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29. Apr. 2024

Wiederaufbau Ost

Mitten im Krieg ­müssen die Weichen für die Zukunft der Ukraine gestellt werden. Welche Hebel für einen raschen wie nachhaltigen wirtschaftlichen Aufholprozess gibt es?

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Bild:  Ein durch Beschuss russischer Raketen und Drohnen zerstörtes Gebäude in der Ukraine.
Die Wunden des Krieges: Noch geht der Beschuss durch russische Raketen und Drohnen unvermindert weiter, doch schon heute muss die Ukraine versuchen, Wohn- und Infrastruktur zu erhalten oder neu aufzubauen.
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Rückkehr nach Europa“ hieß nach dem Ende des Kalten Krieges das Label, unter dem die Staaten Ost- und Mitteleuropas ihre historische Chance nutzten, die Ost-West-Teilung zu überwinden. Und doch blieb Europa ein Kontinent geteilter Sicherheit. 

Mit dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine begann am 24. Februar 2022 in Europa eine ganz andere Zeitenwende – dder Kampf eines Landes um seine Existenz. Der Wunsch, die unsichere Nachbarschaft zu Russland durch Mitgliedschaft in der europäischen Familie abzufedern, wurde dringlicher. Heute steht die EU vor einer fundamentalen realpolitischen Wende, die strategischen Gestaltungswillen für eine neue Sicherheitsarchitektur erfordert. 


Grüner Wiederaufbau

Aus dem Ziel einer EU-Mitgliedschaft ergibt sich für die Ukraine der Rahmen für den notwendigen Wandel des Landes. Einen Antrag auf Aufnahme in die EU hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj schon am vierten Tag der russischen Großinvasion gestellt. Früh bekannte man sich zum Prinzip des „Build back better and greener“, zunächst im Nationalen Wiederaufbauplan auf der ersten Ukraine Recovery Conference in Lugano im Juli 2022. Dieser Konferenz sollten weitere folgen – die nächste ist für den 11. Juni in Berlin geplant. Ziel ist es dabei nicht, den Vorkriegszustand wiederherzustellen, sondern idealerweise moderne Standards zu setzen, sofern es der Faktor Zeit nicht notwendig macht, den Wiederaufbau im Rahmen der Nothilfe zu beschleunigen. 

Während der Beschuss durch russische Raketen und Drohnen im gesamten Land unverändert weitergeht, muss die Ukraine versuchen, Wohnhäuser und Infrastruktur zu erhalten oder neu aufzubauen. Auf ein Ende der Kampfhandlungen und noch festzulegende Sicherheitsgarantien kann die Regierung nicht warten; das gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Überleben des Landes steht auf dem Spiel. 

Was die ökonomischen Kopenhagener Kriterien angeht, so hält die Ukraine dem Vergleich mit anderen mittel-, ost- und südosteuropäischen Beitritts- und Kandidatenländern durchaus stand. Angesichts massiver Zerstörungen und Millionen Geflüchteter hat das Land zudem Resilienz, Stabilität und Problemlösungsfähigkeiten in einem bemerkenswerten Maß demons­triert. Allein die durch den Krieg verursachten enormen Kosten machen die Ukraine zum Sonderfall. Dass sie diese Kosten ohne internationale Hilfen und private Investoren nicht wird stemmen können, versteht sich von selbst. Dabei sollten die Verbündeten sich allerdings nicht auf Nothilfe beschränken, sondern ihre Beiträge strategisch begreifen, damit gelingt, was die Menschen in der Ukraine auch zu Beginn des dritten Kriegsjahres mehrheitlich als Wunsch formulieren: den Kampf des Landes für Demokratie zu unterstützen und eine wirtschaftliche Aufholjagd zu ermöglichen. 

