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01. Aug. 2010

Abschied vom Zwei-Grad-Ziel

Wie eine kluge Klimapolitik aussehen muss

Ist der Abschluss eines ehrgeizigen Weltklimavertrags noch realistisch? Wohl kaum. Auch das beinahe sakrosankte Ziel, den Temperaturanstieg auf zwei Grad Celsius zu begrenzen, wird nicht zu halten sein. Will die EU weiter eine wichtige Rolle in der Klimapolitik spielen, wird sie von diesem Ziel Abschied nehmen und neue Ansätze entwickeln müssen.

Das Zwei-Grad-Ziel ist zentraler Bezugspunkt der Klimadebatte. Steigt die globale Durchschnittstemperatur um mehr als zwei Grad an, dürften die Folgen des Klimawandels ein gefährliches Ausmaß annehmen. Das Limit von zwei Grad ist der bislang erfolgreichste Versuch, das in Artikel 2 der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) nur abstrakt formulierte Stabilisierungsziel zu konkretisieren.1

Bemerkenswert ist, dass Politiker stets darauf verweisen, es handele sich dabei um ein von der Wissenschaft vorgegebenes Ziel. Klimawissenschaftlern ist die genuin politische Natur dieser Grundannahme bewusst. Zwar liefert die naturwissenschaftliche Klimaforschung zahlreiche Anhaltspunkte, dass die Orientierung an einer Zwei-Grad-Schranke sinnvoll wäre, aber nur ein Teil der Klimawissenschaft tritt aktiv dafür ein, in Deutschland ist es vor allem der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU). Im vierten Sachstandsbericht des „Intergovernmental Panel on Climate Change“ (IPCC) hingegen findet sich kein explizites Plädoyer für dieses Ziel.

International durchgesetzt wurde es vor allem von der EU, deren Umweltminister schon seit 1996 für diese Zielmarke eintreten. 2007 wurde es in den Mittelpunkt der ersten europäischen Energiestrategie gerückt. Im Vorfeld des Kopenhagener Klimagipfels ist es der EU sogar gelungen, alle relevanten Verhandlungspartner auf diese Zielmarke einzuschwören. Im „Copenhagen Accord“ fand sie schließlich erstmals Anerkennung auf UN-Ebene, allerdings wurden in diesem Rahmen keine verbindlichen Maßnahmen zu ihrer Umsetzung beschlossen.2 Da schon die bislang emittierten Treibhausgase einen Temperaturanstieg von etwa 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter verursachen werden, wären radikale Fortschritte notwendig, um das Zwei-Grad-Ziel noch einzuhalten. Die globalen Emissionen müssten schon in den kommenden Jahren ihren Höhepunkt erreichen und danach deutlich absinken. Je höher der Peak ausfällt und je später er überschritten wird, desto drastischer wären die anschließend notwendigen Reduktionsraten.

Angesichts der schleppend verlaufenden Klimaverhandlungen und der Industrialisierungspfade der großen Schwellenländer spricht wenig dafür, dass ein mit dem Zwei-Grad-Ziel kompatibler Emissionspeak in den nächsten Jahren auch nur in Sichtweite geraten wird. Dementsprechend dürfte auch die Wissenschaft wachsende Skepsis anmelden, dass ein solches Ziel noch im 21. Jahrhundert zu erreichen wäre. Politikberatende Klimaforscher könnten in einer Übergangsphase zwar versucht sein, gegenüber der Öffentlichkeit tendenziell „weichere“ Interpretationen ihrer Forschungsergebnisse vorzunehmen, um so eine bereits sichtbare Ablösung des Zwei-Grad-Ziels hinauszuschieben.3 Eine solche Strategie aber würde die Einsicht ins Unvermeidliche wohl nicht verhindern, sondern nur verzögern.

Kommt es in den nächsten Jahren nicht zu rapiden Fortschritten in der Klimapolitik und bei der weltweiten Reduktion von Emissionen, dann wird die internationale Klimapolitik einen neuen Zielkonsens benötigen.

Globale Gestaltungsmacht?

