Zum Zerreißen gespannt
Israel ringt wie wenige andere Länder mit den Folgen der Corona-Pandemie. Infektions- und Sterberate sind im internationalen Vergleich sehr hoch. Netanjahu sieht sich juristischen Verfahren und Dauerdemonstrationen gegenüber und bekommt die Lage nicht in den Griff. Lockdown, Krise, Spaltung: Wo ist der Ausweg?
Das Land wird geschlossen“, meldete das israelische Nachrichtenportal ynetnews.com drei Tage vor Beginn des höchsten jüdischen Feiertags Yom Kippur. In der Nacht zum 24. September verordnete das Kabinett von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Israel seinen zweiten Lockdown.
Diese neue Ausgangssperre schränkt den Alltag der Israelis und die wirtschaftliche Produktivität des Landes noch viel weitreichender ein als die Maßnahmen des ersten Lockdown im März und April. Bis zum 14. Oktober durften nur lebenswichtige Geschäfte und Industriezweige geöffnet bleiben und produzieren. Außerdem kündigte Netanjahu am 1. Oktober bei einer Sitzung seines Corona-Kabinetts an, dass diesmal – anders als beim ersten Lockdown – die Exit-Strategie deutlich langsamer ausfallen werde. Die Rückkehr zur Normalität könne „sechs Monate und bis zu einem Jahr dauern“, zitierte ihn der Nachrichtenkanal Channel 12 News.
Die Chefökonomin im Finanzministerium, Shira Greenberg, prognostiziert für diesen zweiten landesweiten Lockdown einen gesamtwirtschaftlichen Schaden von knapp neun Milliarden Euro. Aber die Infektionslage ist so ernst, dass diese Maßnahmen der Regierung nötig erscheinen, um zu verhindern, dass das Geschehen völlig außer Kontrolle gerät. Am 30. September wurden in Israel an einem Tag 9000 Neuinfektionen registriert. Mit dieser Infektionsrate pro Tag und Kopf steht Israel laut Angaben der Johns Hopkins Universität und der Weltbank im weltweiten Vergleich an erster Stelle.
Von den rund neun Millionen Menschen, die in Israel leben, haben sich seit Ausbruch der Pandemie bis Anfang Oktober 255 711 mit Covid-19 infiziert. Die Infektionsrate lag in der ersten Oktoberwoche im Durchschnitt bei 12,3 Prozent. 16 Städte im Land hatten Anfang Oktober mehr als 1000 aktive Corona-Fälle. Allein in Jerusalem gab es 7554 Infizierte und im wesentlich kleineren Bnei Brak 4985. Das ist kein Zufall, denn die Ansteckungsrate unter den Charedim, den streng religiösen Israelis, liegt nach neuesten Zahlen des israelischen Gesundheitsministeriums bei 30,75 Prozent.
Sehr hohe Mortalität
In den arabischen Städten und Dörfern haben sich bisher 13 Prozent der Bevölkerung mit dem Virus infiziert. Besondere Besorgnis erregt die hohe Sterberate, deren Tageswert inzwischen pro Kopf höher liegt als in den USA: Jeden Tag sterben etwa 31 Israelis infolge einer Corona-Infektion, manche Krankenhäuser im Land sind am Rande ihrer Kapazitätsgrenze. Seit Ausbruch der Pandemie sind mehr als 1622 Israelis an den Folgen einer Covid-19-Infektion gestorben.
Im Angesicht dieser ernsten Lage treten die Spannungen im Inneren des Landes deutlich hervor: In den Sendungen des Militär-Rundfunks Galei Zahal beschuldigen sich zurzeit Vertreter der streng Religiösen und Organisatoren der seit drei Monaten anhaltenden Proteste gegen Netanjahu gegenseitig, für die Ausbreitung des Virus verantwortlich zu sein.
Neue Statistiken vom 1. Oktober zeichnen jedoch ein klares Bild: 40 Prozent der nach Yom Kippur positiv Getesteten sind nach Auskunft des Corona-Beauftragten der Regierung, Ronni Gamzu, Angehörige der streng religiösen Community. Das zeigt eine deutlich überproportionale Verbreitung des Virus in den Vierteln und Städten der Charedim, liegt doch der Gesamtanteil der streng Religiösen an der israelischen Bevölkerung nur bei 12 Prozent. 67 Prozent der jüdisch-israelischen Gesellschaft gehören nicht der streng religiösen Gemeinschaft an. Und 21 Prozent der Israelis sind Araber.
Schon seit März ist die Corona-Krise das vorherrschende Thema in den israelischen Medien; aber seit dem jüdischen Neujahrsfest Rosh Hashana hat sich die Infektionslage so dramatisch verschlechtert, dass sich auch der Ton der Kommentatoren und Berichterstatter auf den israelischen Informationsportalen, in den Zeitungen, Radio- und Fernsehkanälen verschärft.
