Zeitenwende(n) ohne Ende
Deutschlands „Wort des Jahres 2022“ hat viele Bedeutungen – von der Veränderung geopolitischer Realitäten bis zur Antwort darauf. Klar ist: Die globale Zeitenwende wird erst einmal kein Ende haben – deshalb darf es unsere nationale erst recht nicht.
Wir sind im Laufe unserer bisherigen „Zeitenwende on tour“-Kampagne oft gefragt worden, ob wir glauben, dass die Bundeswehr je die Fähigkeiten bekommen wird, die sie braucht; wann der Krieg in der Ukraine endlich zu Ende gehen wird; und wie sich Deutschland im drohenden Konflikt mit China positionieren sollte. Aber auch immer wieder, ob wir es mit dem Begriff der Zeitenwende nicht etwas übertreiben. Ob es sich hier nicht um eine leere Worthülse handelt, die keinerlei normativen oder deskriptiven Wert hat und die schwierigen Debatten durch ihre Schwammigkeit zur Nutzlosigkeit verwässert.
Der Begriff hat eine lange Reise hinter sich. Zuletzt schaffte er es aus einem Report der Münchner Sicherheitskonferenz im Vorfeld der Bundestagswahlen 2021 über die berühmte Rede des Bundeskanzlers bis zum „Wort des Jahres 2022“. Als Olaf Scholz vor knapp anderthalb Jahren erstmals von einer Zeitenwende sprach, meinte er – wie auch schon die Münchner Sicherheitskonferenz vor ihm – die rasante und einschneidende Veränderung geopolitischer Realitäten und nicht unser aller notwendige Antwort darauf. Seit seiner Rede im Deutschen Bundestag hat sich diese Unterscheidung jedoch praktisch aufgelöst.
Der Begriff wird mittlerweile sowohl zur Umschreibung des Problems als auch der Lösung verwendet, als Synonym für ein Symptom und als die Medizin zu dessen Behandlung zugleich. In der immer gängigeren Interpretation brauchen wir eine Zeitenwende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, um auf die globale Zeitenwende antworten zu können. Um das Ganze noch weiter zu verkomplizieren, ist die erforderliche Zeitenwende in Deutschland damit nicht nur der Prozess, sondern auch das Ziel – wohingegen die globale Zeitenwende zwar ein Prozess ist, aber kein klares Ziel hat.
Ein Vorteil für die Debatte
Wenn auch akademisch und semantisch nicht ganz sauber, so ist diese Bedeutungsvermischung am Ende doch kein Nachteil für die sicherheitspolitische Debatte. Im Gegenteil. Damit wird endlich nicht nur in der Tiefe, sondern auch in der Breite diskutiert – weil die Logik einfach und die Begriffe einprägsam sind. Dabei schadet es sicher nicht, dass es immer der gleiche Begriff ist, ob für die Umwälzungen in der internationalen Ordnung oder die enormen Veränderungen bei den nationalen Strukturen, Prozessen und Strategien, die notwendig sind, um diesen Umwälzungen erfolgreich begegnen zu können. Zeitenwende passt immer.
Dass das Wort damit nicht nur einem, sondern gleich mehreren komplexen Themen eine griffige Bezeichnung gegeben hat, ist nur einer der Vorteile. Dass es sich trefflicher streiten und handeln lässt, wenn man ein konkretes Narrativ hat, auf das man sich beziehen kann, ist ein anderer – und mit dem Begriff Zeitenwende geht nun einmal ein solches Narrativ einher. Das, und noch viel mehr, spricht dafür, den Begriff, der sich mittlerweile nicht nur in der deutschen Debatte, sondern weltweit etabliert hat, auch weiter zu verwenden. Der wichtigste Grund jedoch ist, dass es sich noch lange nicht „ausgewendet“ hat – tatsächlich haben wir noch nicht mal richtig angefangen, eine Wende herbeizuführen – und uns die schwierigen Entscheidungen erst noch bevorstehen.
Mit der „Zeitenwende-Rede“ des Bundeskanzlers ging ein hörbares Aufatmen durch große Teile der Welt. Man glaubte, Deutschland hätte es endlich verstanden: Verstanden, dass es mehr für seine eigene Sicherheit tun (und zahlen) muss. Verstanden, dass sich diese eigene Sicherheit nicht von der seiner Nachbarn und Alliierten trennen lässt. Und verstanden, dass seine liebgewonnenen wirtschaftlichen Beziehungen und Modelle vielfach zu Abhängigkeiten geführt haben; die drohen, der internationalen regelbasierten Ordnung den Boden unter den Füßen wegzuziehen, indem sie revisionistischen Regimen die Mittel an die Hand geben, ihre eigenen, oft konträren Interpretationen dieser Ordnung zu verwirklichen. Die Zeitenwende wurde so zum hoffnungs- geladenen Begriff in vielen Hauptstädten und Hauptquartieren rund um die Welt.
