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01. Sep 2014

„Abbas ist ein Partner, die Hamas nicht“

Warum ein Frieden in Nahost noch immer möglich wäre – und mit wem

Der jüngste Gaza-Krieg hat die Hoffnungen auf einen friedlichen Ausgleich zwischen Israel und Palästinensern auf einen neuen Tiefpunkt sinken lassen. Was gibt noch Anlass zum Optimismus, was wären die Voraussetzungen für erneute Verhandlungen? Gershon Baskin, Gründer des israelisch-palästinensischen Think-Tanks IPCR, im Gespräch.

IP: Herr Baskin, zum dritten Mal nach 2008/09 und 2012 haben sich Israel und die Hamas eine heftige militärische Auseinandersetzung geliefert. Was muss geschehen, damit es nicht zu einem nächsten Krieg kommt?
Gershon Baskin: Zunächst einmal bestand das Problem darin, dass beide Seiten nicht wussten, wie sie diesen Krieg beenden können, ohne wesentliche politische Vorteile errungen zu haben – und keine Seite erlaubt der anderen Seite, einen solchen Vorteil für sich zu reklamieren. Was Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu offensichtlich sehen will, ist eine geschwächte Hamas. Doch die regiert immer noch.

IP: Warum will er eher eine geschwächte Hamas in Gaza, anstatt den Versuch zu unternehmen, der Palästinensischen Autonomiebehörde unter Machmud Abbas wieder zur Regierung über den Gaza-Streifen zu verhelfen?
Baskin: Er will meines Erachtens am Status quo festhalten. Denn eine geschwächte Hamas wäre keine Bedrohung mehr. Und da sie Verhandlungen mit Israel oder die Anerkennung des Existenzrechts Israels ablehnt, müsste man sich auch nicht auf Verhandlungen mit der Autonomiebehörde einlassen: Was nützt ein Abkommen, wenn eine wesentliche politische Kraft der Palästinenser sich nicht daran hält?

IP: Ist die Hamas denn wirklich geschwächt? Nach den vergangenen Auseinandersetzungen ist es ihr doch recht schnell gelungen, wieder aufzurüsten.
Baskin: Das israelische Militär scheint sich jedenfalls der Illusion hinzugeben, dass man der Hamas beträchtlichen Schaden zugefügt habe und dass man auch das eigene Abschreckungspotenzial wieder hergestellt habe. Offensichtlich ist man auch der Überzeugung, man könne eine Wiederbewaffnung verhindern. Nur: Vor Beginn des Krieges war die Hamas politisch und wirtschaftlich an einem Tiefpunkt angelangt. Mit dem Krieg hat sie neue Unterstützer gefunden: Nicht nur in Gaza, sondern auch in der Westbank solidarisieren sich viele mit ihr, weil sie sagen: Dieser Krieg wird nicht gegen die Hamas geführt, sondern gegen uns Palästinenser.

IP: Im Gaza-Streifen scheint sich aber auch Unmut über die Hamas zu regen.
Baskin: Noch ist die Bevölkerung Gazas zutiefst traumatisiert, da richtet sich alle Wut gegen Israel. Aber die Entscheidung der Hamas, sich in diesen Krieg zu begeben, könnte durchaus zum Boomerang werden. Die Leute sehen ja, dass es den Hamas-Führern weitgehend gelungen ist, sich in Sicherheit zu bringen, während die Zivilbevölkerung einen enormen Preis gezahlt hat. Es ist also nicht ganz ausgeschlossen, dass man die Hamas-Führung dafür verantwortlich macht, wenn das jetzige tiefe Trauma sich vielleicht ein bisschen gelegt hat. Grundsätzlich aber gilt: Die Hamas lässt sich nur durch politische und wirtschaftliche Maßnahmen schwächen.