Der Knesset-Reporter der größten Tageszeitung Yedioth Ahronoth zum Beispiel, Amichai Attali, sieht nur zwei Auswege aus der Krise: entweder umfassende Kooperation der Zivilbevölkerung oder strikte polizeiliche Kontrolle. Sein Kommentar vom 30. September ist überschrieben mit: „Israels letzte Chance, das Corona-Virus zu besiegen“. Da Teile der Zivilbevölkerung nicht zur Kooperation und Selbstdisziplin bereit sind, bleibt nach Meinung von Attali nur eine drastische Verschärfung der Überwachung: Kontrolleure und Polizisten an jeder Straßenecke, Stichprobenkontrollen in Geschäften und in den Wohnungen der Bürger, die in Quarantäne bleiben müssen, und schließlich schmerzhafte Strafen für jeden, der gegen die Anweisungen für den Schutz der öffentlichen Gesundheit verstößt. Amichai Attali sieht Israel auf eine Katastrophe zusteuern, wenn nicht sofort ein striktes Kontrollregime implementiert wird.
In der liberalen Tageszeitung Haaretz kritisiert Amos Harel die charedischen Rabbiner, die während des 25 Stunden dauernden Versöhnungstags Yom Kippur trotz der hohen Ansteckungsgefahr auf der Anwesenheit der Gläubigen in der Synagoge bestanden. Sie hätten die Anweisung, die Gebete nicht in geschlossenen Räumen abzuhalten, „massenhaft missachtet“. Außerdem kehrten Tausende Studenten von Talmud-Schulen – entgegen anderslautender Verabredungen mit der Regierung – über den Feiertag nach Hause zurück, ohne vorher einen Corona-Test gemacht zu haben. Nach Yom Kippur bildeten sich dann vor den neu eröffneten Testzentren in charedischen Vierteln und Städten lange Schlangen, in denen die Menschen sich dicht aneinanderdrängten.
Der Vorsitzende der säkularen nationalistischen Partei „Israel Beiteinu“, Avigdor Lieberman, warf Netanjahu und dessen charedischen Koalitionspartnern, Schas und Vereinigtes Thora-Judentum, vor, den Staat Israel mit diesem fahrlässigen Handeln „seinem Tod“ nähergebracht zu haben. Diese Äußerung hält Amos Harel zwar für „hysterisch“. Aber dass Netanjahu die Missachtung der Pandemievorgaben der Regierung unter den Charedim nicht zu verhindern wusste, führt Harel darauf zurück, dass der Regierungschef das Interesse an der Gesundheit und dem Wohlergehen der Bürger Israels verloren habe.
In der Tageszeitung Jerusalem Post kann der modern-orthodoxe Rabbiner und Philosoph Yitz Greenberg nicht fassen, dass die Verantwortlichen der streng religiösen und nationalreligiösen Gruppierungen das zentrale Gebot der Thora, den Schutz des Lebens nämlich, sehenden Auges verraten, um einem Verlust ihres Einflusses und ihrer Macht zuvorzukommen. Wenn die religiösen Führer sich der „Thora des Lebens“ verpflichtet gefühlt hätten, so Greenberg, hätten sie die ersten sein müssen, die religiöse Feste, Hochzeiten und Gottesdienste aussetzten. Auf diese Weise hätten sie demonstrieren können, wie sie „die Heiligkeit des Lebens durch soziale Distanzierung“ hochhalten.
Leider habe auch das nationalreligiöse Rabbinat dem Treiben der charedischen Führung nichts entgegengesetzt. Die Nationalreligiösen hätten nur zugesehen und nichts zum Schutz der öffentlichen Gesundheit beigetragen, schreibt Greenberg.
Dieses Verhalten lege eine tiefe Krise innerhalb der orthodoxen Gemeinschaft offen. Die Orthodoxie müsse jetzt ihre „grausame Interpretation der Halacha“, des jüdischen Religionsgesetzes, überdenken und sich auch davon verabschieden, Frauen herabzuwürdigen, Homosexuelle zu dämonisieren und die Thora dadurch zu verfälschen, dass das Leben selbst nicht an oberster Stelle stehe. „Die Orthodoxie muss gemeinsam darauf hinarbeiten, sich von der Überzeugung zu verabschieden, dass sie allein die ganze Wahrheit besitzt und nichts von anderen religiösen Gruppen oder von der Wissenschaft lernen kann“, schreibt Greenberg.
Zerrissene Gesellschaft
In Yedioth Ahronoth konstatiert Ram Fruman, der Vorsitzende des Secular Forum, einer Organisation, die sich für ein säkulares Bildungssystem einsetzt, die Pandemie habe der israelischen Gesellschaft „alle Masken vom Gesicht gerissen“ und lege nun ihre Zerrissenheit offen. Die Spaltung zwischen den säkularen und streng religiösen Teilen der Gesellschaft gehe jetzt so tief wie nie zuvor.
Angesichts der willentlichen Verletzung der Corona-Verhaltensregeln in streng religiösen Stadtvierteln und Städten sieht Fruman keine Möglichkeit mehr für eine friedliche Koexistenz. Er schlägt eine Trennung des Landes in eine religiöse und eine säkulare Community vor. Dies sei „notwendig für das geistige Wohl beider Seiten“. Das Zusammenleben habe nichts als Feindschaft und Streit hervorgebracht. „Eine Trennung könnte für uns alle gesünder sein“, so Fruman.
