Zwingende Unabhängigkeit
Ein funktionierendes Justizsystem ist ein unhinter- fragbarer Kern der Rechtsstaatlichkeit: Warum es den Bürgerinnen und Bürgern der EU alles andere als egal sein kann, wie es um das Recht und Gerichte anderer Mitgliedstaaten bestellt ist.
Vor Gericht mag mancher sich ebenso verloren fühlen wie auf dem großen weiten Meer. Dennoch zeigen Trendanalysen, dass das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in das deutsche Rechtssystem hoch ist: Aktuell haben 70 Prozent „sehr viel“ oder „ziemlich viel“ Vertrauen. Auf europäischer Ebene sieht es nicht ganz so überzeugend aus. Im Durchschnitt der EU-Mitgliedstaaten hat immerhin noch knapp mehr als die Hälfte der Befragten Vertrauen in die Justiz und das nationale Rechtssystem. Schaut man jedoch etwas genauer hin, zeigt sich ein erhebliches Gefälle.
Am unteren Rand der Zustimmungsskala ist das Verhältnis genau umgekehrt. Nur knapp 20 Prozent der Befragten in Bulgarien und Kroatien haben Vertrauen in die nationalen Gerichte. Natürlich spiegeln diese Zahlen lediglich die persönliche Wahrnehmung Einzelner, doch ist das Vertrauen der Bevölkerung zumindest ein guter Indikator, wie es um das Justizsystem eines Landes bestellt ist. Denn üblicherweise entsteht Vertrauen in ein Rechtssystem, wenn Gerichtsverfahren als fair und Richter als unabhängig wahrgenommen werden. Gerade die richterliche Unabhängigkeit ist der Grundbaustein eines nach rechtsstaatlichen Prinzipien funktionierenden Justizsystems. Laut dem Justizbarometer der EU-Kommission wird die Unabhängigkeit der Justiz in fast der Hälfte der EU-Staaten skeptischer beurteilt als im Vorjahr. Der am häufigsten genannte Grund ist Einflussnahme und Druck durch Staat und Politik, gefolgt von Druck durch wirtschaftliche oder sonstige Interessen.
Dieser Beitrag will die Unabhängigkeit der Justiz in der EU beleuchten. Dabei geht es vor allem um den Begriff der Rechtsstaatlichkeit als solches im europäischen Kontext und die Gefahren, denen der Rechtsstaat ausgesetzt ist. Exemplarisch sollen die Justizreformen in Polen unter die Lupe genommen werden, ihre Bedeutung im EU-Gefüge und was die EU-Organe den bedenklichen Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre entgegenzusetzen haben.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hielt der Begriff des Rechtsstaats Einzug in die politische Sprache. Das Konzept des modernen Rechtsstaats, so wie wir es heute kennen, wurde jedoch erst aufgrund der Erfahrungen von Faschismus und Diktatur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entwickelt. Es sollte die Grundlage und Absicherung der Demokratie und Menschenrechte sein. In den Gründungsverträgen der EU fand die Rechtsstaatlichkeit noch keine Erwähnung. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) sollte diese Lücke sehr bald schließen. 1992 wurde mit dem Vertrag von Maastricht auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des EU-Rechts Bezug genommen. Fünf Jahre später fanden die europäischen „Grundsätze“, auf denen die Union beruht, mit dem Vertrag von Amsterdam explizit Eingang ins Primärrecht. Die Rechtsstaatlichkeit wurde erstmals ausdrücklich genannt mit dem erneuten Zusatz, dass diese Grundsätze allen Mitgliedstaaten gemein sind. Der Vertrag von Lissabon deutete die „Grundsätze“ in „Werte“ um.
In der Ära vor dem Brexit lebten wir überzeugten Europäer im Glauben, dass sich das europäische Friedensprojekt nur in eine Richtung entwickeln könne. Noch vor zehn Jahren schien es völlig abwegig, dass sich der EuGH in einem Urteil über die Rechtsstaatlichkeit eines Mitgliedstaats Gedanken machen müsste. Die in Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verankerten Grundwerte galten als Selbstverständlichkeit und Basis unserer gemeinsamen Werteordnung.
Die jüngere Vergangenheit hat gezeigt, dass es zumindest bei dem konkreten Verständnis und der Auslegung der Begrifflichkeiten doch erhebliche Unterschiede gibt. „In einer Reihe von Mitgliedstaaten gibt es Anlass zu ernster Besorgnis“, so die zuständige Vizepräsidentin der EU-Kommission, Věra Jourová, bei der Vorstellung des zweiten Rechtsstaatsberichts im Juli 2021. Insbesondere mit Blick auf die Unabhängigkeit der Justiz hatte sie vermutlich vor allen Dingen Polen vor Augen. Auch für Fachleute ist es mittlerweile nicht einfach, den Überblick über die vielen EuGH-Verfahren zu behalten.
