„Wir sind auf Augenhöhe“
Ein Interview mit Günther Oettinger
Günther Oettinger zieht Bilanz: Was Europa gefährdet, was die EU stark macht, und warum er sich an Multikultur besonders gern erinnert
IP: Herr Oettinger, Ende Mai wird ein neues Europaparlament gewählt. Welche Herausforderungen sehen Sie für die nächsten fünf Jahre?
Günther Oettinger: Es gibt Gefahren, denen sich Europa stellen muss. Im Inneren ist in manchen Mitgliedstaaten die Rechtsstaatlichkeit bedroht. Bei der Weiterentwicklung der Eurozone sind wir noch nicht weit genug gekommen. Vor allem aber hat Europa Gegner von außen: Staaten, die die Europäische Union nicht mögen, sondern lieber Beziehungen zu 27 Nationalstaaten unterhalten würden. Trotzdem bin ich optimistisch. Gerade diese Gegner helfen der Selbstfindung Europas.
IP: Wie?
Oettinger: So unerfreulich die Nachrichten vom Brexit sind, so sehr wir die Autokratie in der Türkei oder die strategische Ausrichtung Chinas ablehnen, so sehr wir uns Sorgen machen über die militärische Vorgehensweise Russlands, und so sehr uns US-Präsident Trump mit manchen Tweets attackiert – all das stärkt den Zusammenhalt der Europäer. Wir leben in einer Zeit des Wettbewerbs von Werteordnungen, in einem Kampf der Systeme, und das merken die Menschen. Hinzu kommt, dass die Bürger wissen, dass es immer mehr Aufgaben gibt, die nur von Europa gelöst werden können. Ich bin überzeugt, dass der Weg zu einem stärkeren Europa im nächsten Jahrzehnt beschritten werden kann.
IP: Frankreichs Präsident Macron wirbt für eine rasche und weitreichende EU-Reform. Was halten Sie von seinen Vorschlägen?
Oettinger: Man muss sich jeden Vorschlag im Detail ansehen. Einen Finanzminister auf EU-Ebene halte ich beispielsweise für falsch. Aber insgesamt sollte Deutschland mehr auf Präsident Macron eingehen und mit ihm gemeinsam Projekte für die Zukunft Europas voranbringen.
IP: Welche sind das?
Oettinger: Wir müssen die Sicherheit stärken – nach innen, indem wir zum Beispiel Europol zu einem europäischen FBI ausbauen, und nach außen durch die europäische Verteidigungszusammenarbeit. Vor allem aber müssen wir die Wettbewerbsfähigkeit Europas stärken. Europa muss innovativ und wirtschaftlich stark sein, damit wir nicht wie in einem Sandwich zwischen China und Amerika erdrückt werden.
IP: Bisher waren die Reaktionen aus Berlin auf Macrons Vorschläge verhalten.
Oettinger: Durch die mühsame Regierungsbildung bei uns wurde viel Zeit verloren. Jetzt haben wir eine Große Koalition, die sich oft blockiert. Wenn Herr Macron einfordert, dass Deutschland gemeinsam mit den anderen Europäern Regeln für die Ausfuhr von Verteidigungsgütern verabredet, ist die SPD skeptisch. Wenn es um einen europäischen Mindestlohn geht, der sogar im Koalitionsvertrag steht, ist die CDU skeptisch. Ich möchte daran erinnern, dass der Koalitionsvertrag die Gesamtüberschrift „Ein neuer Aufbruch für Europa“ trägt. Davon kann seit dem Rücktritt von Martin Schulz als SPD-Vorsitzender nur sehr eingeschränkt die Rede sein. Wir müssen erreichen, dass sich diese Koalition auf ihre Vereinbarungen besinnt.
IP: Welche Vorschläge sollte Deutschland denn einbringen?
Oettinger: Die Handlungsfähigkeit Europas würde enorm gestärkt, wenn wir in der Außen- und in der Steuerpolitik zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen kämen. Deutschland sollte sich auch stärker für Europas Wettbewerbsfähigkeit einsetzen. Für unseren gemeinsamen Markt brauchen wir eine gemeinsame Industriepolitik und gemeinsame Forschungsprojekte.