Die Idee des Nationalstaats sei möglicherweise kein gangbarer Ordnungsrahmen mehr. Dies werde unter anderem am Beispiel der gespaltenen Gesellschaften der USA und Israels deutlich. Das einzige verbindende Element über alle gesellschaftlichen Gruppen hinweg sei in Israel die Bedrohung der Sicherheit des Staates. Die jüngsten Normalisierungsabkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain aber könnten in dieser Hinsicht auch schon in Kürze eine Veränderung bringen. „Eines ist gewiss“, schreibt Fruman in seinem Kommentar, „ein Zusammenleben hat sich als unmöglich erwiesen.“
Als Polizisten am Tag nach Yom Kippur fünf Beter in einer Synagoge in der Siedlung Modi’in Illit in der Westbank festhielten, versammelten sich mehrere Hundert religiöse Einwohner der Stadt zu spontanen Protesten. Wie die Online-Zeitung The Times of Israel berichtet, schrien die Demonstranten den Polizisten entgegen: „Nur die Weisen der Thora werden darüber entscheiden, was erlaubt und was verboten ist.“
Einschränkung der Proteste
Nur wenige Stunden später verabschiedete die Knesset nach einer langen Nachtsitzung am 30. September um 4.30 Uhr morgens ein umstrittenes Gesetz, das die Demonstrationsfreiheit einschränkt. Protestierende dürfen sich nicht weiter als einen Kilometer von ihrer Wohnung entfernen, Zusammenkünfte von mehr als 20 Menschen sind auch im Freien verboten.
Kritiker des Gesetzes werfen der Regierung vor, damit vor allem die Proteste gegen Netanjahu im Keim ersticken zu wollen. Seit vielen Wochen protestieren jede Nacht mehrere Tausend Menschen gegen den Premier und fordern seinen Rücktritt. Er muss sich zurzeit wegen Bestechung, Betrugs und Verletzung des öffentlichen Vertrauens vor Gericht verantworten.
Kurz nach der Verabschiedung des umstrittenen Gesetzes zur Einschränkung der Demonstrationsfreiheit haben die Organisatoren der Proteste allerdings schon einen Plan B parat. Sie wollen den Druck auf Netanjahu aufrechterhalten, indem sie Tausende kleiner Demonstrationen überall im Land organisieren.
Eine der vielen Gruppierungen, die seit drei Monaten vor der Residenz des Ministerpräsidenten in der Balfour-Straße in Jerusalem demonstrieren und Netanjahus Rücktritt fordern, ist die Bewegung „Schwarze Flagge“. Sie hat auf Google Maps eine virtuelle Karte mit 2500 Fähnchen im ganzen Land veröffentlicht, die mögliche Treffpunkte für Demonstrationen markieren.
Außerdem organisiert die zivilgesellschaftliche Bewegung „Darkenu“ schon seit März regelmäßige Online-Demonstrationen, bei denen sich schon bis zu 800 000 Israelis via Facebook, Twitter und Youtube Live zuschalteten. Die „Darkenu“-Bewegung möchte möglichst unterschiedliche politische Positionen integrieren.
Während der Lockdown den Kindern, Jugendlichen, ihren Eltern und Großeltern in Israel strenge soziale Distanzierung auferlegt, Homeschooling und im besten Fall Homeoffice, im schlechtesten Fall Arbeitslosigkeit, häufen sich Berichte über häusliche Gewalt.
Ältere Menschen vereinsamen in sozialen Einrichtungen oder Wohnungen. Und die Arbeitslosigkeit steigt unaufhaltsam. Am 30. September veröffentlichte das Amt für Arbeitsvermittlung, dass 909 460 Israelis arbeitslos gemeldet sind. Nach Angaben der Bank of Israel hat in 17 Prozent der Haushalte einer von zwei Verdienern seinen Job verloren; in 2 Prozent der Haushalte wurden beide Arbeitnehmer entlassen. Im Durchschnitt haben die israelischen Haushalte knapp 20 Prozent weniger Einkommen.
Noch liegen die Corona-Infektionsraten der Feiertage Sukkot und Simchat Thora nicht vor. Aber die säkular und traditionell lebende Mehrheit der Israelis erwartet jetzt von der Regierung Netanjahu, dass es ihr gelingt, die charedische Community auf die Einhaltung der Corona-Verhaltensregeln zu verpflichten. Davon hängt nicht nur für den weiteren Verlauf der Pandemie, sondern auch für den inneren Zusammenhalt des ganzen Landes viel ab.
Dr. Ruth Kinet ist Journalistin und Autorin für öffentlich-rechtliche Hörfunksender und Zeitschriften. Fünf Jahre hat sie als Korrespondentin des Netzwerks „Weltreporter.net“ aus Israel und den palästinensischen Gebieten berichtet. Heute reist sie weiterhin mehrmals im Jahr nach Israel.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2020, S. 112-115
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