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01. März 2013

„Wir brauchen mehr Europa!“

Interview mit dem Hauptgeschäftsführer des BDI, Markus Kerber

Energiekosten werden als Standortfaktor immer wichtiger: Wie aber wird sich die Schiefergas-Förderung in den USA auf die Energiewende in Deutschland auswirken? Können Erneuerbare für billige Energie sorgen und damit die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Exportwirtschaft erhalten? Und gelingt es, die Energiewende europäisch zu gestalten?

Internationale Politik: Ist die Schiefergas-Revolution aus Ihrer Sicht tatsächlich eine Revolution, die den Energiemarkt völlig umkrempeln kann?

Markus Kerber: Ja, das ist eine Revolution – für Deutschland und Europa, weil die Auswirkungen dieser Entwicklung auf uns ausstrahlen, unabhängig davon, ob wir Schiefergas in größerem Maßstab selbst fördern oder nicht. Wir haben das hier nur erst später erkannt als auf der anderen Seite des Atlantiks.

IP: Welche Auswirkungen wird das auf die Wettbewerbsfähigkeit haben?

Kerber: Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie wird unmittelbar beeinflusst. In dem Maße, wie sich durch günstiges und in großen Mengen verfügbares unkonventionelles Gas – übrigens auch Öl – die Standortbedingungen in den USA verbessern, verschlechtern sie sich relativ in allen anderen Räumen. So wird es auch für die deutsche Industrie schwerer, im zunehmend schärfer werdenden Wettbewerb zu bestehen. Das gilt für Industrien, für die Gas als Produktionsfaktor eine wichtige Rolle spielt (Chemie, Kunststoffe), aber indirekt auch für die Gesamtindustrie, wo der Gaspreis die Energiekosten auch über den Strompreis beeinflusst.

IP: Entsteht ein globaler Gasmarkt?

Kerber: Es gibt regional sehr große Preisunterschiede, die nicht nur mit der Verfügbarkeit, sondern auch mit den Transportkosten zusammenhängen. Die Gaspreise koppeln sich stärker vom Ölpreis ab und orientieren sich möglicherweise stärker an den Kohlepreisen oder finden eine eigene Preisbildung. Das hängt auch mit dem wachsenden Seehandel mit verflüssigtem Erdgas zusammen. Insofern bewegen wir uns in Richtung Internationalisierung, aber ich sehe noch nicht den globalen Gasmarkt mit gleichen oder sehr ähnlichen Preisen.

IP: Erleben wir in den USA eine erneute Reindustrialisierung?

Kerber: Der Schiefergas-Boom wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte andauern, und deshalb verbessern sich in den USA die Standortbedingungen für neue Industrieansiedlungen, vor allem in den bereits genannten Bereichen.

IP: Was bedeutet das für die deutsche Industrie? Werden amerikanische Produktionsstätten auch für deutsche Unternehmen interessanter?

Kerber: Langfristig auf jeden Fall. Kurzfristig werden sicherlich keine ganzen Standorte geschlossen, aber wir werden möglicherweise eine schleichende Entwicklung sehen, dass Neuinvestitionen stärker an Standorten außerhalb Deutschlands getätigt werden. Das ist nicht so sichtbar, laut und medienwirksam wie Schließungen, aber es hat perspektivisch natürlich ähnliche Folgen.

IP: Wie sehen Sie die Entwicklung bei der Mobilität? Gibt es da auch eine Umstellung von Öl auf Gas?

Kerber: Im Industriebereich haben wir die Bewegung vom Öl zum Gas schon vollzogen, da spielt Öl inzwischen nur noch eine untergeordnete Rolle. Im Verkehrsbereich ist das noch anders. In den USA gibt es Anzeichen dafür, dass eine Umstellung beim Transport von leichteren Gütern im Gange ist. Das wäre wünschenswert, auch aus klimapolitischen Gründen. In Deutschland haben wir das Thema Elektromobilität mehr für den Individualverkehr entdeckt, aber nicht als Alternative für Lastwagen – obwohl der Frachtverkehr überproportional zunimmt. Insofern wäre es natürlich auch klimapolitisch interessant, wenn Gas im Treibstoffmix eine größere Rolle spielen würde.

IP: Besteht dann die Gefahr, dass Deutschland den technischen Anschluss verliert, wenn die wesentlichen Entwicklungen in den USA stattfinden?

Kerber: Das glaube ich nicht. Denn es wird ja nicht nur in Wolfsburg oder in Stuttgart produziert, sondern deutsche Unternehmen sind auch mit Produktions- und Forschungsstandorten in den USA vertreten. Unterschiede bestehen jedoch weiter: Die Gaspreise sind in Asien höher als in Europa, und in Europa höher als in den USA. Daraus ergeben sich unterschiedliche Anforderungen in die jeweiligen Märkte.