Wenn es gut läuft, sollte  die Ukraine im Laufe 
des kommenden Jahrzehnts beitrittsfähig werden

Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Rückkehr der Millionen von Geflüchteten. Zusammen mit Wiederaufbau und EU-Beitritt bildet sie eine Dreifachaufgabe, die nur zu bewältigen ist, wenn die Ukraine neben Sicherheitsgarantien über echte gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Perspektiven verfügt. Im Rahmen des Erwartungsmanagements kommt der Kommunikation eine elementare Rolle zu: In der EU müssen wir darüber sprechen, wie wichtig die Erweiterung geostrategisch ist, in der Ukraine darüber, dass sich der für die Mitgliedschaft notwendige Wandel nicht in zwei bis sechs Jahren schaffen lässt, sondern, wenn es gut läuft, im kommenden Jahrzehnt.

Auf Synergien setzen auch die EU-­Initiativen für einen demokratischen Wiederaufbau, die in die „Ukraine Facility“ münden, das im Januar 2024 verabschiedete Finanzpaket für die restlichen vier Jahre des aktuellen EU-Finanzrahmens. Die dort vorgesehenen 50 Milliarden Euro sollen die Bemühungen um Wiederaufbau und Modernisierung mit dem EU-Beitrittsprozess verzahnen. 

Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal betont, man plane den „Aufbau einer völlig neuen Wirtschaft“. Erfolge in Schlüsselsektoren wie Informationstechnologie und Landwirtschaft zeigen, dass die Potenziale vorhanden sind. Gleichwohl tut sich die Ukraine auch unabhängig vom Krieg schwer, Kapital aus dem Ausland zu mobilisieren. Hinzu kommen notwendige Anpassungen an sich wandelnde Standards in Bezug auf Energie und Klimaschutz: Im Unterschied zu früheren EU-Kandidaten muss sich die Ukraine in eine Union integrieren, die sich ihrerseits neu aufstellt. 

Nur wenn Strukturreformen hin zu guter Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit gelingen, ohne dass mächtige Interessengruppen aus Justiz und Strafverfolgungs- oder Zoll- und Steuerbehörden Ausnahmen aushandeln, werden neue Investoren in ausreichendem Maße die Chancen im Markt des zweitgrößten europäischen Landes wahrnehmen.


Erfolgsmodell lokale Selbstverwaltung

Betrachten wir die Erfahrungen früherer EU-Kandidatenländer, dann stellen wir fest, dass zuverlässig funktionierende lokale und regionale Strukturen oft eine wesentliche Rolle für erfolgreiche Aufholprozesse gespielt haben. Starke lokale Selbstverwaltungen sind in der Regel ausgesprochen belastbar und ein verlässliches Fundament für politischen Pluralismus und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung. Gehen EU-Gelder dagegen nur in die Hauptstadt des Landes und sind lokale Akteure von deren Zuteilungen abhängig, drohen Eigeninitiative und unabhängiges Engagement auf der Strecke zu bleiben.

Die öffentliche Verwaltungs- und Dezentralisierungsreform, die mit der „Revolution der Würde“ 2014 eingeleitet wurde, war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Damals wurde das sowjetische System der allmächtigen Zentralgewalt mit reinen Exekutivstrukturen auf der regionalen (Oblast), Kreis- (Rayon) und kommunalen Ebene durch eines ersetzt, in dem Gemeinden als halbautonome Entscheidungszentren mit erweiterten ­Zuständigkeiten und Befugnissen fungieren, etwa für Bildung und Gesundheit. 

Die lokale Selbstverwaltung hat sich als wirk­sames 
Instrument gegen Machtmissbrauch erwiesen 

Neu ist städtische Selbstverwaltung in der Ukraine nicht; bis ins östliche Gebiet um Charkiw galt einst Magdeburger Stadtrecht. 500 Jahre später stärken effizienteres Management und Transparenz das Vertrauen in gemeinschaftliche Prozesse und Konfliktlösungen vor Ort. Digitalisierung und Onlinedienste verbessern Chancengleichheit, ordnen den Zugang zu lokalen Ressourcen neu. 

Die lokale Selbstverwaltung hat sich als effektives Instrument gegen den Machtmissbrauch Einzelner erwiesen, die als russische Kollaborateure und Vertreter größerer Einheiten Schaden hätten anrichten können. Das von Wladimir Putin geforderte Föderalisierungsmodell lehnte die Ukraine in kluger Einschätzung russischer Herrschaftsmuster stets ab.


