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27. Febr. 2023

Zeitenwende ist Entwicklungssache

Die Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 im Bundestag war Startpunkt für einen politischen Umbruch. Wie gut die Zeitenwende gelingt, hängt auch von der Entwicklungspolitik ab.

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Bild: Porträt von Svenja Schulze
Svenja Schulze ist seit Dezember 2021 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Davor war sie Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit.
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Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat eine Zeitenwende für Deutschland und seine Bürger:innen ausgelöst. Wir leben in einer Umbruchphase, in der alte Gewissheiten auf den Kopf gestellt wurden. Diesen Umbruch müssen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gestalten.

Dabei stehen häufig verteidigungs- und außenpolitische Fragen im Fokus der Debatten. Doch ohne die entwicklungspolitische Dimension kann die Zeitenwende nicht gelingen. Die Auswirkungen des Krieges zeigen, wie sehr unsere Sicherheit in Deutschland von globalen Entwicklungen abhängt. Es geht dabei nicht nur um Sicherheit im Sinne von Abwesenheit von Gefahr, sondern um die Frage, wie unsere Welt ausgestaltet sein muss, damit sicherheitspolitische Krisen gar nicht erst entstehen. Es geht um nachhaltige Sicherheit.



Entwicklungspolitik ist nachhaltige Sicherheitspolitik

Sie legt den Schwerpunkt auf Prävention, bildet Strukturen aus und beugt damit Konflikten vor. Indem Gesellschaften weltweit weniger anfällig für Schocks werden, können die Folgen globaler Krisen abgemildert werden. Hier tritt die Entwicklungspolitik – die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern des Globalen Südens – als weichenstellende Akteurin in den Vordergrund.



Konkret sehe ich drei Punkte eines entwicklungspolitischen Ansatzes für die Zeitenwende:

   1.   Strukturwandel gemeinsam stemmen

Die Welt steht vor einem tiefgreifenden wirtschaftlichen, ökologischen und gesellschaftlichen Strukturwandel. Nicht erst seit der Zeitenwende: Armut, Hunger und Ungleichheit nehmen schon länger wieder zu, die Auswirkungen des Klimawandels werden größer, die Wirtschaftsordnung kommt in der vernetzten Welt an ihre Grenzen. Zur Halbzeit der im Jahr 2015 verabschiedeten Agenda 2030 sind wir weit davon entfernt, die globalen Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Um diese Herausforderungen zu meistern und damit für nachhaltige Sicherheit zu sorgen, sind strukturelle Veränderungen notwendig. Die aktuellen Krisen machen die Dringlichkeit einer solchen Transformation besonders deutlich. Hier stellt die deutsche Entwicklungspolitik die Weichen, sie zielt darauf ab, zusammen mit unseren Partner:innen den Strukturwandel weltweit zu gestalten.

Im Kern muss die Entwicklungspolitik dabei Antworten auf drei Herausforderungen dieser Transformation finden: Wie kann soziale Gerechtigkeit erreicht werden? Wie kann der weiteren Zerstörung der natürlichen Ressourcen begegnet werden? Wie können Frieden, Sicherheit und Demokratie als wesentliche Voraussetzungen für eine Transformation gestärkt und wie kann verhindert werden, dass mit dem Strukturwandel verbundene Interessenkonflikte gewaltsam ausgetragen werden?

 

Schwerpunkte setzen

Mit einer Reihe neuer Initiativen setzt das Entwicklungsministerium starke Hebel an, um bei diesen Kernfragen voranzukommen. Ein sozial gerechter Umbau der Gesellschaften hin zu Klimaneutralität kann nur gelingen, wenn er auf sozialen Ausgleich ausgerichtet ist und als „Just Transition“ für gerechte Übergänge sorgt. Ein Beispiel dafür sind die Just Energy Transition Partnerships, die das Hochfahren der erneuerbaren Energien und den entsprechenden Ausstieg aus fossiler Energie in Ländern wie Südafrika, Indonesien, Vietnam und Senegal vorantreiben.

