Wider den Euroskeptizismus
Warum Europa seine Erfolge besser verkaufen muss
Nehmen wir einmal an, ein Historiker macht sich in, sagen wir: 100 Jahren daran, die Geschichte der Europäischen Union zu erforschen. Nehmen wir weiter an, er beschäftigt sich dabei mit einem zentralen Thema wie der europäischen Verfassung. Wird es ihm nicht schwer fallen, die Gründe unserer Meinungsverschiedenheiten über den Verfassungsvertrag zu begreifen? Ich fürchte, diese unterschiedlichen, zum Teil unverständlichen Ansichten werden ihm als Beispiel einer völligen Blindheit einzelner Länder für ihre eigentlichen nationalen Interessen dienen.
Die Europäische Union ist – nur ein komplett unsensibler Mensch wird das ignorieren – ein außergewöhnliches Projekt des Friedens, der Stabilität und der Hoffnung. Doch während sich Länder wie Italien und Deutschland mit ihrer ganzen Kraft dafür einsetzen, dieses Projekt voranzutreiben, betrachten andere die Europäische Union als schnöden Staatenbund. Obgleich mittlerweile deutlich ist, dass die einzelnen Länder im Alleingang nicht effizient handeln können, findet man wieder Geschmack an der Renationalisierung von Politikbereichen und an nationaler Interessenpolitik. Vergessen wird, dass es illusorisch ist, ohne starke Institutionen gemeinsame politische Maßnahmen umsetzen zu wollen. Diese setzen jedoch ein Gemeinsamkeitsgefühl und gegenseitiges Vertrauen voraus. Zwar müssen wir auf nationalen Patriotismus deshalb nicht verzichten – es ist aber notwendig, diesen im Bewusstsein einer gemeinsamen europäischen Identität zu pflegen. Eine Idee, die große Denker wie Benedetto Croce und Romano Guardini schon vor vielen Jahrzehnten unterstützt haben – Croce sogar schon vor dem Zweiten Weltkrieg.
Die Europa-Debatte der vergangenen Monate hat zwei interessante Aspekte zu Tage gefördert. Der eine, negative, betrifft die Existenz zweier gegensätzlicher Visionen der Europäischen Union: politische Union versus Freihandelszone. Der andere, positive, besteht in der Erkenntnis, dass niemand auf Europa verzichten kann – nicht einmal die Länder, welche die föderalen Elemente des Vertrags am heftigsten ablehnen. Europa hat längst einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt. Der Euroskeptizismus ist sozusagen Opfer eines Eigentors geworden. Denn durch das Zweifeln an der Notwendigkeit der Europäischen Union hat er ein falsches Problem zu einem historisch falschen Zeitpunkt aufgeworfen. Er hat das Aufflackern nationaler Versuchungen gerade dann geschürt, als die Notwendigkeit von Einheit und Konsens für alle am sichtbarsten war. Mit all seinen kritischen Einwänden hat er paradoxerweise gezeigt, dass Europa nicht mehr umkehren kann. Auch wenn Beethovens Hymne aus dem Verfassungsvertrag gestrichen wird, bleibt sie in ihrer Schönheit doch ein aktuelles Symbol Europas.
Zugegeben, wir haben einen Fehler begangen, als wir in einem Moment, der nach Einheit, Klarheit und Entschlossenheit verlangte, den Zerstörern des europäischen Aufbauwerks zu viel Raum ließen. Wir hätten die großen Errungenschaften der Europäischen Union nicht als selbstverständlich betrachten dürfen, als hätten ein Raum ohne Grenzen oder eine einheitliche Währung schon von jeher existiert. Wir hätten auch die Erleichterung darüber, dass wir keine Angst mehr vor unseren Nachbarn zu haben brauchen, stärker zum Ausdruck bringen müssen. Wir hätten uns den Einwänden der Kritiker mutiger entgegenstellen können, als sie etwa die Fehler der EU-Kommission anprangerten – im Wesentlichen Fehler der Überregulierung, die wie Todsünden behandelt wurden und nicht als die verzeihlichen Verfehlungen, die sie in Wirklichkeit waren. Diese Entwicklungen haben zusammen mit der Spaltung Europas in der Irak-Frage im Jahr 2003 die Aufmerksamkeit großer Teile der öffentlichen Meinung von den enormen Vorteilen abgelenkt, welche die Europäische Union ganz Europa gebracht hat. Sie haben Unsicherheiten hervorgerufen, die längst hinter uns hätten liegen sollen. Sie haben ohne jeden Grund Politikbereiche und Projekte gebremst und zu einer Desorientierung der Bürger geführt.
Aus den negativen Erfahrungen der vergangenen Jahre lässt sich einiges lernen. Zunächst einmal ist es nötig, dass die öffentliche Meinung sich Gehör verschafft. Das Engagement der Länder, die sich für das Vorankommen des europäischen Projekts einsetzen, muss unterstützt werden, damit es partikularistische Denkweisen und politische Launen überwinden kann, die Europa seit Nizza so viel Schaden zugefügt haben. Um das Vertrauen in das europäische Projekt zurückzugewinnen, gibt es ein wichtiges Hilfsmittel, nämlich die Mobilisierung der Zivilgesellschaft über Universitäten, kulturelle Einrichtungen, Medien und Schulen. Das heißt, die Überzeugung zu verbreiten, dass ein starkes Europa auch die wirtschaftlichen Interessen der europäischen Bürger schützt, wenn sie in Gefahr sind, Opfer der aggressiven Politik außereuropäischer Länder zu werden. Es geht darum, Ressourcen in nützliche, für alle greifbare Projekte zu stecken, beharrlich zu fordern, dass Europa sich mit den notwendigen Instrumenten ausstattet, um seinem Handeln in der Welt Ansehen und Achtung zu verschaffen. Es gilt zu begreifen, dass die Verteidigung des Friedens oder des Umweltschutzes nicht auf 27 Staaten verteilt werden kann und dass die Zukunft aller Europäer mit dem Erfolg der Europäischen Union verknüpft ist. Wohin sonst könnten wir unsere Blicke wenden, um unser Modell und unsere Lebensweise zu verteidigen, die in der Welt ihresgleichen suchen?
Haben wir uns je gefragt, warum Berlin bei den jungen Leuten so beliebt ist? Aus dem einfachen Grunde, weil die Hauptstadt Deutschlands frei, tolerant und offen ist, weil sie weder von Geldgier zermürbt noch der arroganten Zurschaustellung von Luxus unterworfen ist, weil hier die Freude an Kultur spontan, echt und für alle erschwinglich ist; weil Berlin schon längst eine wirklich europäische Stadt ist. Ohne Kultur wird Europa ein Eroberungsgebiet für die vielen falschen Propheten werden, die den Gesellschaften Lebensmodelle aufdrängen, die nichts gemein haben mit dem Eckpfeiler der europäischen Kultur, wie ihn der Humanismus und die italienische Renaissance zum Ausdruck gebracht haben: dem Recht des Menschen im Gegensatz zum Recht über den Menschen.
ANTONIO PURI PURINI, geb. 1942, ist italienischer Botschafter in Berlin.
Internationale Politik 7/8, Juli/August 2007, S. 155 - 157.