Interview

17. Dez. 2024

„Wir müssen umdenken als Europa“

Interview mit der ehemaligen deutschen Botschafterin in Washington, Emily Haber

Bild
Bild: Emily Haber 2021 in Washington
Dr. Emily Haber war u.a. Politische Direktorin (2009–2011) und Staatssekretärin 
im Auswärtigen Amt (2011–2013) 
sowie im Innenministerium (2014–2018). Zuletzt war sie deutsche Botschafterin in Washington (2018–2023), wo die promovierte Historikerin einen großen Teil der ersten Präsidentschaft Donald Trumps aus der Nähe verfolgen konnte.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

IP: Sie haben Donald Trumps erste Amtszeit als US-Präsident sehr nah miterlebt, als deutsche Botschafterin in Washington. Hatten Sie mit seiner Wiederwahl gerechnet? 

Emily Haber: Ich habe mich immer geweigert, irgendwelche Prognosen abzugeben. Angesichts der geringen Margen bewegte sich jeder, der glaubte, den Ausgang vorhersagen zu können, auf sehr dünnem Eis. Womit ich nicht gerechnet hatte: dass der Wahlsieg so klar ausfallen würde. Dass Trump nicht nur das Wahlmännergremium, sondern auch die „popular vote“, also die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, gewinnen würde, und die Republikaner die Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus – das habe ich nicht vorhergesehen.


Wie interpretieren Sie das Ergebnis?

Es ist der größte Rechtsruck in der amerikanischen Gesellschaft seit 1980. Zugleich sollte man sich hüten, von einem Erdrutschsieg zu sprechen. Beispielsweise war der Vorsprung bei der „popular vote“ ja sehr gering.


Haben die Trump-Republikaner gewonnen oder doch eher die von Kamala Harris angeführten Demokraten verloren?

Das „post mortem“ der Demokraten, also die Ursachenforschung, läuft ja noch. Natürlich hat der Wahlsieg Trumps viele und sehr komplizierte Gründe. Er hängt sicherlich zusammen mit der jüngsten Inflationserfahrung und der Wirtschaftsentwicklung der vergangenen Jahre, ebenso mit einem Votum gegen die Themensetzung der aus College-­Absolventen bestehenden Eliten in den Großstädten und ihrer kulturellen Codes. 

Dies geht auf einen grundsätzlichen Umschwung innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zurück. Er vollzieht sich schon viel länger als über die vergangenen vier oder acht Jahre. Seit spätestens 2008 ist der Globalisierungskonsens in den Vereinigten Staaten erodiert – die damals in beiden Parteien vorherrschende Überzeugung, dass Globalisierung Wohlstandseffekte für alle bringe, dass offene Grenzen für Waren, Dienstleistungen und Menschen großen Nutzen haben, dass die amerikanische Investition in Allianzen eine Investition in globale Sicherheit und in die amerikanische globale Rolle sei.


Sie meinen, die globale Finanzkrise von 2008 war der Kipp-Punkt?

Ja. Und Trumps erster Wahlsieg von 2016 hat dem erstmals Rechnung getragen: Trump hat als republikanischer Kandidat mit republikanischen Denktraditionen gebrochen. Beide Parteien sind danach in diesem Punkt konvergiert. Präsident Joe Biden hat viele von der ersten Trump-Regierung verabschiedeten protektionistischen Maßnahmen nicht zurückgenommen und in ähnlicher Weise auf wirtschaftlichen Nationalismus gesetzt. Dabei konnte Biden an die keynesianischen Traditionen seiner Partei anknüpfen. Insofern hat sich mit der Wiederwahl Trumps ein Kreis geschlossen.

Und während es in der US-Außenpolitik vielleicht einen „Reset“ unter Biden gab, was US-Bündnisse anging, so wird auch hier diese Abkehr nun vollzogen werden, die das Ende des Globalisierungskonsenses und das Entstehen eines neuen Mainstreams im amerikanischen Denken widerspiegelt.


Welche neuen außenpolitischen Grundzüge werden das sein? 