IP: Welche geopolitischen Auswirkungen hat die Schiefergas-Revolution? Besteht die Gefahr, dass sich die USA von bisherigen Lieferländern abwenden, mit denen sie vor allem kooperiert haben, weil sie auf die Energieimporte angewiesen waren? Entstehen dort Sicherheitslücken?

Kerber: Das ist schwer vorhersehbar, da neben den Rohstoffinteressen natürlich zahlreiche andere Faktoren hier eine Rolle spielen. Eine gewisse Gefahr besteht allerdings schon, dass das sicherheitspolitische Engagement Amerikas in dieser Region nicht zwangsläufig so fortbestehen muss. Die Frage wäre, bei wem wächst das Interesse dann? Nach heutigem Stand könnten China bzw. der asiatische Raum insgesamt stärker auf Gasimporte aus dieser Region angewiesen sein. Und ob sich diese Länder dann auch stärker in diesen Regionen engagieren, wird man sehen.

IP: Deutschland und Europa stehen vor einer doppelten Herausforderung: die Schiefergas-Revolution in den USA und die Energiewende in Deutschland. Ob sie gelingt, wissen wir nicht, es ist eine Operation am offenen Herzen …

Kerber: … ja, dazu gibt es schöne Bilder: auch vom Flugzeug und Flughafen, wo die Landebahn beim Start der Maschine noch nicht fertig ist …

IP: Wie stellt sich der BDI auf die Energiewende ein?

Kerber: Wir müssen uns das ganz genau ansehen, denn es ist ein System mit vielen Stellschrauben, und diese Zusammenhänge werden nicht von allen auf den ersten Blick erkannt. Deswegen hat der BDI die Kompetenzinitiative Energie aus der Taufe gehoben, wo wir uns mit wissenschaftlicher Unterstützung anschauen, welche Chancen und Herausforderungen es bei der Energiewende gibt; und auch welche Knickpunkte, welche schwierigen und kritischen Pfade, um dann frühzeitig gegensteuern zu können. Wir haben uns das sowohl in langfristiger Perspektive angeschaut (2030 plus) als auch konkret für die nächsten zehn Jahre. Mitte März werden wir hierzu weitere Ergebnisse veröffentlichen.

IP: Ist die Energiewende schon heute von der Schiefergas-Revolution betroffen?

Kerber: Ja, denn die Schiefergas-Revolution in den USA hat durch Handelsverflechtungen Auswirkungen auf den Strommarkt in Deutschland: In amerikanischen Kraftwerken wird mehr billiges Gas verbrannt, dadurch wird Kohle dort weniger genutzt und nach Europa exportiert. In Europa verbrennen wir nun mehr preisgünstige Kohle. Dies hat Auswirkungen auf die Rentabilität von Gaskraftwerken und auf den klimapolitisch bedeutsamen Erzeugungsmix im Stromsektor. Darüber hinaus gibt es sogar Stimmen, die meinen, es steige die Wahrscheinlichkeit eines globalen Klimavertrags, weil der CO2-Ausstoß in den USA signifikant zurückgefahren werden kann, da viel billiges Gas zur Verfügung steht.

IP: Welche anderen Implikationen sehen Sie für die USA?

Kerber: Wenn sie durch das billige Gas die CO2-Emissionen schon reduziert haben, sinkt natürlich auch ihr Anreiz, massiv in Erneuerbare zu investieren. Das hat direkte Auswirkungen auf die deutsche Industrie, denn wir machen die Energiewende ja auch, um neue Technologien zu exportieren. Aber wenn jetzt weltweit Gas auf dem Vormarsch ist, dann sinkt der Anreiz für die Politiker in diesen Ländern, auch Erneuerbare im großen Maßstab zu fördern. Und das betrifft dann Technologie aus Deutschland.

IP: Befindet sich die deutsche Industrie da nicht in einem Dilemma? Sie müsste eigentlich daran arbeiten, dass die Erneuerbaren schnell technologieexportfähig, effizient und kostengünstig werden. Aber dadurch kann sie nicht von den günstigen Preisen profitieren, die derzeit durch billige fossile Rohstoffe möglich sind.

Kerber: Niemand von uns stellt die Energiewende in Frage. Es ist eher eine Frage von Geschwindigkeit und wie man es macht. Aber die Kosten sind aus den genannten Gründen unterschiedlich, je nachdem, wie wir die Energiewende in Deutschland gestalten und was um uns herum passiert. Wir haben vieles in der Hand, aber eben nicht alles. Und mit der bestehenden Infrastruktur im Strom- und Energiesektor, die auf Jahrzehnte angelegt ist, kann man nicht von heute auf morgen auf Preisänderungen reagieren. Das funktioniert bei einzelnen Kraftwerken, da kann man durchaus den Kohle/Gas-Switch machen, aber das können Sie nicht mit einer Volkswirtschaft machen.