IP: Und die wären?
Baskin: Ich habe schon vor langer Zeit vorgeschlagen, dass Israel die Arabische Friedensinitiative von 2002 als Grundlage für Verhandlungen akzeptieren solle. Diese Initiative wurde ja immerhin von allen islamischen Staaten angenommen, und sie verspricht eine Normalisierung der Beziehungen zu Israel, wenn Israel sich vollständig aus den 1967 besetzten Gebieten zurückzieht. Israel muss sich bereit erklären, direkt mit den Palästinensern unter Führung von Machmud Abbas über die Schaffung eines palästinensischen Staates auf dieser Basis zu verhandeln. Ich wäre auch dafür, die Nachbarstaaten mit Hilfe einer Konferenz auf Grundlage der arabischen Initiative einzubeziehen. Gaza muss Gegenstand der Verhandlungen sein, und es wäre notwendig, in Kooperation der Arabischen Liga mit Israel, den USA und den Europäern einen Fahrplan für die Schaffung eines palästinensischen Staates auch auf dem Gebiet Gazas vorzulegen, was natürlich die politische und wirtschaftliche Stabilisierung Gazas und die Entwaffnung der Hamas einschließt.

IP: Und wie wäre diese Entwaffnung zu bewerkstelligen?
Baskin: Ich würde eine arabisch geführte multinationale Truppe vorschlagen, die für ein halbes oder ganzes Jahr in Gaza stationiert wird, um die Hamas weitgehend zu entwaffnen – dafür ist es auch wichtig, Ägypten, Jordanien und die Palästinensische Autonomiebehörde einzubeziehen. Und ich würde ver-suchen, das Ganze mit einer Resolution des UN-Sicherheitsrats zu unter-füttern, sodass diese arabisch geführte multinationale Truppe ein starkes Mandat besäße.

IP: Gibt es dafür Bereitschaft auf der arabischen Seite?
Baskin: Wenn es eine Bereitschaft Israels gäbe, die Grundsätze der Arabischen Friedensinitiative anzunehmen, dann gehe ich ganz sicher davon aus, dass es eine große Bereitschaft auf arabischer Seite gäbe. Wir sprechen jetzt natürlich nicht von Krisenstaaten wie Libyen, Syrien oder dem Libanon – aber immerhin von Ägypten, Jordanien, Palästina, Saudi-Arabien und den Golf-Staaten; vielleicht wäre sogar Katar an Bord zu bekommen.

IP: Israel hat die Arabische Friedensinitiative nie besonders ernst genommen. Warum sollte es das jetzt tun?
Baskin: Vor Kurzem hat der saudische Prinz Turki al-Feisal einen Kommentar in der israelischen Zeitung Haaretz veröffentlicht, in dem er betont, dass diese Initiative natürlich kein Diktat ist. Wenn Israelis und Palästinenser andere Arrangements vereinbaren als jene, die in dieser Initiative festgelegt sind, so wäre das akzeptabel. Damit dürften einige der israelischen Vorbehalte im Grunde ausgeräumt sein. In der israelischen Regierung gäbe es da durchaus Interesse, aber das Problem ist der israelische Premierminister, denn eine solche Initiative kann ohne die Unterstützung des Premiers nicht auf den Weg gebracht werden oder als Verhandlungsgrundlage dienen. Netanjahu aber scheint unter allen Umständen am Status quo festhalten zu wollen.

IP: Aus ideologischen Gründen oder weil es ihm an strategischer Weitsicht fehlt?
Baskin: Weder noch. Netanjahu ist nicht nur ein Angstmacher, er empfindet diese Ängste selbst: Er fürchtet wirklich, dass in diesem Chaos, in dem sich der Nahe und Mittlere Osten gerade befindet, auch die Westbank zu einer Art von „Hamastan“ werden kann und man von dort einen für Israel wesentlich dramatischeren Raketenbeschuss erleben könnte als den aus Gaza.