Wir müssen damit rechnen, dass Amerika seine Rolle in der globalen Interkonnektivität neu definiert und sie angesichts der veränderten geopolitischen und geoökonomischen Bedingungen stärker unter dem Gesichtspunkt des Nutzens für Amerika ausrichtet. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird sie sehr viel stärker merkantil ausgerichtet sein. Und das hat Folgen für uns – für unsere Sicherheit und für die Art und Weise, wie wir uns mit Europa international aufstellen.


Einige Nominierungen wie die von Marco Rubio als Außenminister könnte man auch als beruhigendes Signal lesen: Rubio hat als Senator maßgeblich das Gesetz mit auf den Weg gebracht, wonach ein US-Präsident nicht einfach einen Austritt aus der NATO verfügen kann. Wie interpretieren Sie das Personal­tableau, das sich abzeichnet? 

Die Personalie Rubio dürfte auch damit zusammenhängen, dass Trumps Schwiegertochter auf den Senatssitz schaut und der Gouverneur von Florida auch schon ein Zeichen gegeben hat, dass er ihre Ernennung in Betracht zieht.

Bei den bisherigen Nominierungen fällt insgesamt auf, dass praktisch niemand aus der ersten Trump-Regierung dabei ist, jedenfalls an vorderster Stelle. Hinzu kommt: Das Weiße Haus eines wiedergewählten Präsidenten – und das ist Trump II ja – ist immer stärker, macht- und selbstbewusster als dies in der ersten Amtszeit noch der Fall war. Deshalb gehe ich davon aus, dass Entscheidungsfindungen im Weißen Haus konzentriert sein werden und dass die anderen Ministe­rien und Behörden gerade so mächtig sein werden, wie Präsident Trump dies zulässt. Das heißt, der Spielraum für die übrigen Regierungsmitglieder ist im Vergleich zum ersten Mal deutlich gesunken.


Dann bliebe nur noch der Senat, um Trump zu bremsen? 

Das ist schwer vorauszusagen. Sicher ist das Mandat des Präsidenten deutlich ­stärker als beim ersten Mal. Und das wird sich auch im Verhältnis zur Legislative zeigen. Aber aus dem Senat kommen bereits jetzt Stimmen, die dem Präsidenten eine rote Karte bei Ernennungen gezeigt haben, zum Beispiel bei dem Versuch, den umstrittenen Matt Gaetz zum Justizminister zu machen. Das ging schon sehr, sehr schnell und ist ein Indiz dafür, dass der Senat sich seiner traditionellen Macht im amerikanischen politischen Gefüge sehr sicher ist.
 

Eine andere für Europa sehr wichtige Personalie ist die des Nationalen Sicherheitsberaters, Mike Waltz. Entgegen vielen Sorgen über einen „Deal“, den Trump mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin schließen könnte, gehört seine Nominierung nicht unbedingt zu den Personalien, über die sich der Kreml wohl gefreut hat. Was erwarten Sie in Sachen des immer wieder diskutierten Trump-Putin-Gipfels und eines Endes des Krieges gegen die Ukraine? 

Das Einzige, was wir wissen, ist, dass Trump öffentlich angekündigt hat, er werde den Krieg umgehend beenden. Er hat nicht deutlich gemacht, welches die Bedingungen für die Kriegsbeendigung seien, nur mit der Zeitansage „binnen 24 Stunden“ zu verstehen gegeben, dass das Ende die Priorität ist und nicht die Art der Beendigung. Und das immerhin ist auch schon ein Signal, das Putin verstanden haben wird. 


Jenseits der Ukraine-Politik, auf was sollten sich Deutschland und Europa einstellen? 

Die Biden-Regierung hat den Krieg in der Ukraine im Kontext der globalen Herausforderungen Amerikas gesehen, insbesondere im Hinblick auf die Machtkonkurrenz mit China. Die Unterstützung für die Ukraine war Teil der amerikanischen globalen Abschreckungsfähigkeit und ganz besonders wichtig im Hinblick auf die Region, die nun einmal für Amerika das Auge des Zyklons ist: China und der Indo-Pazifik. 