Für die Europäische Union ergibt sich dann eine besondere Aufgabe – auch weil sie dem Anspruch, eine globale Gestaltungsmacht zu sein, in Politikfeldern jenseits des Klimaschutzes bislang kaum genügen kann. Wollen die Europäer aber künftig nicht auch in der globalen Klimapolitik an den Rand gedrängt werden, muss es ihnen gelingen, tragfähige Ziele zu entwickeln und diesen international zum Durchbruch zu verhelfen. Dies bedeutet keineswegs, dass die EU schon jetzt öffentlich vom Zwei-Grad-Ziel abrücken oder gar das Engagement für dessen Realisierung einstellen sollte. Aber sie sollte die prominente Zielmarke wenigstens nicht mehr ins Zentrum ihrer klimapolitischen Kommunikation stellen.

Mittelfristig wird die EU nicht umhin kommen, eine strategische Grundsatzentscheidung über ein neues Globalziel zu treffen. Sie steht dabei vor der Frage, ob sie – im Gegensatz zu den erkennbaren Präferenzen Chinas, Indiens und der USA – am bisherigen, hegemonialen Top-Down-Ansatz festhalten will, oder ob sie in der Lage ist, das politisch weitaus realistischere Bottom-Up-Para-digma in einer innovativen Weise zu interpretieren.

Dem Top-Down-Ansatz wird seit Beginn der Klimapolitik Vorrang eingeräumt; in diesem Rahmen wird das Globalziel in naturwissenschaftlichen Kategorien definiert und als unverrückbare Obergrenze aufgefasst. Es bildet den Ausgangspunkt für alle politischen Implementierungsschritte. In dieser Logik richten sich alle Bemühungen zunächst auf den Abschluss eines umfassenden Weltklimavertrags, was bedeutet: Man konzentriert sich nicht nur stark auf die internationalen Verhandlungsarenen, man vernachlässigt auch konkrete Fortschritte bei der Dekarbonisierung der Volkswirtschaften der Industrie- und Schwellenländer. Das führt zu vielfältigen Handlungsblockaden, schließlich können die Regierungen immer auf die relative Untätigkeit der internationalen Verhandlungspartner verweisen. Selbst die EU, die das Zwei-Grad-Ziel bei jeder Gelegenheit zur Richtschnur ihres Handelns erklärt, verweigert sich mit diesem Argument einer Anhebung ihres für das Jahr 2020 gesetzten Reduktionsziels von 20 auf 30 Prozent – obwohl dies einer gerechten Lastenübernahme auf dem Weg zur Erreichung der Zwei-Grad-Marke entspräche.

Sollte sich die EU nicht vom Top-Down-Paradigma lösen wollen, könnte sich die Reaktion auf ein Scheitern an der Zwei-Grad-Marke schlicht darauf beschränken, für eine moderate Erhöhung der Temperaturgrenze zu plädieren, etwa auf 2,5 Grad. Dies dürfte jedoch kaum überzeugend zu vermitteln sein und den Vorwurf klimapolitischer Beliebigkeit auf sich ziehen. Wenn die Politik ein größeres Ausmaß an Klimawandel tolerieren will, läge es näher, auch die Zielkategorie selbst zu wechseln: weg von der globalen Durchschnittstemperatur, hin zur atmosphärischen Konzentration verschiedener Treibhausgase. Das neue Limit läge dann nicht bei 2,5 Grad, sondern – nach dem heutigen Stand der Forschung – bei 500 ppm (parts per million) CO2-Äquivalenten.4

Klimaschutz von unten nach oben

Sollte sich in der internationalen Klimapolitik ein Konsens für weniger anspruchsvolle Temperatur- oder Konzentrationsziele herausbilden, so wird allein dies schon zu schwerwiegenden Konflikten mit den Klimawissenschaften führen. Doch ganz gleich, wie ambitioniert ein neues Temperatur- oder Konzentrationsziel ausfiele, es würde den Kern des Scheiterns bereits in sich tragen. Denn dem Top-Down-Ansatz liegt ein hohes Maß an Steuerungsoptimismus und Rigidität zugrunde, das mit den Strukturen der globalen wie auch der europäischen Klimapolitik nicht in Einklang zu bringen ist. Zwar ist die Definition globaler klimatologischer Schwellenwerte in einer naturwissenschaftlichen Perspektive sinnvoll. Auch wäre es angemessen, ein weltweites „Emissionsbudget“ bis 2050 auf dieser Basis zunächst festzulegen und im Rahmen eines völkerrechtlich verbindlichen Weltklimavertrags gerecht auf alle Nationen zu verteilen. Politikfähig ist ein solcher Ansatz aber nicht. Auf absehbare Zeit fehlen auf globaler Ebene die politischen Institutionen und Instrumente, um ein solches Regime wirksam zu implementieren.