IP: Ganz unbegründet ist diese Furcht doch aber nicht?
Baskin: Wenn wir nicht eine umfassende Lösung mit den Palästinensern finden, dann gibt es zwei sehr viel größere Probleme. Das eine ist die wachsende Isolation und Delegitimierung Israels, die wir ja jetzt schon beobachten können – die Welt ist schlicht der Auffassung, dass diese Besatzung nach 47 Jahren beendet werden muss. Und das zweite ist die Gefahr einer Destabilisierung in der Westbank – die sich jetzt schon abzeichnet –, in Ostjerusalem und in der arabischen Gemeinschaft in Israel und Jordanien. Das ist eine viel größere Bedrohung für Israel. Wenn wir uns aber in ernsthafte Verhandlungen begeben würden, dann könnten wir alle möglichen Sicherheitsarrangements diskutieren, die Israels Bedenken und auch berechtigten Befürchtungen Rechnung tragen – und die in einer Kooperation mit den Palästinensern, den Jordaniern, Ägyptern, den USA und Europa stattfinden könnten. Das würde Israel mehr Sicherheit geben, als auf dem Status quo zu beharren.

IP: Eine wichtige Voraussetzung dafür wäre es, die Hamas daran zu hindern, den Verhandlungsprozess zu stören. Wie könnte das gelingen?
Baskin: Die einzige Möglichkeit sehe ich in einem Plan, der drei Elemente berücksichtigt: Stabilität, die politische Seite des Konflikts und Ökonomie. Einfach nur Aufbau- oder sonstige Gelder in den Gaza-Streifen zu pumpen und zu denken, dann würde sich das Problem schon erledigen, wird nicht funktionieren. Wiederaufbau bei anhaltender umfassender Kontrolle durch Israel – die ja stattfindet, obgleich Israel nicht mehr im Gaza-Streifen selbst präsent ist – wird nichts daran ändern, dass die Menschen Freiheit haben und ihr Leben nach ihrem Gutdünken gestalten möchten. Es ist umgekehrt: Der Beginn von ernst gemeinten Verhandlungen würde die Hamas schwächen. Bislang haben wir faktisch die Extremisten gestärkt und den Moderaten im Grunde jegliche Belohnung für ihr Wohlverhalten verweigert – und zu diesem „Wohlverhalten“ gehört auch eine enge Sicherheitskooperation zwischen der Autonomiebehörde und Israel. Und ich meine „ernsthafte Verhandlungen“ und nicht das, was der amerikanische Außenminister John Kerry aufgeführt hat.

IP: Was war daran falsch?
Baskin: Gehen wir einmal davon aus, dass die Verhandlungen mit ernster Absicht begonnen wurden. Aber im November brach alles zusammen, danach haben sich Israelis und Palästinenser nicht ein einziges Mal mehr persönlich getroffen. Es hätte also offensichtlich sein müssen, dass es zu nichts führt, wenn die politischen Führungskräfte einander nicht treffen, ja noch nicht einmal miteinander telefonieren! Aber die Amerikaner haben bis Juni dieses Jahres die Scharade einer „Shuttle-Diplomatie“ aufgeführt, und alle anderen – auch die Europäer – haben bei dieser Farce mitgemacht, in der Hoffnung, dass man vielleicht doch irgendetwas erreichen könnte. Das ist aberwitzig.

IP: Wenn Premier Netanjahu und Präsident Abbas nicht einmal miteinander telefonieren, warum sollten sie jetzt in ernsthafte Verhandlungen eintreten?
Baskin: Vertrauen muss man erst aufbauen. Und das gilt doch vor allem für den israelisch-palästinensischen Kontext, in dem beide Seiten immer wieder gegen Vereinbarungen verstoßen haben. Vertrauen ist nur durch Taten wieder herzustellen und nicht durch gegenseitige Versicherungen, denn die haben ihre Glaubwürdigkeit längst verloren. Grundsätzlich ist die Bedeutung guter persönlicher Beziehungen nicht zu unterschätzen. Und dann geht es natürlich um den politischen Willen. Auf der palästinensischen Seite ist der doch zweifelsohne vorhanden: Man will einen Staat. Abbas hat Netanjahu auch wiederholt wissen lassen, dass er bereit ist, sich mit dem israelischen Premier zu treffen – öffentlich oder auch nicht öffentlich. Keine Antwort.