Um Krisen abzufedern und Menschen in der Transformation Sicherheit zu geben, legen wir einen Schwerpunkt auf soziale Sicherung. Die Hälfte der Menschheit ist derzeit ohne jede soziale Sicherung auf sich allein gestellt, wenn sie zum Beispiel ihr Einkommen oder ihr Zuhause verliert. Soziale Sicherung trägt dazu dabei, dass Ungleichheiten verringert und Widerstandskräfte gestärkt werden. Sie unterstützt Menschen vor, während und nach Krisen und kann ein Abrutschen in die Armut verhindern.

Die feministische Entwicklungspolitik zielt darauf ab, bestehende Machtstrukturen zu überwinden. Dies gilt besonders mit Blick auf die drei „R“ – Rechte, Repräsentanz und Ressourcen – von und für Frauen. Der Strukturwandel kann nur gelingen, wenn er von Frauen mitgestaltet wird. Wir wissen, dass dort, wo Frauen mitbestimmen und mitprofitieren, Gesellschaften gerechter, wirtschaftlich erfolgreicher und damit widerstandsfähiger werden. Das Ziel der feministischen Entwicklungspolitik ist deshalb, gemeinsam mit unseren Partner:innen gleiche Rechte für alle Menschen zu erwirken, strukturelle Ungleichheiten zu beseitigen und Diskriminierung abzuschaffen. Dafür setze ich mich auf allen politischen Ebenen ein.

Ohne Digitalisierung kann es keinen zukunftsfähigen Strukturwandel geben. Digitale öffentliche Güter und Infrastruktur, eine faire Regulierung und digitale Fähigkeiten müssen gefördert werden. Auch die Gestaltung regulärer Migration gehört zu den Herausforderungen. Das Entwicklungsministerium hat sich auch hier neu ausgerichtet und berät zusammen mit Partnerländern in Zentren für Migration und Entwicklung zu Möglichkeiten der Arbeitsmigration.

Die deutsche Entwicklungspolitik treibt den Strukturwandel als wesentliche Antwort auf die Zeitenwende auf vielen Politikfeldern weltweit voran. Das Entwicklungsministerium fungiert dabei als Transformationsministerium.

 

    2.   Werte und Interessen auf den Tisch und rein in die Grauzonen

Im zweiten Punkt geht es mir darum, die Strategiefähigkeit der Entwicklungspolitik in der Zeitenwende zu stärken. Die Forderung nach einer stärker interessengeleiteten Politik Deutschlands in den internationalen Beziehungen muss auch die entwicklungspolitische Praxis umsetzen. Die Entwicklungszusammenarbeit muss ihre Möglichkeiten besser nutzen, abstrakte Interessen und Grundüberzeugungen in konkrete Handlungsoptionen zu übersetzen und immer wieder neu auszutarieren. Dieses Ausbalancieren von Werten und Interessen ist die Grundlage der Zusammenarbeit mit unseren Partner:innen. Hier geht es nicht um eine Instrumentalisierung von Entwicklungspolitik etwa für reine Wirtschaftsinteressen. Sondern es geht um eine veränderte Blickrichtung in einigen Politikfeldern, es geht um den Austausch und den Abgleich von Interessen. Am besten gelingt dies in Bereichen, in denen ein strategischer Nutzen für Deutschland klar ist. Dies gilt zum Beispiel für Projekte der Energie- und Rohstoffpartnerschaften, der legalen Migration oder der nachhaltigen Lieferketten.

 

Die Interessensfrage

Die Interessen der Länder des Globalen Südens entsprechen nicht notwendigerweise unseren Interessen. In unserer multipolaren Welt geht es den meisten Regierungen vor allem darum, Optionen zu haben – sei es mit Blick auf Infrastruktur, Technologie, Handel oder Waffen. Sympathien für russische oder chinesische Ordnungssysteme spielen für sie eher keine Rolle. Gleichzeitig haben viele Länder des Globalen Südens den Eindruck, dass sie unter den bestehenden ordnungspolitischen Strukturen ihre Potenziale nicht entfalten können. Relevante Entscheidungen werden immer stärker in transatlantische Institutionen verlagert, zu denen ihnen der Zugang fehlt. Hier ist die deutsche Entwicklungspolitik mehr denn je gefordert. Sie steht für echte Partnerschaften, und die sind nur möglich, wenn alle Beteiligten an einem Tisch sitzen und offen und ehrlich in den Austausch gehen.