IP: Ist das die richtige Antwort auf den Populismus? Kann man so die Herzen der Europäer zurückgewinnen?
Oettinger: Der Populismus schwächt uns. Um den Belgier Paul Henri Spaak, einen der Gründerväter Europas, zu zitieren: Es gibt in Europa nur zwei Arten von Ländern: die kleinen – und die, die noch nicht wissen, dass sie klein sind. Auch Frankreich, auch Deutschland sind zu klein, um in der Welt von morgen noch eine wesentliche Rolle zu spielen. Bei Fragen vom Klimaschutz bis zur Friedenssicherung, von Standards und Normen für die Industrie bis hin zu einem Programm für Afrika geht es um die Entscheidung: Regiert G2 die Welt, oder regiert G3 die Welt?
IP: Erklären Sie uns das bitte.
Oettinger: Wenn G2 die Welt von morgen regiert, dann sind das die Vereinigten Staaten von Amerika, deren Gewicht abnimmt, und China, dessen Gewicht zunimmt. Die Strategie „Made in China 2025“ ist die klare Ansage Chinas, technologisch und militärisch die Nummer eins werden zu wollen. Damit kann kein einzelner EU-Mitgliedstaat mithalten. Europa – und nur Europa! – ist groß genug, an dem Tisch mitzuberaten, an dem entschieden wird. Kein Mitgliedstaat, auch nicht Frankreich oder Deutschland, wird ein Mandat bekommen, um auf der Weltbühne mitzureden.
IP: Europa ist groß genug, um neben den beiden Großen mit am Tisch zu sitzen?
Oettinger: Genau. Die Europäische Union ist auf Augenhöhe mit den USA und China. Wir haben ein ausreichend hohes Bruttosozialprodukt, eine genügend große Zahl von Menschen und Ressourcen, und wir sind innovativ genug. Europa kann der Dritte sein, der seine Werte einbringt.
IP: Was muss dafür passieren?
Oettinger: Statt der nationalen Industriestrategie, wie sie Peter Altmaier entworfen hat, brauchen wir eine europäische Industriestrategie mit starker Mitwirkung der deutschen Politik und Wirtschaft. Zweitens geht es um Großforschungsprojekte. Nehmen wir nur einmal das Thema der Künstlichen Intelligenz: Kein Mitgliedstaat und kein Unternehmen allein kann mit Silicon Valley oder China konkurrieren. Wir brauchen öffentlich-private Partnerschaften und ein höheres europäisches Forschungsbudget. Zum Dritten müssen wir das Wettbewerbsrecht Europas modernisieren. Das hat sich an dem versuchten Zusammenschluss von Siemens und Alstom gezeigt.
IP: War das Verbot der Fusion ein Fehler? Brauchen wir europäische Champions?
Oettinger: Wir brauchen Unternehmen in Europa, die von ihrer Bilanzsumme und ihrer Durchschlagskraft in der Lage sind, mit den großen Playern auf der Welt zu konkurrieren. Es geht um Skalierungseffekte, aber auch um Kapitalstärke. Gegen das Kapital der Big Five sind Dax-Unternehmen kleine Fische. Wenn wir uns anschauen, wie chinesische Unternehmen hier investieren und europäische Firmen übernehmen, zum Beispiel den Roboterhersteller Kuka, brauchen wir eine auf europäischer Ebene organisierte Industriepolitik.
IP: Herr Oettinger, nach zehn Jahren in Brüssel werden Sie voraussichtlich zum Jahresende aus der EU-Kommission ausscheiden. An was werden Sie besonders gerne zurückdenken?
Oettinger: An die vielen spannenden Beratungen in der Kommission, im Parlament, in meinem Kabinett, mit Menschen aus unterschiedlichen Mitgliedstaaten und Kulturkreisen. Bei Europa geht es nicht darum, den Turmbau zu Babel zu kopieren, der nie vollendet wurde, sondern echte Multikultur zu praktizieren. Das ist meine Lieblingserinnerung.
Die Fragen stellten Martin Bialecki und Bettina Vestring
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 34-36