IP: Dafür brauchen wir konsequente Entscheidungen von der Politik für die gesamte Volkswirtschaft …

Kerber: … ja, denn wir dürfen das System nicht überstrapazieren, sondern müssen einen nachhaltigen Weg gehen – geopolitisch, wirtschaftlich, versorgungssicherheitsmäßig. Wir machen diese Energiewende ja auch deshalb, um anderen zu zeigen, dass so etwas geht. Und es wird kein Erfolg, wenn die Preise um ein Vielfaches steigen.

IP: Aber die Energiewende ist ja nicht nur ein deutsches Vorhaben, sondern eine europäische Angelegenheit. Sind die dafür erforderlichen Bedingungen vorhanden?

Kerber: Wir nutzen die Chancen des europäischen Energiebinnenmarkts bei weitem noch nicht so, wie wir es eigentlich tun müssten. Wir verzichten so auf die Nutzung vieler technisch naheliegender Optionen, die sich aus einer stärkeren Kooperation ergeben würden – z.B. Wasserkraftspeicherpotenziale in Skandinavien oder die Nutzung von Kapazitäten ausländischer Kraftwerks-parks. Gemeinsam können wir das Ziel der Energiewende in Europa besser und viel günstiger hinbekommen, als wenn jeder vor Ort versucht, etwas zu optimieren. Leider wird diese europäische Chance nicht ausreichend gesehen; im Gegenteil, wir bewegen uns in Richtung einer stärkeren Lokalisierung von Energiepolitik nach Bundesländern, am liebsten noch nach Kommunen. Das macht die Energiewende künstlich teuer, das muss nicht sein.

IP: Kann das der Markt alleine regeln oder sollte man unterstützend eingreifen?

Kerber: Man muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Marktmechanismen überhaupt greifen können. Denn auch Fördersysteme wie Subventionen sind vor allem national ausgelegt, genauso wie auch die Diskussion über Kapazitätsmechanismen, obwohl die Kapazität, wenn sie einmal da ist, Versorgungssicherheit nicht nur für den nationalen Raum bietet, weil der Strom einfach dahin fließt, wo er gebraucht wird, und nicht an Grenzen halt macht. Subventionen haben hier sowieso nicht die gewünschte Wirkung. Ein Beispiel: Ein substanzieller, zunehmender Anteil des in Deutschland erneuerbar erzeugten Stroms wird gar nicht hier verbraucht, sondern vom Ausland angekauft und reduziert dann dort die CO2-Emissionen im Kraftwerkspark; d.h. unsere Subventionen unterstützen somit die CO2-Einsparungen in anderen Ländern.

IP: Was sind die wichtigsten Eckpunkte für die nächsten zehn Jahre und auch langfristig bis 2030?

Kerber: Wir sehen große Investitionen vor uns, die diese Energiewende notwendig macht. Das ist positiv für diejenigen, die hierbei Geschäfte machen, und negativ für diejenigen, die es finanzieren müssen. Wir sehen es als Chance, dass wir hier in Deutschland Erfahrungen mit einem komplexen, neuen, dezentraleren Energiesystem sammeln können. Die Risiken, gerade kurz- und mittelfristig, bestehen auf der Kostenseite. Und wie lautet unsere Schlussfolgerung? Wir brauchen mehr Europa und nicht weniger!

IP: Erzählen Sie das mal den Briten.

Kerber: Aus dem gemeinsamen Markt wollen sie ja nicht raus. Die Briten verfolgen gerade ihre „Go for Gas“-Strategie und wollen bestimmt auch nach Deutschland exportieren. Es ist sehr wichtig, dass wir in Europa auf Kompatibilität achten. Wir dürfen den Fehler des EEG nicht wiederholen, denn das würde zu 27 Kapazitätsmechanismen, 27 Speicherumlagen usw. führen. Wir müssen kompatibel sein, zumindest mit den Ländern, mit denen wir auch heute schon energiewirtschaftlich sehr eng zusammenarbeiten. Abstimmung ist eine ganz wesentliche Herausforderung. Wir sollten die Energiewende so durchplanen, dass wir die verschiedenen Auswirkungen vorher bedenken und so planen, wie wir es beim Netzentwicklungsplan für die Infrastruktur im Strombereich getan haben. Besser und vorausschauender, damit am Ende alles zusammenpasst und auch bezahlbar bleibt: der Ausbau der Erneuerbaren, der fossilen Brennstoffe, der Speicherkapazitäten, des flexiblen Managements der Nachfrage.