Nicht einmal die EU, die ihre Klimapolitik als „wissenschaftsbasiert“ bezeichnet, wird sich der Logik eines Emissionsbudgets unterwerfen wollen. Sie muss bei der Setzung von Klimazielen flexibel genug bleiben, um die Rahmenbedingungen internationaler Politik, die innenpolitischen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten und die Interessen wirtschaftlicher Akteure berücksichtigen zu können. Und sie wird sich nicht darauf einlassen können, den Klimaschutz mittels eines strikten Budgetierungsmechanismus für die nächsten vier Dekaden als oberste politische Priorität festzuschreiben. Dies ist schon deshalb undenkbar, weil neue klimawissenschaftliche Erkenntnisse – etwa über den Temperaturanstieg, der aus einer Verdopplung der CO2-Konzentration in der Atmosphäre resultiert – regelmäßig auch Anpassungen des Budgets zur Folge hätten. Die verbleibende Gesamtmenge an Emissionen wäre somit der Kontrolle der Politik entzogen.

Die bisherigen Erfahrungen mit Emissionsbudgets begrenzter Reichweite wie dem Kyoto-Protokoll geben Anlass zu großer Skepsis. Das Engagement der teilnehmenden Staaten richtet sich oft primär darauf, mittels buchhalterischer Finessen ihre nationale Bilanz schön zu rechnen – vor allem durch Emissionsgutschriften aus zum Teil fragwürdigen Projekten im Rahmen des „Clean Development Mechanism“ im Ausland. Dagegen steht meist nicht im Vordergrund, deutliche Fortschritte bei der Dekarbonisierung der eigenen Volkswirtschaften zu erzielen.5

Will die EU ihre Vorreiterrolle in der Klimapolitik erhalten und damit sowohl Einfluss auf die anderen großen Verschmutzer ausüben als auch eine Trendwende bei den globalen Emissionen anstoßen, wird sie sich dem Bottom-Up-Paradigma öffnen müssen. Dabei darf es nicht bei einem resignativen Abwarten bleiben, was denn China, Indien und die USA anzukündigen und vielleicht auch umzusetzen bereit sind. Es muss vielmehr darum gehen, „Klima-Realpolitik“6 mit einer positiven globalen Leitidee zu verbinden. Auf ein übergeordnetes Ziel kann die internationale Klimapolitik auch zukünftig nicht verzichten. Um allerdings dauerhaft wirksame Veränderungen anzustoßen, hätte ein neues Globalziel vor allem zwei Kriterien zu erfüllen: Es müsste politisch-symbolische Strahlkraft entwickeln und zentrale klimawissenschaftliche Erkenntnisse integrieren. Beides zusammen kann nur mit einer dynamischen Zielformel gelingen, nicht mit einer absoluten Temperaturobergrenze und einem exakt kalkulierten Emissionsbudget. Bottom-Up und Top-Down lassen sich nicht miteinander kombinieren, sie schließen einander aus.

Europa als Vorreiter

Eine der denkbaren Varianten eines zielgerichteten Bottom-Up-Ansatzes bestünde darin, „Klimaneutralität“ auf UN-Ebene als globales Langfristziel völkerrechtlich verbindlich festzuschreiben, also den Netto-Ausstoß von Treibhausgasen auf Null zu reduzieren. Selbst wenn man dies zunächst noch mit einem breiten zeitlichen Zielkorridor verknüpfte, wäre damit die Bewegungsrichtung gesetzt, an der sich alle Staaten messen lassen müssten. Ambitionierten Akteuren wie der EU käme die Aufgabe zu, sich auf sehr ehrgeizige Dekarbonisierungs-Pfade zu verpflichten. Sie müssten schließlich den Beweis antreten, dass die Transformation hin zu „low carbon economies“ nicht nur technologisch möglich, sondern auch ökonomisch erfolgreich ist und positive Effekte nicht nur für das Klima, sondern auch für Energiepreise und Versorgungssicherheit zeigt.