Das wird die künftige Regierung nicht tun. Trump hat zu verstehen gegeben, dass die Herausforderungen auf dem europäischen Kontinent die Sache Europas seien. Amerika sei dort nicht gefordert, das sei ein regionaler Konflikt. Und eine solche Wende in der amerikanischen Politik hat natürlich viele Folgen: für das Risiko­kalkül des russischen Präsidenten und die Art und Weise, wie wir über unsere eigene Verteidigungsfähigkeit, Sicherheit, Abschreckungsfähigkeit und Resilienz nachdenken müssen.


Welche Rolle wird die China-Politik spielen? 

Eine ganz zentrale. Wenn man an den außenpolitisch relevanten Nominierungen etwas ablesen kann, ist es der klare, konzentrierte Fokus auf China. Und auch das hat Folgen für uns. Die Erwartung wird sicherlich sein, dass wir jene Schritte oder politische Entscheidungen nachvollziehen, von denen die künftige US-Regierung erwarten muss, dass Nichtvollzug amerikanische Machtprojektion entweder behindert oder dem Land kompetitive wirtschaftliche Nachteile beschert. Insofern wird auch im Verhältnis zu Europa der Umgang mit ­China von zentraler Bedeutung sein.

„Der amerikanische Konsens über die Kosten-Nutzen-Rechnung von Globalisierung hat sich massiv verschoben“

Im Vergleich zur ersten Trump-Präsidentschaft hat sich allerdings etwas verändert. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat uns allen deutlich in Erinnerung gerufen, dass unsere Sicherheitsabhängigkeit von den Vereinigten Staaten nicht eine akademische, sondern eine sehr existenzielle Frage ist. Insofern hat der russische Präsident jetzt ein Instrument in der Hand, das andere politische oder wirtschaftliche Fragen durchaus mitprägen kann. 


In Ihrer Manfred-Wörner-Rede bei der Bundesakademie für Sicherheitspolitik haben Sie im November 2024 die deutsche Politik mit dem Bild eines „falsch zugeknöpften Hemdes“ umschrieben ... 

Was ich damit meine: Unsere Debatten über Sicherheitspolitik, Priorisierung, Ressourcenbedarf und Verteilung scheinen mir manchmal von einem geopolitischen Status quo auszugehen, der gerade abgewickelt wird. Die Wahl Trumps hat uns gezeigt, dass sich auch die Amerikaner endgültig von ihm verabschiedet haben. Darauf müssen wir uns einstellen. Wenn sich das amerikanische Nachdenken über den Nutzen von Allianzen und die Hinnehmbarkeit von Kosten für die Investitionen in Allianzen so massiv verschiebt, bedeutet es, dass wir existierende Annahmen hinterfragen müssen.

Dieser Status quo, mitsamt der Gewissheit des amerikanischen Sicherheitsversprechens, war unsere Komfortzone. Sie ist Geschichte. Der amerikanische Konsens über die Kosten-Nutzen-Rechnung von Globalisierung und globaler Verantwortung hat sich massiv verschoben – weil sich die geopolitischen Rahmenbedingungen massiv verschoben haben. Trumps Wahlsiege sind Ausdruck dieses Trends. Er wird Bestand haben, ganz unabhängig davon, wer heute oder in vier Jahren US-Präsident ist. Wir müssen umdenken als Europa. Wir müssen eine andere Diskussion führen über Investitionen in unsere Sicherheit und Resilienz. Das betrifft unsere gesamte Gesellschaft.


Oft war vor Trumps Wiederwahl von „Trump-Proofing“ die Rede, gewissermaßen einer „Trump-Absicherung“, aber ist das überhaupt möglich? Oder anders gefragt: Was sind die besten Schritte, die Deutschland und die EU nun unternehmen können? 

Wenn wir politische Anstrengungen nur mit der Person des Präsidenten in Verbindung bringen und als Antwort auf seine Wahl konzipieren, greift dies zu kurz. Dreh- und Angelpunkt muss die Frage sein, was in unserem, im europäischen Interesse liegt, unabhängig davon, wer im Weißen Haus sitzt. Das ist der erste Punkt. 