Die EU sitzt auf einem Pulverfass
Die viel kritisierten Justizreformen der PiS-Regierung in Polen wurden anhand von mehr als 30 Gesetzen durchgeführt, sie betreffen die gesamte Struktur des Justizsystems. Seit der gewonnenen Wahl von 2015 wollte die PiS (übersetzt: „Recht und Gerechtigkeit“) vor allem den Einfluss der Exekutive und Legislative auf das Justizsystem verstärken. Den Anfang machte die Reform des Verfassungstribunals – das polnische Verfassungsgericht. Im nächsten Schritt wurde der Nationale Richterrat (KRS) in die Mangel genommen. Dem Landesjustizrat obliegen vor allem die Überwachung der Richterausbildung und -ernennung sowie die Durchführung von Disziplinarverfahren. Das zentrale Ziel war und ist, zahlreiche Richterinnen und Richter am Obersten Gericht und in den unteren Instanzen auszutauschen. Einher ging die Umsetzung der Reformen mit einem groß angelegten Propagandaangriff auf das polnische Justizwesen. Einzelne Fehltritte von Richtern wurden instrumentalisiert, um das Bild eines korrupten, ineffizienten und elitären Justizsystems zu zeichnen. Die PiS-Regierung zeigte sich dabei unbeeindruckt von nationalen Protesten sowie internationaler Kritik und setzt Richter auch weiterhin unter Druck.
Im Dezember 2017 richtete die PiS-Regierung per Gesetz eine neue Disziplinarkammer ein mit der Möglichkeit, jeden Richter oder Staatsanwalt zu entlassen. Auch bekam der Justizminister weitgreifende Vollmachten für die Disziplinierung von Richtern.
Nach den Angaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gingen zwischen 2018 und 2021 wegen der Justizreform 57 Beschwerden gegen Polen ein. Auch der EuGH beschäftigte sich in zahlreichen Verfahren mit der Causa Polen. Dabei geht es um weit mehr als das Richterdienstrecht in Polen – nämlich um den systematischen Umbau des gesamten Justizsystems.
Das große Ganze
Der europäische Integrationsprozess geht heute weit über die Schaffung eines reinen Binnenmarkts hinaus. Viele Lebensbereiche sind durch Unionsrecht bestimmt. Damit dieses Geltung entfalten kann und Unionsbürger in allen Mitgliedstaaten die gleichen Rechte und den gleichen wirksamen Rechtsschutz der EU genießen, kommt den nationalen Gerichten eine entscheidende Rolle zu. Der EuGH hat es in seiner Entscheidung gegen Polen so ausgedrückt: „In diesem Kontext überträgt Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, die den Einzelnen aus diesem Recht erwachsen, zu gewährleisten.“ Die nationalen Gerichte fungieren mithin als „Gatekeeper“ der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU. Der Präsident des EuGH, Koen Lenaerts, drückte es Anfang 2020 so aus: „Ohne richterliche Unabhängigkeit werden die im EU-Recht verankerten Rechtsbehelfe zu einem Papiertiger.“
Aber auch ein anderer Punkt spielt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle. Reden wir über die Freizügigkeit in der EU und die damit einhergegangene schrittweise Abschaffung von Grenzkontrollen, hat dies nicht nur positive Effekte. Auch für Straftäter ist es leichter, über Landesgrenzen hinweg zu operieren. Mit der Schaffung des Binnenmarkts ging aus diesem Grund die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen einher. Ein Grundpfeiler dieser Zusammenarbeit ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen. Demnach sind gerichtliche Entscheidungen, die in einem Mitgliedstaat ergangen sind, in allen anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen. Damit dieser Grundsatz ordnungsgemäß funktioniert, müssen die nationalen Gerichte darauf vertrauen, dass sich die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten in gleicher Weise für den Schutz der Grundrechte der betroffenen Personen einsetzen. „Deshalb hat jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als Gerichte im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems sind, in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gewähren“, wie es der EuGH im „portugiesischen Richterfall“ eindringlich anmahnt. Es kann uns daher keinesfalls gleichgültig sein, wie die nationalen Gerichte und das Justizsystem eines Mitgliedstaats beschaffen sind.