Dass diese Beweisführung überzeugend gelingt, ist in erster Linie nicht eine Frage europäischer Deklarationen oder Gesetzgebungsprojekte, sondern sichtbarer und konkreter Maßnahmen, besonders der deutlichen Steigerung der Energieeffizienz und des massiven Ausbaus der Nutzung erneuerbarer Energieträger. Gelingt es den Europäern, die bislang im Grunde nur behaupteten Verheißungen der „green economy“ schrittweise umzusetzen, dann dürften andere Industrie- und Schwellenländer schon aus Eigeninteresse folgen. Zu ergänzen wäre diese europäische Vorreiterstrategie durch eine Serie spezifischer multilateraler Abkommen, vor allem mit den Entwicklungsländern, etwa zum Technologietransfer, zum Waldschutz oder zur Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen. Das zentrale Prinzip wäre jedoch auch hier: Konkrete Handlungen sind wichtiger als bloße Lippenbekenntnisse.7

Einen zielgerichteten Bottom-Up-Ansatz zu verfolgen, würde mit hoher Gewissheit zu deutlichen Emissionsminderungen führen. Eine treffsichere Vorhersage, welchen Temperaturanstieg die Welt damit in Kauf nähme, wäre zunächst jedoch kaum möglich. Hier verspricht das derzeit noch favorisierte Top-Down-Prinzip ein weit höheres Maß an Sicherheit, schon durch die beständige Wiederholung einer absoluten Obergrenze, die keinesfalls überschritten werden dürfe. Doch was kommunikativ zu überzeugen vermag, wiegt die Welt möglicherweise in trügerischer Sicherheit, wenn auf absehbare Zeit die politischen Institutionen und Instrumente fehlen, um das Einhalten der Grenze auch tatsächlich durchzusetzen – seien es nun zwei oder 2,5 Grad. Bei der Bewertung eines klimapolitischen Ansatzes sollte nicht entscheidend sein, inwiefern er kurzfristig ein Bekenntnis zu großem klimapolitischen Ehrgeiz erlaubt oder Hoffnungen auf eine „große Lösung“ zu nähren vermag. Wichtiger ist, ob ein Politikkonzept mittel- bis langfristig tatsächlich deutliche Emissionsminderungen anstoßen kann.

Dr. OLIVER GEDEN ist Experte für EU-Klima- und Energiepolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin.

  • 1Michael Oppenheimer und Annie Petsonk: Article 2 of the UNFCCC: Historical Origins, Recent Interpretations, Climate Change (2005) 73, S. 195–226.
  • 2Samuel Randalls: History of the 2° C climate target, WIREs Climate Change 1/2010, S. 598–605.
  • 3Für „politisierbare“ Unsicherheiten bei Temperaturprognosen vgl. Oliver Geden: Abkehr vom 2-Grad-Ziel. Skizze einer klimapolitischen Akzentverschiebung, SWP-Arbeitspapier der FG 1, Berlin, Mai 2010, S. 3–8.
  • 4Für Vor- und Nachteile verschiedener klimapolitischer Zielkategorien vgl. Detlef P. van Vuuren, John Weyant und Francisco de la Chesnaye: Multi-gas scenarios to stabilize radiative forcing, Energy Economics (2006) 28, S. 102–120.
  • 5Hans-Jochen Luhmann und Wolfgang Sterk: Klimaziele zuhause erreichen oder wo es am billigsten ist? Der „Clean-Development Mechanism“ als klimaregime-interner Investitionsmittelgenerator, Internationale Politik und Gesellschaft 2/2008, S. 107–125.
  • 6Sascha Müller-Kraenner und Martin Kremer: Von Kopenhagen nach Cancún. Roadmap für eine europäische Klima-Realpolitik. Internationale Politik – Online Exklusiv, Juli 2010, www.inter-nationalepolitik.de/exklusiv/view/1279205223.html.
  • 7Nigel Purvis and Andrew Stevenson: Rethinking Climate Policy. New Ideas for Transatlantic Cooperation Post-Copenhagen, The German Marshall Fund of the United States (Brussels Forum Paper Series), Washington 2010.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2010, S. 108 - 113

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