Dazu gehört auch, dass wir in unseren Gesprächen mit anderen Regierungen und Organisationen unsere Position zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und unsere entsprechenden Sicherheitsinteressen klar kommunizieren. Gleichzeitig gilt es, die Ansichten und Abhängigkeiten unserer Partnerländer in diesem Kontext besser nachzuvollziehen. Die Gespräche zeigen, dass die Positionen so vielfältig sind wie die Länder selbst. Und sie zeigen, dass wir den ehrlichen Dialog brauchen, um langfristig als glaubwürdiger und verlässlicher Partner in einer multipolaren Weltordnung angesehen zu werden. Das wird auch in der neuen Afrika-Strategie des Entwicklungsministeriums deutlich. Sie ist in einem intensiven Austausch mit afrikanischen und europäischen Expert:innen aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft über das vergangene Jahr entstanden. Sie steht für eine neue Haltung von Respekt und Gegenseitigkeit.

Die Entwicklungspolitik trägt dazu bei, stabile Energiepolitik zu betreiben, uns vor Pandemien zu schützen oder Migration zu gestalten. Umgekehrt macht sie unseren internationalen Partner:innen ein Politikangebot, das auf einer echten Zusammenarbeit fußt, keine (neuen) Abhängigkeiten schafft und mit Themen wie Arbeitsschutz und Naturschutz trumpft. Außerdem wird mit dem neuen Team-Europe-Ansatz die europäische Perspektive noch konsequenter in der deutschen Entwicklungspolitik mitgedacht. Das schafft Sichtbarkeit und vermittelt Stärke in der geopolitischen Auseinandersetzung.

 

Widersprüche aushalten

Entwicklungspolitik wird in den kommenden Jahren stärker in den Grauzonen agieren müssen. Das bedeutet, dass sie Widersprüche anerkennt und aushält, zwischen unseren Interessen und unseren Werten, etwa wenn wir in der Entwicklungspolitik nicht nur mit Demokratien zusammenarbeiten können; zwischen unseren Vorstellungen und denen unserer Partnerländer, zum Beispiel auch mit Blick auf die Bewertung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Und entlang unterschiedlicher ökonomischer und gesellschaftlicher Spannungslinien, etwa wenn es darum geht, klimaneutralen Fortschritt, soziale Fragen und wirtschaftliche Interessen in Einklang zu bringen. Widersprüchen kommt man nicht bei, indem man sie ausblendet, sondern indem man sich ihnen stellt. Entwicklungspolitik hilft, diese Widersprüche zu benennen, zu überwinden und zu gestalten, sowie die verschiedenen Sichtweisen zu moderieren.

 

Die Zusammenarbeit mit autokratischen Ländern klar umreißen

Demokratie ist und bleibt die Grundlage für vertrauensvolles Handeln; hier gilt es, das deutsche Engagement weiter zu stärken. Gleichzeitig gibt es autokratische Länder, mit denen wir mit Blick auf die Bereitstellung globaler öffentlicher Güter (wie zum Beispiel ein stabiles Klima, eine saubere Umwelt, Sicherheit und Gesundheit) kooperieren müssen. Von diesen „Frenemies“ – Staaten, bei denen Kooperation und Konfrontation eng zusammenliegen – wird es künftig möglicherweise mehr geben. Den globalen Herausforderungen können wir aber nur gemeinsam begegnen, wir müssen also alle Akteure im Blick haben. Hier benennt die Entwicklungspolitik die Arenen und Politikfelder klar, auf die wir unsere Zusammenarbeit beschränken, sei es im Rahmen von internationalen Foren und Institutionen oder bilateral. Dabei gilt: Es kann keine Kooperation ohne Haltung geben. Das gilt insbesondere gegenüber Autokratien, bei denen gleichzeitig auch die Zivilgesellschaft Hoffnung in unser Engagement setzt.