Was also sollte unternommen werden, wenn die Exekutive und/oder die Legislative eines Mitgliedstaats in unzulässiger Weise in das Justizsystem eingreift? Die EU-Verträge bieten nicht das passende Instrumentarium, um mit anhaltenden Verstößen der Mitgliedstaaten gegen die Rechtsstaatlichkeit umzugehen. Gerade der Fall Polen zeigt ganz deutlich die schwierige Gemengelage.
Sanktionsmechanismen
Die europäischen Verträge sehen verschiedene Möglichkeiten vor, wenn Mitgliedstaaten sich nicht an EU-Recht halten. In erster Linie gibt es das in den Art. 258–260 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) vorgesehene Vertragsverletzungsverfahren. Mit dem Vertrag von Amsterdam wurde darüber hinaus durch Art. 7 EUV ein weiterer Sanktionsmechanismus geschaffen. Dieser hat gerade die Gefahr einer Verletzung der in Art. 2 genannten Werte vor Augen. Bei der Einführung des Verfahrens 1997 ist aber wohl niemand wirklich davon ausgegangen, dass davon jemals Gebrauch gemacht werden würde.
Mit Blick auf die obigen Ausführungen überrascht es wohl nicht, dass das Art. 7-Verfahren erstmals 2017 gegen Polen eingeleitet wurde. Dieses hoch politische Verfahren stößt aber vor allem an seine Grenzen, weil es in letzter Instanz Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten erfordert. Die EU-Organe saßen jedoch nicht tatenlos auf der Zuschauerbank. Als Reaktion auf die Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit einzelner Mitgliedstaaten haben sowohl die Kommission als auch der Rat und das Parlament jeweils einen neuen Mechanismus implementiert. 2014 verabschiedete die Kommission einen neuen EU-Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips. Dies ist ein dialogisches Verfahren, um frühzeitig Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit zu identifizieren und durch konkrete Empfehlungen der Kommission gegenzusteuern. Dieses nicht ganz unumstrittene Vorgehen der Kommission kann als Vorstufe zu dem Art. 7-Verfahren gesehen werden. Im Fall von Polen konnte es das Art. 7-Verfahren jedoch nicht abwenden.
Weiterentwickelt wurde das Konzept durch einen jährlichen Rechtsstaatsbericht der Kommission. Dieser 2020 erstmals veröffentlichte Bericht nimmt alle Mitgliedstaaten gleichermaßen unter die Lupe und setzt ebenfalls eher auf einer präventiven Ebene an. Als Gegenvorschlag beschloss der Rat der EU ebenfalls 2014 einen Dialog zwischen allen Mitgliedstaaten, um die Rechtsstaatlichkeit zu fördern und zu schützen. Dieser jährlich stattfindende Austausch scheint wenig strukturiert und zielführend. Gegenüber Polens Vorgehen wurde, wenn überhaupt, nur verhaltene Kritik geübt. Das Europäische Parlament setzte indes auf die Einrichtung eines „EU-Mechanismus für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Grundrechte“, vor allem um an bestehende Instrumente anzuknüpfen. Das Parlament forderte die Kommission auf, auf der Grundlage seiner Entschließung bis September 2017 einen Vorschlag in Form einer interinstitutionellen Vereinbarung zwischen Parlament, Kommission und Rat zur Angleichung und Ergänzung der bestehenden Mechanismen vorzulegen. Dies ist bis heute nicht erfolgt, es gibt berechtigte Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Vorgehens.
Gerade Polens Beispiel zeigt die inhärenten Schwächen des Rechtsstaatlichkeitsrahmens im Umgang mit anhaltenden Verletzungen ebendieser Rechtsstaatlichkeit. Dies hat die Kommission dazu bewogen, die Daumenschrauben enger zu ziehen. Bereits 2018 legte sie den Vorschlag vor, die Zahlung von EU-Geldern an den Zustand der Rechtsstaatlichkeit zu knüpfen. Nach jahrelangem Hin und Her wurde 2020 die „Verordnung über eine allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union“, auch „Konditionalitätsverordnung“ genannt, verabschiedet. Kurz nach Ostern hatte Ursula von der Leyen angeordnet, dieses Verfahren erstmals gegen Ungarn einzuleiten.