Wichtige Errungenschaft

Die Reform gelang, weil die Neuorganisa­tion mit einer finanziellen Dezentralisierung einherging – eigene Steuereinnahmen und ein fester Prozentsatz nationaler Steuern fließen seither in die Gemeindehaushalte. Auch die öffentlichen Dienstleistungen wurden neu organisiert. Westliche Partner der Ukraine, ihrerseits dem Subsidiaritätsprinzip verpflichtet, fördern die Reform bis heute mit millionenschweren Projekten. 

Gerade in Kriegszeiten ist die ukrainische Mehrebenenverwaltung eine wichtige Errungenschaft, weil sie ein Gegengewicht zu einer neuen Machtvertikale bilden kann. Angesichts eines schwachen nationalen Parlaments und einer starken Präsidialverwaltung gewinnt das noch an Bedeutung. Lokale Selbstverwaltung fördert zudem langfristig die Parteienbildung von unten nach oben. 

Zu einem vollständigen Elitenaustausch haben die Lokalwahlen von 2020 zwar nicht geführt. Aber Politiker, die sich in ihren Gemeinden engagiert für Bürger­interessen einsetzen, haben heute bessere Chancen, sich weiter zu profilieren. Interkommunale und internationale Netzwerke bieten Entwicklungsmöglichkeiten. Vielerorts ist ein gesunder Wettbewerb unter Gemeinden um Einwohner, Investoren und Steuereinnahmen an die Stelle alter Hierarchien und Monopole getreten. Die soziale Rechenschaftspflicht funktioniert in bürgernahen Einheiten besser, das wirkt sich günstig auf Korruptionsprävention und -bekämpfung aus.

Die Vorteile partizipativer lokaler Regierungsführung sollten im Rahmen des Neuaufbaus genutzt werden. So können auch die Prinzipien der Dezentralisierung erhalten werden, die sich derzeit aufgrund des Kriegsrechts nicht in der Verfassung verankern lassen. Der Prozess ist zudem noch nicht abgeschlossen, und solange die Befugnisse der bislang noch nicht reformierten Kreis- und Regionalverwaltungen gegenüber den Kommunen und Militärverwaltungen unklar bleiben, erschwert das die Auseinandersetzungen über die Federführung im Aufbau oder den Zugriff auf Steuereinnahmen.

Für die allermeisten Ukrainerinnen und Ukrainer ist die Vorstellung, Teil der Europäischen Union zu werden, das Licht am Ende eines langen Tunnels. Umso schwerer wiegt die Trauer darüber, dass sie das nicht mit allen ihnen Nahestehenden teilen können, weil so viele den Kampf um Menschenwürde, Freiheit und Demokratie mit dem Leben bezahlt haben. 

Die EU hat früh erkannt, dass die Unterstützung der Ukraine langfristig gesichert sein muss, aber erst spät das entsprechende Finanzpaket im aktuellen Haushalt verankern können. Die geplanten Mittel können zudem nur der Anfang dessen sein, was mit dem nächsten EU-Haushalt aufgewendet werden muss. 

Die Antwort der EU auf den Krieg in Europas Osten wird über Sicherheit und Frieden, Gedeihen und Fortschritt in ganz Europa entscheiden – und über die eigene Rolle in der Welt. In Abwandlung eines Gedankens des Publizisten Peter Schneider zur Wiedervereinigung Deutschlands ließe sich sagen, dass es nur wenige Politiker gibt, die allen Europäerinnen und Europäern den folgenden einfachen Satz zumuten: Die Erweiterung der EU wird ­unendlich viel kosten, und sie ist wert, was sie kostet.        

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, Mai/Juni 2024, S. 60-63

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Themen und Regionen

Miriam Kosmehl ist Senior Expert Osteuropa und Europäische Nachbarschaft bei der 
Bertelsmann Stiftung.