IP: Wie soll das „mehr Europa“ denn praktisch organisiert werden?

Kerber: Es wäre sicherlich wünschenswert, gleich gesamteuropäisch voranzugehen, aber wir sind auch realistisch genug, um zu erkennen, dass wir wohl Zwischenschritte brauchen. Und diese Zwischenschritte könnten darin bestehen, dass bestimmte Regionen, die schon heute energiewirtschaftlich eng miteinander verbunden sind – wie die „Central Western European-Region, zu der Deutschland, Frankreich, die Benelux-Länder gehören und auch Österreich – zunächst einmal vorangehen. Und die anderen kommen dann in einem nächsten Schritt. Ich will es nicht Energie der zwei Geschwindigkeiten nennen, das ist etwas negativ konnotiert, aber mit diesem Zwischenschritt eines regionalen Teilmarkts voranzugehen, ist meiner Ansicht nach der erfolgversprechendste Weg.

IP: Wo liegt Deutschlands Stärke?

Kerber: Die wirtschaftliche Stärke Deutschlands liegt mehr denn je in der Industrie. Ein Großteil des Wachstums der vergangenen drei Jahre war industriegetrieben, und unsere Stärke liegt in den geschlossenen Wertschöpfungsketten. So ist es für die Autoindustrie von großem Vorteil, wenn der Stahlmacher in direkter Nähe ist und weiß, welche Spezialstähle gebraucht werden, und aus dem Miteinander kann man auch gemeinsam neue Dinge entwickeln. Gleiches gilt für energieintensive Innovationsprodukte wie zum Beispiel den Dreamliner von Boing: Dieser ist größtenteils mit dem neuen Werkstoff Karbon gebaut worden. Wenn wir diese neuen Werkstoffe nicht beherrschen, verlieren wir den Anschluss, dann können wir irgendwann auch z.B. kein Karbonauto bauen. Es macht viel Sinn, wenn man die geschlossene Wertstoffkette von der Grundstoffindustrie bis zum Endprodukt im Land hält. Wenn das einmal anfängt zu bröckeln, dann bröckeln auch die nächsten Glieder relativ schnell.

IP: Und sehen Sie die Gefahr, dass diese Wertschöpfungsketten schnell bröckeln, wenn die Energiepreise zu hoch sind?

Kerber: Die Energiekosten werden als Standortfaktor immer wichtiger. Es gibt Länder mit billigen Energieträgern, z.B. in der Golf-Region, die mit ihren Exporten jahrelang ihre Bevölkerung finanziert haben. Mittlerweile verstärkt sich aber die Tendenz, dass man versucht, die Produktion dort anzusiedeln, wo Energie als Produktionsfaktor zur Verfügung steht. So haben die Golf-Staaten ein großes staatliches Programm für die Chemieindustrie aufgelegt: Sie wollen gezielt Know-how ins Land holen – Know-how und Innovation sind das A und O für die Industrie – und damit können sie dann an der Wettbewerbsschraube drehen.

IP: „Diversification“ ist das Schlagwort, vor allem, wenn sich das Öl dem Ende zuneigt …

Kerber: Die Endlichkeit von Ressourcenvorkommen betrifft nicht nur die Golf-Staaten, auch Russland und Länder in Afrika und Südamerika. Und dann spielen technische Neuerungen eine entscheidende Rolle, auch im Hinblick auf die Förderung von Schiefergas. Bislang war das für China noch sehr schwierig, denn diese Fördertechnologie benötigt heute noch riesige Wassermengen. Aber wenn die technologische Entwicklung eines Tages den Wasserbedarf bei der Schiefergas-Förderung reduziert, wird es weniger schwierig für China.

IP: Die spannende Frage ist doch, wo und wann finden solche Entwicklungen statt?

Kerber: Das ist ein wichtiges Thema, auch für uns. Wir bekommen von der Gasindustrie immer wieder gesagt, dass die Fracking-Technologie über viele Jahrzehnte maßgeblich in Deutschland mitentwickelt worden ist. Und wir wollen ja, dass Deutschland auch weiterhin Technologien exportiert. Selbst wenn wir in Deutschland kein Schiefergas fördern, können wir trotzdem die entsprechende Technologie exportieren.

Die Fragen stellten Uta Kuhlmann-Awad und Sylke Tempel.

Dr. Markus Kerber ist seit Juli 2011 Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI). Zuvor leitete er die Abteilung für finanzpolitische und volkswirtschaftliche Grundsatzfragen im Bundesministerium der Finanzen. 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/ April 2013, S. 30-35

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