 

   3.   Vertrauen und Netzwerke als Game Changer

Vertrauen ist die Grundlage politischen Handelns. Die Fähigkeit des Zusammendenkens und gemeinsamen Handelns setzt Vertrauen voraus. Gerade in schwierigen und misstrauischen Zeiten gilt es, sich weiter der oft mühsamen Vertrauensbildung zu widmen. Dazu gehört eine aktive Diplomatie, aber auch eine auf Langfristigkeit ausgerichtete Entwicklungszusammenarbeit. Die langjährigen Partnerbeziehungen und die vielfältigen Instrumente, mit denen die deutsche Entwicklungspolitik nicht nur Regierungen, sondern auch Gesellschaften erreicht, sind eine gute Grundlage, um Vertrauen zu festigen. Dafür hören wir zu und fragen nach den Interessen unserer Partner:innen.

 

Entwicklungspolitik zeigt in Bündnissen ihre Stärke

In der Zeitenwende haben internationale Bündnisse ihre Stärke gezeigt. Es ist wichtig, diese aus- und neue aufzubauen. Die Entwicklungspolitik bereitet dafür den Boden. Denn gerade in einer Welt, die stärker von Rivalitäten geprägt ist, wird globale Gestaltungsmacht von der Fähigkeit abhängen, Allianzen zu schmieden und Netzwerke aufzubauen. Deutschland braucht Partner:innen und dies über bestehende Formen wie die G7 und die NATO hinaus. Der Entwicklungspolitik gelingt es leichter, auch mit schwierigen Partner:innen gemeinsame Sichtweisen und Interessen und „Inseln der Kooperation“ zu identifizieren, zum Beispiel zur Klimapolitik, zur Gesundheitspolitik oder zur Entschuldung.

 

Mehr Multilateralismus

Eine besondere Rolle kommt multilateralen Institutionen zu. Sie zu stärken, ist ein wichtiger Weg, um effiziente und vertrauensvolle Netzwerke und Gestaltungsspielräume zu gewinnen. Sie ermöglichen eine regelbasierte Zusammenarbeit. Die deutsche Entwicklungspolitik stärkt die bestehenden Institutionen mit konkreten politischen Initiativen wie etwa der Reform der Weltbank und sie arbeitet darauf hin, dass die Länder des Globalen Südens besser in den Entscheidungsstrukturen vertreten sind. Wo notwendig, setzt sie sich für neue, inklusive Kooperationsformen ein.

Auch in Deutschland und Europa braucht Entwicklungspolitik die Impulse von gesellschaftlichen Bündnispartner:innen, sie braucht einen intensiveren gesellschaftspolitischen Diskurs über die Ziele und Instrumente der internationalen Politik. Hier sind vor allem auch gesellschaftliche Akteur:innen wie Gewerkschaften, die Klimabewegung, die Diaspora oder die Digital-Justice-Bewegungen gefragt. 

Unsere Erfahrung zeigt: Vertrauensvolle Netzwerke und Partnerschaften sind entscheidend für eine erfolgreiche Entwicklungspolitik – insbesondere als ein Zugpferd der Zeitenwende.

Sicherheit ist mehr als die Abwesenheit von Gefahr. Die Lebensumstände der Weltbevölkerung haben konkrete Auswirkungen auf die Sicherheit jeder und jedes einzelnen, auch bei uns. Es ist eine Frage der internationalen Solidarität, aber auch danach, wohin wir wollen. Wie Deutschland nach der aktuellen Umbruchphase dasteht, hängt entscheidend auch von der Entwicklungspolitik ab. Die Zeitenwende ist Entwicklungssache.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Online, 07. Feb. 2023

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Svenja Schulze ist seit Dezember 2021 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Davor war sie Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit.