts, Ausschüsse und unzählige Referate in Bund und Ländern fühlen sich in diesen Fragen zuständig oder betroffen, wollen beteiligt werden oder handeln gar gegen alle Regeln selbstständig. Alle unter einen Hut zu bringen, ist eine aufwändige und langwierige Übung. Als entsprechend mühsamer Partner wird Deutschland im Ausland und insbesondere in Europa gesehen. „Oft einigt man sich nicht rechtzeitig auf eine Position, und dann muss sich Deutschland in Brüssel enthalten“, klagte jüngst Joachim Würmeling, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium in der Wochenzeitung Die Zeit. Im Jargon der Eurokraten werde die Stimmenthaltung eines Landes, das sich zu Hause nicht einigen kann, als „German Vote“ bezeichnet.1

Ein durch die Kanzlerautorität gestärktes Auswärtiges Amt kann hier Abhilfe schaffen und gleichzeitig das Kanzleramt entlasten, das heute zunehmend mit Koordinierungs- und Schiedsrichteraufgaben belastet wird. Die Kanzlernähe des Auswärtigen Amtes würde insbesondere dessen immer schwieriger werdende europapolitische Koordinierungsaufgabe wirkungsvoller gestalten und damit die nach jeder Wahl erneut aufkommende Forderung nach einem Europaminister relativieren. Da das Ressortprinzip eine Aufhängung im Kanzleramt ausschließt, bietet sich eine entsprechende Ausformung im Auswärtigen Amt unter einem Juniorminister an, wie es z.B. in Frankreich der Fall ist. Ein weiterer Juniorminister im Auswärtigen Amt könnte die nach einer Zusammenlegung mit dem BMZ verbliebenen entwicklungspolitischen Aufgaben übernehmen.

Diplomatic Adviser als Schnittstelle

Um die Koordinierungsrolle des Auswärtigen Amtes darüber hinaus zu verbessern, sollte ein Instrument eingesetzt werden, das in vielen Ländern von Außenämtern und Fachressorts gleichermaßen geschätzt wird: Der „Diplomatic Adviser“, ein in den Leitungsstäben der Ressorts angesiedelter diplomatischer Berater, der die Ressortchefs in allen außen- und sicherheitspolitischen Fragen berät, dessen Auslandsreisen und Besuchskontakte vorbereitet und auswertet und durch ständige Verbindung mit dem Auswärtigen Amt auf die Wahrung einer kohärenten außenpolitischen Linie achtet. Innenminister Otto Schily hat seinerzeit als erster Fachminister den Nutzen dieser Einrichtung erkannt und das Auswärtige Amt um einen Austauschbeamten gebeten. Die übrigen Ressortminister haben sich hierzu, aus welchen Gründen auch immer, bisher nicht durchringen können.

Es versteht sich von selbst, dass eine derartige Konzentration der außen-, sicherheits- und europapolitischen Zuständigkeiten in der Kanzlerpartei und die enge organisatorische Anbindung an das Kanzleramt für jeden Koalitionspartner schwer zu akzeptieren wären. Forderungen nach substanziellen Kompensationen durch andere schwergewichtige klassische Ressorts über die bisher akzeptierten Zahlen hinaus wären vorprogrammiert. Der Zugewinn an außenpolitischer Effizienz für die gesamte Bundesregierung rechtfertigt jedoch diese Kompensation und sollte auch Koalitionspartnern vermittelbar sein.

Um die Koalitionspartner stärker in die außen- und sicherheitspolitische Verantwortung einzubeziehen, bietet sich im Übrigen die Ausweitung der Rolle des Bundessicherheitsrats (BSR) an. Dieses Gremium – ein Kabinettsausschuss der Bundesregierung für sicherheitspolitische Fragen – hat sich seit den achtziger Jahren im Wesentlichen auf Rüstungsexportfragen beschränkt. Bereits im rot-grünen Koalitionsvertrag von 1998 hieß es, dass „die neue Bundesregierung dem Bundessicherheitsrat seine ursprüngliche Rolle als Organ der Koordinierung der deutschen Sicherheitspolitik zurückgeben und hierfür die notwendigen Voraussetzungen schaffen (wird)“. Dass dies in die Praxis umgesetzt wurde, ist bis heute nicht erkennbar.

Terroristische Anschläge, Entführungen, Piraterie und Geiselnahmen, Umwelt- und Naturkatastrophen, Wirtschafts- und Versorgungskrisen haben gezeigt, dass äußere und innere Sicherheit untrennbar verbunden sind. Eine schnelle, reibungslose und vor allem politisch abgestimmte Reaktion auf derartige Bedrohungen kann letztlich nur mit der Kanzlerautorität bei Einbeziehung aller relevanten Ressorts sichergestellt werden. Die ernüchternden Erfahrungen mit dem Kompetenzstreit bei der versuchten Befreiung der Besatzung der „Hansa Stavanger“ hat dies erneut deutlich gemacht. Eine verstärkte Nutzung des Bundessicherheitsrats mit einem entsprechend ausgebauten administrativen Unterbau im Kanzleramt wäre die angemessene Antwort auf die sicherheitspolitischen Bedrohungen unserer Zeit.

Dies ist ein Bruch mit einer in einem halben Jahrhundert entwickelten Konsenskultur. Wenn wir unsere Interessen in Zukunft jedoch mit größtmöglichem Erfolg wahrnehmen wollen, müssen wir neue und effizientere Strukturen und Instrumente entwickeln.

FRITJOF VON NORDENSKJÖLD, Botschafter a.D., ist stellvertretender geschäftsführender Präsident der DGAP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9/10, September/Oktober 2009, S. 92 - 95.

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