Der zweite Punkt ist: Trump-Proofing unterstellt immer, dass Trumps Transaktionalismus vollkommen rational sei. Das ist häufig nicht der Fall. Bedenken Sie, dass Trump Ende November Kanada und Mexiko mit 25-prozentigen Importzöllen gedroht hat für den Fall, dass sie von ihm erwartete migrationspolitische Maßnahmen nicht ergreifen. Solche Zusammenhänge herzustellen, ist charakteristisch für den Trumpschen Transaktionalismus. Aber man kann sich sehr schwer auf Situationen vorbereiten, in denen völlig unzusammenhängende Dossiers miteinander verbunden und konditioniert werden. 

Mein Punkt ist immer wieder gewesen: Konzentrieren wir uns auf die Investition in unsere Sicherheit und in unsere Resilienz. Im besten Fall ist das auch eine Investition in transatlantische Machtprojektionen. Aber es wird natürlich auch dazu führen, dass wir in herausfordernden Situationen im transatlantischen Verhältnis immuner und widerstandsfähiger sind.


In der ersten Trump-Zeit hieß es oft: „America First“ bedeute letztlich „America Alone“. Wird das funktionieren? 

„America Alone“ ging vielleicht in Trumps erster Amtszeit noch, weil zu den Mustern seines Modus operandi gehörte, politische Streitfragen immer zu bilateralisieren, weil er so einen kompetitiven Vorteil hatte. Die Vereinigten Staaten sind immer noch das mächtigste Land der Welt. Aber wir haben ja in den vergangenen vier Jahren geopolitische Verschiebungen gesehen, die die Parameter auch für ihn verändern. Eine Bilateralisierung wird in vielen Fragen nicht mehr möglich sein. 


Zum Beispiel?

Das immer antagonistischere Verhältnis zu China und die Kriege in der Ukraine und in Nahost haben vielen Staaten des Globalen Südens ein neues Gewicht gegeben. Sie sind außenpolitisch zu Swing States geworden. 

Wir sehen diese Ad-hoc-Verbindungen in einem geopolitischen „À-la-Carte-
ismus“, mit dem Trump wird umgehen müssen. Biden hat auf diese Situation mit der Ausweitung von Partnerschaften, Netzwerken und Bündnissen reagiert. Wir wissen nicht, wie Trump sich auf diese objektive Veränderung einstellt. Aber nur mit lautstarkem Bravado wird er diese Machtverschiebungen nicht austarieren können. Die Frage ist offen.


Sie kennen die Vereinigten Staaten lange und betrachten das Land auch durch die Brille einer Historikerin. Wohin steuern die USA Ihrer Einschätzung nach auf längere Sicht? 

Biden hat zwar in der Außenpolitik – nicht unbedingt in der Wirtschafts- und Handelspolitik – „America First“ zurückgedreht. Im Rückblick betrachtet werden Historiker aber sagen, dass diese Jahre die Ausnahme von der neuen Regel waren. Wenn in vier Jahren ein nächster US-Präsident gewählt werden wird, wird die politische Debatte in den Vereinigten Staaten zwölf Jahre lang beherrscht worden sein von Fragen wie: Wo sind überall die sicherheitspolitischen Trittbrettfahrer? Wo sind wir übervorteilt worden? Wo haben wir US-Interessen ignoriert oder wo sind US-Interessen ignoriert worden, weil wir zu sehr nach außen geschaut haben? Das alles wird sich nicht zurückdrehen lassen.

Irgendwann wird dieser neue Konsens über „America First“, Protektionismus, wirtschaftlichen Nationalismus und womöglich die stärkere Merkantilisierung von Sicherheit auch wieder infrage gestellt werden. Aber derzeit sehen wir, dass eine breite gesellschaftliche Strömung die Abkehr vom Globalisierungskonsens will. Beide Parteien haben hierauf reagiert. Diese Konvergenz wird noch lange Bestand haben.


Das Interview führte die IP-Redaktion.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S.23-28

Teilen