Bei der Zusammenschau aller vorhandenen Instrumente und Mechanismen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die unterschiedlichen Ansätze der EU-Institutionen nicht in Gänze die Wirkung entfalten, die sie sollten. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob so die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten gestärkt wird. Mit Blick auf Polen scheint das fraglich. Auch heute, sieben Jahre nach den ersten Reformen, ist ein wirkliches Einlenken der PiS-Regierung nicht zu erkennen. Zwar ist mittlerweile die Abschaffung der umstrittenen Disziplinarkammer beschlossene Sache – der Geist der Rechtsstaatlichkeit scheint diesem Schritt wohl jedoch nicht zu Grunde zu liegen. Dennoch ist die EU ein enormes Stück weitergekommen. Im Vergleich zu den 1990er Jahren verfügt sie über viele Instrumente. Bestehende Mechanismen dürften immer wieder verfeinert werden, um den bestehenden Herausforderungen gerecht zu werden.
Zentrale Rolle des EuGH
Ein entscheidender Player im Rechtsstaatsdrama ist auch der EuGH. Die Werte, die in Art. 2 EUV aufgeführt werden, stehen für vage umrissene Kategorien. Bislang gibt es keinen verbindlichen, in der EU anerkannten Kriterienkatalog, was genau unter Rechtsstaatlichkeit zu verstehen ist. Diese Lücke scheint der EuGH schließen zu wollen. Seit 2018 fällte der EuGH mehrere wegweisende Entscheidungen zu den Justizreformen in Polen. Das Signal war stets eindeutig: Wir werden alle Hebel in Bewegung setzen, um die Entwicklungen zu stoppen.
Exemplarisch sei die Entscheidung vom 15. Juli 2021 genannt. Der EuGH stellte im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Polen fest, dass die eingerichtete Disziplinarkammer gegen EU-Recht verstößt. Insbesondere stellte er fest, dass sie nicht jede Gewähr für Unparteilichkeit und Unabhängigkeit bietet und nicht vor dem direkten oder indirekten Einfluss der polnischen Legislative und Exekutive geschützt ist. Von der Errichtung der Disziplinarkammer bis zum Urteil sind vier Jahre vergangen. Aufsehen erregte das Verfahren, weil der EuGH dem Ganzen besonderen Nachdruck verliehen hat, indem er Polen per einstweiliger Anordnung wegen der Nichtbeachtung des Urteils zur Zahlung eines täglichen Zwangsgeldes in Höhe von einer Million Euro verpflichtete. Man spricht aktuell von etwa 160 Millionen Euro, die aufgelaufen sind.
Das letzte Wort ist sicherlich noch nicht gesprochen. Der Konflikt zwischen der EU und Polen hat die nächste Eskalationsstufe erreicht. Aus dem innerpolnischen Konflikt um Rechtsstaatlichkeit, insbesondere bezüglich der Unabhängigkeit der Justiz, ist ein europäischer Verfassungskonflikt geworden. Mittlerweile geht es um viel grundsätzlichere Fragen: die Anerkennung von EuGH-Entscheidungen und den Vorrang des EU-Rechts. Im Oktober urteilte das Verfassungsgericht in Polen – man erinnere an die Reform des Verfassungstribunals –, dass der EuGH keine Entscheidungen über die polnische Justiz treffen dürfe. „Der Versuch des EuGH, sich in das polnische Justizwesen einzumischen, verstößt gegen die Regel des Vorrangs der Verfassung und gegen die Regel, dass die Souveränität im Prozess der europäischen Integration bewahrt bleibt“, liest man da schwarz auf weiß.
Grundpfeiler des Systems
Renommierte Europarechtler sehen in dem dargestellten Vorgehen der EU-Organe gegen die Angriffe auf den Rechtsstaat „den schnellsten, radikalsten und grundlegendsten Umbau der EU seit Inkraftsetzung des Vertrags von Maastricht“. In der Fachliteratur wird dies nicht ganz unkritisch beobachtet. Ob und in welcher Form die EU-Organe die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten fordern können, soll dahingestellt bleiben. Fakt ist, dass die richterliche Unabhängigkeit als ein wesentlicher Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit ein hohes Gut ist, das es zu verteidigen gilt. Zur Aufrechterhaltung der staatlichen Gewaltenteilung und der gegenseitigen Kontrolle der Verfassungsorgane müssen Gerichte eine Reihe von Sicherheiten genießen, die es ihnen ermöglichen, ohne Furcht und Begünstigung zu arbeiten.
Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit gehört zu den Grundpfeilern eines jeden demokratischen Regierungssystems. Die Aufnahme der Rechtsstaatlichkeit in Art. 2 EUV war daher nicht zufällig, entspringt sie doch den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten. Es wird noch viel passieren müssen, bis gemeinsame Traditionen hier in tatsächlich gemeinsames, allseits akzeptiertes Handeln münden.
Internationale Politik Sprecial 4, Juli 2022, S. 14-19