Seit dieser kraftvollen Rede hat sich viel getan, aber noch nicht genug, um wirklich schon von „Wendezeiten“ sprechen zu können – so nannten wir ursprünglich in unserem Munich Security Report von 2020 den Anpassungsprozess, der auf die Zeitenwende folgen muss (bevor auch dafür alle den Begriff Zeitenwende verwendeten). Viele mögen zwar verstanden – und, noch wichtiger, vielleicht sogar schon verinnerlicht – haben, dass wir dringend und substanziell auf die globale Zeitenwende reagieren müssen. Aber das zeigt sich bisher nur vereinzelt in angepassten Strukturen und Prozessen. Aktuell scheinen wir noch näher an der „Zeitlupenwende“ zu sein, die der Politikwissenschaftler Carlo Masala konstatiert hat, als an der „Deutschland-Geschwindigkeit“ von Olaf Scholz.
Das hat natürlich viele Gründe, allen voran, dass es sich stets freier denken und leichter reden als tatsächlich machen lässt; aber auch, dass es gewaltige Widerstände zu überwinden gilt. Strukturreformen sind nie leicht, aber ganze Wirtschaftssysteme und politische Prioritäten zu einem Zeitpunkt umzukrempeln, zu dem Klimaneutralität und die grüne Transformation bereits erhebliche Einschnitte erzwingt, erfordert nicht nur politische Weitsicht und Mut, sondern auch eine belastbare Übereinkunft zwischen Politik und Bevölkerung.
Denn ohne die Rückendeckung der Gesellschaft, ohne ein tiefes Verständnis für die Zusammenhänge und Dilemmata, und ohne die damit einhergehende demokratische Legitimation lassen sich die notwendigen, oft schwierigen und teuren Veränderungen kaum durchsetzen.
Der Widerstand wächst
Auch wenn man im Laufe unserer „Zeitenwende on tour“-Kampagne oft den Eindruck gewinnen konnte, die Bürgerinnen und Bürger seien in den Denkprozessen zur Zeitenwende weiter als viele Politikerinnen und Politiker, so werden doch die Warnsignale lauter, dass der Widerstand wächst – von dem besorgniserregenden Erstarken populistischer Parteien im Osten zu ersten Ermüdungserscheinungen im politischen Berlin.
Allein deshalb werden wir die „Zeitenwende on tour“ fortsetzen. Wir wollen weiter für Unterstützung werben und die Hintergründe und Zusammenhänge erklären. Und wir wollen weiter die Fragen der Bürgerinnen und Bürger nach Berlin tragen, damit sie in Entscheidungen berücksichtigt werden können. Dazu werden wir über das kommende Jahr noch intensiver versuchen, mit denen ins Gespräch zu kommen, die schwerer erreichbar sind oder weniger Gehör finden – ob im Metaverse oder auf TikTok, ob in Bürgersälen oder bei Betriebsversammlungen, ob am Rande des Ökumenischen Kirchentags oder auf Industriemessen.
Es gibt viele, die noch erreicht und eingebunden werden müssen. Dass wir dazu nur einen kleinen Beitrag leisten können, und dass es deutlich größerer und langfristig angelegter gesamtgesellschaftlicher Anstrengungen bedarf, um derzeitige und zukünftige Skeptiker zu überzeugen, ist uns dabei vollkommen klar. Das macht unseren aktuellen Versuch aber nicht weniger sinnvoll.
Es gilt aber nicht nur um Unterstützung zu werben, sondern die Bundesregierung auch regelmäßig an die notwendigen Maßnahmen zu erinnern und die Einhaltung bereits gemachter Versprechen einzufordern. Wir wollen damit nicht nur Transmissionsriemen zwischen Politik und Gesellschaft sein, sondern auch Teil sein der „Zeitenwendebeobachter“, wie der französische Sicherheitsexperte Camille Grand diejenigen nennt, die den Anpassungsprozess begleiten und vorantreiben. Denn nichts würde unseren Bemühungen um einen Wandel in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik mehr entgegenlaufen als eine Wende in der Zeitenwende.
Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 56-59