IP: Nochmals: Was würde dieses Verhalten ändern?
Baskin: Ein Schluss, den wir aus diesem Krieg ziehen können, ist doch: Abbas ist ein Partner für Verhandlungen, die Hamas ist es nicht. Und das verstehen auch immer mehr Leute selbst in dieser Regierung – auch Leute, die vorgestern noch glaubten, bei Abbas handele es sich ebenfalls um einen Terroristen. Es könnte sich also eine strategische Neuausrichtung ergeben, die in etwa so aussieht: Die Region befindet sich im Zerfall, islamischer Fundamentalismus und Dschihadismus werden stärker, und wir müssen versuchen, unsere strategische Lage deutlich zu verbessern. Das wäre möglich, wenn wir regional verankerte Sicherheits- und Friedensabkommen hätten.

IP: Können die USA und Europa hier eine Rolle spielen – oder ist jetzt der Moment gekommen, dieses Problem von den regionalen Beteiligten lösen zu lassen?
Baskin: Ein kompletter Rückzug wäre falsch. Ideal wäre es, wenn die USA und Europa eher als Moderatoren auftreten, die beide Seiten zusammenbringen, Ideen einspeisen und den Prozess erleichtern, aber nicht kontrollieren würden.

IP: Israels Außenminister Avigdor Liebermann hat vor Kurzem die Idee aufgebracht, deutsche Inspektoren an die Grenzen des Gaza-Streifens zu schicken, um weiteren Waffenschmuggel zu unterbinden.
Baskin: Liebermann hat vorgeschlagen, dass solche Inspektoren eingesetzt werden, wenn die Hamas nicht mehr an der Macht ist – wie auch immer er das anstellen will. Er könnte sich eine UN-Peacekeeping-Mission in Gaza vorstellen, die nach dem Vorbild der UN-Kräfte in Ost-Timor und Kosovo funktionieren würde.

IP: Aber die Vorbedingung wäre, dass die Hamas nicht mehr an der Macht wäre. Ist das nicht illusorisch?
Baskin: Rein militärisch betrachtet ist es möglich, dass Israel den Gaza-Streifen wieder besetzt. Aber nur zu einem unerhörten Preis – es wäre wohl der Aus-löser für eine dritte Intifada.

IP: Auch hierzulande wird vorgeschlagen, wieder Polizeikräfte zur Grenzkontrolle nach Gaza zu schicken, um Waffenschmuggel zu unterbinden. Ist das realistisch?
Baskin: Es gab ja in diesem Sinn keine Polizeikräfte in Gaza, sondern eine „Monitoring Commission“ namens EUBAM, deren Aufgabe es war, die Implementierung eines Abkommens zur Grenzsicherung zu überwachen – als die Palästinensische Autonomiebehörde dort noch an der Regierung war. Ein „Monitoring“, das mit zivilen Kräften durchgeführt wird, ist eine ganz andere Aufgabe als „Entmilitarisierung“, für die man gut bewaffnete und mit einem robusten Mandat versehene Kräfte braucht. Niemand würde eine solche Mission ohne ein größeres Abkommen auf sich nehmen, denn das würde im Grunde nichts anderes bedeuten, als Leute in den Tod zu schicken. Und welches Land würde seine Bürger für Gaza sterben lassen?

Gershon Baskin ist Kodirektor des Israel/Palestine Center for Research and Information (IPCRI) – einem Think-Tank, den er im Jahre 1988 gründete. Er war wesentlich an den Verhandlungen mit der Hamas zur Freilassung des Soldaten Gilad Shalit beteiligt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2014, S. 40-44

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